16. August 2010

"Fast ein wenig wie mittelalterliche Herrschertreffen". Über ein Ritual an deutschen Universitäten

Axel Michaels hat an der Universität Heidelberg eine Professur für klassische Indologie. Er ist Spezialist für die Erforschung von Ritualen; beispielsweise der Feste und Riten am Pasupatinatha-Tempel von Deopatan.

Aber warum immer in die Ferne schweifen? Professor Michaels hatte eine nette Idee, die zu einem Artikel in der letzten Wochenendausgabe der FAZ geführt hat: Wer Rituale erforscht, der sollte eigentlich auch zu den Ritualen von Wissenschaftlern etwas zu sagen haben, die - beispielsweise - Rituale erforschen. Oder auch anderes.

"Rituale der Forschungsevaluation - Die große Begehung der Mittelbaustelle" heißt der Artikel und befaßt sich mit einem Ritual, das die meisten Wissenschaftler aus ihrer Erfahrung kennen, von dem zu erfahren aber auch für Nichtwissenschaftler ganz amüsant sein könnte: Der Begehung eines Sonderforschungsbereichs der DFG durch eine Kommission auswärtiger Experten.

Ich empfehle Ihnen den Artikel von Professor Michaels, will aber für den Fall, daß er Ihnen zu lang ist - Wissenschaftler neigen zur Ausführlichkeit -, das Wichtigste in ein paar Sätzen zusammenfassen; auch als Grundlage für meinen Kommentar zu Michaels' Kommentar.



Ein großer Teil der universitären Forschung wird in Deutschland aus sogenannten Drittmitteln bezahlt; dabei ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) mit einem Etat von weit über einer Milliarde Euro im Jahr der mit Abstand größte Geldgeber.

Was will sie als Gegenleistung für ihr gutes Geld (überwiegend Bundesmittel) haben, die DFG? Gute Forschung natürlich. Und wie ermittelt man, ob Forschung gut ist?

Publikationen in angesehenen, heutzutage ganz überwiegend englischsprachigen Fachzeitschriften sind das wichtigste Kriterium. Aber die DFG möchte sich doch gern auch ein persönliches Bild machen, sozusagen. Dazu dienen Begehungen.

Man kann zwar auch als Einzelwissenschaftler seine Forschung von der DFG finanziert bekommen, aber eine zentrale Rolle spielen Einrichtungen, die der Bündelung der Forschung zwecks Synergie-Effekten dienen.

Zu ihnen gehören die Sonderforschungsbereiche (SFB), in denen sich Forscher derselben Universität, aber oft aus verschiedenen Fakultäten oder Abteilungen, zusammenschließen. Gruppiert um ein Thema herum, das die einzelnen Forscher aus ihren verschiedenen Perspektiven angehen können. An der Universität Heidelberg gibt es beispielsweise den SFB 619 "Ritualdynamik", dessen Sprecher Axel Michaels ist.

Solche SFB also sind das Objekt von Begehungen zwecks ihrer Evaluation. Das ist für die Beteiligten sehr wichtig, denn es geht meist um weitere Finanzierung; und davon hängen die Stellen von Mitarbeitern und Doktoranden ab.

Was Michaels nun zeigt, das ist die verblüffende Übereinstimmung solcher Begehungen durch eine Kommission von Gutachtern mit den Ritualen, wie sie die Ritualforschung untersucht. Der Ablauf ist bis ins Detail geregelt:
Der vielleicht umstrittenste Modus ist die Überhöhung oder Heiligung der Ritualhandlungen (...) Auch für eine Begehung trifft das Kriterium der Überhöhung zu – und zwar in einem entscheidenden Maße, denn es macht die Evaluation überhaupt erst zu einem akademischen Ritual. Eine Begehung ist ein großes, bedeutendes Ereignis, das inszeniert und zelebriert wird. Die Spitzen der Institution kommen zusammen und präsentieren sich im besten Licht.
Und es ist genau festgelegt, wann welche rituelle Handlung erfolgen muß:
So beginnt die eine Begehung eines Sonderforschungsbereichs am ersten Tag mit der Begrüßung durch den Senatsvertreter der DFG. Dann folgen ein Bericht des Sprechers, exemplarische Darstellungen von Forschungsprojekten, eine vom Senatssprecher geleitete Diskussion und ein Abschlusswort des Sprechers. Am Nachmittag schließen sich Besuche der Gutachter bei den einzelnen Teilprojekten an, am Abend zieht sich die Gutachtergruppe zu ersten Beratungen zurück. Der nächste Tag beginnt mit ...
Und so weiter und so fort. Die Gutachter fällen noch am Ort ihr Urteil und verkünden es.



Muß das so sein? Michaels hat auch keine bessere Form der Evaluation anzubieten und schlägt am Ende seines Artikels nur einen "Appell zu mehr Vertrauen" vor. Auch wenn sein Aufsatz mit viel Ironie gewürzt ist, hat man doch den Eindruck, daß er das jetzige Verfahren jedenfalls wenig schätzt.

Ich sehe das weniger kritisch. Nach meiner Erfahrung hat das Ritual, so altfränkisch und vielleicht muffig es sein mag, zwei ausgesprochen positive Effekte:

Erstens ist der Zwang, sich zu präsentieren und evaluieren zu lassen, für die Forscher oft ein Motiv, das eine oder andere zu tun, was sonst leicht der Routine zum Opfer fällt. Innerhalb des SFB führt man in Erwartung der Begehung Gespräche, klärt Prioritäten, verbessert die gemeinsame Planung. Vieles wird klarer, gewinnt eine bessere Struktur, wenn man es präsentieren muß.

Und zweitens sind die neugierigen Fragen auswärtiger Gutachter ja auch hilfreich und nicht nur eine Last. Sie zeigen Perspektiven auf, die man innerhalb der eigenen Gruppe vielleicht übersehen hatte, bringen nicht selten auch neue Ideen für den Fortgang der Forschung ins Spiel. Das hängt natürlich sehr von der Qualität dieser Gutachter ab und von der Bereitschaft, sich überhaupt der Anstrengung eines solchen zweitägigen Marathons zu unterziehen.

Denn anstrengend ist das; nicht nur für die Begutachteten, sondern auch für die Gutachter. Und besonders luxuriös leben diese Experten auch nicht während des Marathons. Die Richtlinien sehen - auch das ist ritualisiert - für sie "einen Mittagsimbiss am ersten Tag, ein Abendessen während der Klausur am ersten Tag und einen Mittagsimbiss am zweiten Tag" vor. Sowie im Hotel immerhin ein "Einzelzimmer mit Dusche/WC".



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Das Ritual Rimski von 1640. In der Public Domain.