3. August 2010

Muß man sagen, daß man schweigt? Rechte des Festgenommenen gegenüber der Polizei. Miranda in den USA, neuester Stand

Kennen Sie Miranda? Möglicherweise nicht. Aber sehr wahrscheinlich kennen Sie aus dem einen oder anderen US-Krimi die Situation, daß jemand festgenommen wird und ein Polizist ihm mitteilt: "Alles, was Sie ab jetzt sagen, kann gegen Sie verwendet werden".

Das ist nicht exakt Miranda, aber doch so etwas wie eine Kurzfassung davon. Denn in der Tat geht es bei Miranda um die Rechte eines Festgenommenen.

Miranda, das geht zurück auf Ernesto Arturo Miranda, der im Jahr 1963 in Arizona wegen Kidnapping, Vergewaltigung und schweren Raubs verurteilt worden war und der seinen Fall bis vor das Oberste Gericht brachte, weil er nach der Festnahme nicht ausreichend über seine Rechte belehrt worden sei.

In der Entscheidung dieses Falls Miranda vs. Arizona im Jahr 1966 gab das Oberste Gericht Miranda Recht und legte genau fest, wie nach einer Festnahme zu verfahren ist. Das erforderliche Verhalten der Polizei wird als Miranda Warning bezeichnet. Es besteht in der Regel darin, daß dem Festgenommenen der folgende Text vorgelesen wird:
You have the right to remain silent. Anything you say can and will be used against you in a court of law. You have the right to speak to an attorney. If you cannot afford an attorney, one will be appointed to you. Do you understand these rights as they have been read to you?

Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird in einem Gerichtsverfahren gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, einen Anwalt zu sprechen. Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird einer für Sie bestellt. Haben Sie diese Rechte verstanden, so wie Sie Ihnen gegenüber verlesen wurden?
Diesen Wortlaut habe ich einen Artikel im gestrigen Christian Science Monitor entnommen, der sich mit der jüngsten Rechtsprechung zu Miranda befaßt.

Denn das Oberste Gericht hatte in den letzten Jahren mehrfach über Miranda-Fälle zu entscheiden. Kritiker der konservativen Mehrheit dieses Gerichts fürchten, daß diese Entscheidungen eine allmähliche Aufweichung der Miranda-Rechte bedeuten könnten. Jeffrey L. Fisher, Funktionär einer Organisation von Anwälten:
It's death by a thousand cuts. For the past 20-25 years, as the court has turned more conservative on law and order issues, it has been whittling away at Miranda and doing everything it can to ease the admissibility of confessions that police wriggle out of suspects.

Es ist ein Tod durch tausend kleine Schnitte. In den vergangenen 20 bis 25 Jahren, in denen das Gericht in Sachen Law and Order immer konservativer geworden ist, hat es an Miranda herumgeschnibbelt und alles in seiner Macht Stehende getan, um die Anerkennung von Geständnissen zu erleichertern, die Polizisten aus Verdächtigen herausquetschen.
Was das Oberste Gericht in den drei Verfahren der vergangenen Sitzungsperiode entschieden hat, scheint dieses harsche Urteil allerdings kaum zu rechtfertigen.



In der ersten Entscheidung wurde der folgende, in Florida verwendete Wortlaut jener Passage des Miranda Warning für zulässig erklärt, in der es um anwaltlichen Beistand geht:
You have the right to talk to a lawyer before answering any of our questions. If you cannot afford to hire a lawyer, one will be appointed for you without cost and before any questioning. You have the right to use any of these rights at any time you want during this interview.

Sie haben das Recht, mit einem Anwalt zu sprechen, bevor Sie irgendeine unserer Fragen beantworten. Wenn Sie es sich nicht leisten können, sich einen Anwalt zu nehmen, wird Ihnen vor einem Verhör einer kostenlos zugewiesen. Sie haben das Recht, von jedem dieser Rechte zu jedem von Ihnen gewünschten Zeitpunkt während des Verhörs Gebrauch zu machen.
Klingt eigentlich - wenn auch sprachlich holprig - durchaus rechtsstaatlich, nicht wahr? Aber die Kläger hatten beanstandet, daß der ausdrückliche Hinweis auf das Recht des Festgenommenen fehlte, den Anwalt während des Verhörs zugegen zu haben. Das Oberste Gericht befand, daß dies in dem Wortlaut sehr wohl impliziert sei.

In der zweiten Entscheidung ging es überhaupt nicht um die Rechte nach einer Festnahme, sondern um die Rechte nach einer Entlassung aus der Haft. Ist auch dann Miranda noch wirksam? Ja, sagte das Oberste Gericht, aber nur vierzehn Tage lang.

Diese Zeit reiche für den Entlassenen aus, sich wieder an die Freiheit zu gewöhnen und "to shake off any residual coercive effects of his prior custody", "alle verbliebenen Zwangswirkungen seiner vorausgehenden Haft abzuschütteln"; so daß er dann verhört werden könne, ohne daß erneut das Miranda Warning verlesen werden müsse. Das ihm, wohlgemerkt, vorgelesen worden war, als man ihn festgenommen hatte.

Und der dritte Fall? Er hat etwas Kurioses, fast schon Dadaistisches an sich. Wenn der Festgenommene das Recht zu schweigen hat, kann man dann von ihm verlangen, daß er spricht, um zu sagen, daß er von just diesem Recht auf Schweigen Gebrauch machen will? Oder darf er auch über sein Recht zu schweigen schweigen?

Mit der knappen Mehrheit von 5:4 Stimmen entschied das Gericht, daß es rechtens ist, wenn der Festgenommene mitteilen muß, daß er zu schweigen gedenkt; und daß die Polizei nur dann das Verhör beenden muß, wenn der Festgenommene sich derart erklärt hat.

Logisch, sollte man eigentlich meinen, nicht wahr? Aber die Richterin Sonia Sotomayor, die der überstimmten Minderheit angehörte, sah damit das Miranda Warning "auf den Kopf gestellt":
Criminal suspects must now unambiguously invoke their right to remain silent — which counter intuitively requires them to speak.

Einer Tat Verdächtige müssen jetzt eindeutig ihr Recht einfordern, stumm zu bleiben - was sie gegenintuitiv zum Sprechen zwingt.
Mir scheint, daß die Richterin Sotomayor da die logischen Ebenen ein wenig durcheinanderbringt. Denn das Recht zu schweigen bezieht sich doch darauf, sich nicht zu den Tatvorwürfen äußern zu müssen.

Ein Recht auf völlige Stummheit ist damit schwerlich impliziert. Und gewiß ist es nicht gegenintuitiv, wenn der Festgenommene, der sich zum "Schweigen" entschlossen hat, dennoch beispielsweise einen Gruß erwidert, sich Essen bestellt - oder eben kundtut, daß er sich zum Tatvorwurf nicht äußern will.



Sotomayor? Sotomayor? Ja, genau. Sie erinnern sich: Das ist jene Richterin mit der etwas seltsamen Auffassung von richterlicher Objektivität, die Präsident Obama im vergangenen Jahr nominiert hatte und die dann gemäß seinem Vorschlag auch ernannt wurde. Siehe "Eine Latina-Frau urteilt häufiger richtig als ein weißer Mann"; ZR vom 28. 5. 2009, sowie "Gegen Justiz als Empathie. Für eine blinde Gerechtigkeit"; ZR vom 1. 6. 2009.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Der gegenwärtige Supreme Court der USA. Foto als Werk der US-Regierung in der Public Domain. Obere Reihe: Samuel A. Alito, Ruth Bader Ginsburg, Stephen G. Breyer und Sonia Sotomayor. Untere Reihe: Anthony M. Kennedy, John Paul Stevens, John G. Roberts, Antonin G. Scalia und Clarence Thomas. Mit Dank an The Slatest.