In der New York Times handelt der im Augenblick am meisten gelesene und am häufigsten verschickte Artikel nicht von den gestrigen Vorwahlen in einer Reihe von US-Bundesstaaten, nicht vom Öl im Golf von Mexico oder von der schwächelnden amerikanischen Wirtschaft. Er handelt vom menschlichen Gehirn.
"Digital devices deprive brain of needed downtime" ist der Artikel von Matt Richtel betitelt, digitale Geräte rauben dem Gehirn die Auszeit, die es benötigt.
Der Kern der Sache ist denkbar einfach: Wir tendieren zunehmend dazu, unserem Gehirn keine Auszeit mehr zu gönnen. Was früher einmal eine solche Auszeit war, das wird immer mehr damit gefüllt, daß wir unser Gehirn mit anspruchsvollen Aufgaben beschäftigen.
Beschäftigt ist unser Gehirn natürlich immer. Es steuert die körperlichen Funktionen. Solange wir bei Bewußtsein sind, gibt es auch kontinuierlich das, was man im Englischen mentation nennt, also Erleben irgendeiner Art. Wir dösen, wir lassen unseren Gedanken ihren Lauf, wir tagträumen. Tucholskys Metapher "die Seele baumeln lassen" hat sich dafür bei uns Deutschen eingebürgert.
Aber dann arbeitet das Gehirn nicht auf Hochtouren. Es ist gewissermaßen in dem Zustand, in dem sich das Notebook befindet, auf dem ich diesen Text schreibe, wenn ich es zuklappe. Es ist im Standby-Modus; es arbeitet - mit einer anderen Metapher gesagt - auf Sparflamme.
So etwas kennt der moderne Mensch, jedenfalls derjenige in den hochtechnisierten Ländern, kaum noch. Der Aufhänger für Richtels Artikel sind Fitness-Studios, in denen sich an fast jedem Trainingsgerät ein Bildschirm befindet, oft auch noch eine Dockingstation für den iPod. Während man strampelt, guckt man fern oder sieht seine Email durch, oder man hört mindestens Musik. Das oft in schnellem Wechsel oder auch parallel.
Oder man spielt ein Computerspiel. Die Industrie, die solche Spiele anbietet, arbeitet mit dem Begriff der "Mikro-Momente". Spiele auf dem Handy oder iPod werden im Schnitt 6,3 Minuten lang gespielt; manche - wie diejenigen vom Typ Tetris - kaum mehr als zwei Minuten.
Man tut etwas, wo man früher eine Auszeit für das Gehirn nahm. Während man Schlange steht, telefoniert man. Während man auf jemanden oder auf etwas wartet, kann man spielen, mailen, im Internet unterwegs sein oder schlicht und altmodisch mit seiner Stimme telefonieren.
Ja und? Ist das nicht prima? Eine Bereicherung des Lebens? Eine ständige Herausforderung für das Gehirn, dem es doch nur gut tun kann, wenn es gefordert wird?
Im Prinzip ja. Im Prinzip ist es gut für das Gehirn, kognitiv gefordert zu werden. Denn dadurch entstehen immer neue Aktivitätsmuster, die bei Wiederholung zu neuen Verknüpfungen zwischen Neuronen führen. Das Gehirn wird in einem ganz konkreten Sinn bereichert (bei Ratten wird es sogar schwerer, man kann das wiegen). Es verfügt über immer mehr assoziative Verknüpfungen, damit über mehr computational power, mehr Rechenleistung.
Wer sein Hirn fordert, der rüstet es sozusagen ständig auf. Er baut gewissermaßen neue Speicherchips ein, taktet die CPU schneller. Nur nicht in einem Schritt, sondern allmählich.
Aber: wann bildet das Gehirn diese neuen Assoziationen? Es ist eine alte Vermutung der Hirnforschung, daß sie sich nicht während der Aktivität selbst verfestigen und damit längerfristig verfügbar werden, sondern in Ruhezeiten danach. Wird diese "Konsolidierung" verhindert, zum Beispiel durch eine Gehirnerschütterung, dann "fehlen uns" die betreffenden Erlebnisse in der Erinnerung. Auch die Funktion des Träumens wird oft in diesem Zusammenhang gesehen.
Neuere Untersuchungen, von denen Richtel zwei zitiert, untermauern diese Vermutung, so daß sie inzwischen schon als gesichert gelten kann. Wenn man Ratten nach einer neuen Erfahrung keine Auszeit erlaubt, sondern sie ständig weiter beschäftigt, dann vergessen sie diese Erfahrung eher. Menschen, die sich einen Spaziergang durch ruhige Gefilde gönnen, behalten Gelerntes besser als diejenigen, die durch eine Großstadt hetzen.
Als alltagspsychologische Erfahrung ist das seit langem bekannt. Eine tradierter Rat an Schüler lautet zum Beispiel, zum besseren Vokabellernen "das Vokabelheft unter das Kopfkissen zu legen", also abends zu lernen und dann darüber zu schlafen. Ich habe mir seit dem Abitur angewöhnt, nach einer intensiven Phase des Lernens am Tag vor einer Prüfung oder einer vergleichbaren Herausforderung die Bücher und Notizen wegzulegen und Schwimmen oder Spazieren zu gehen.
Wenn ich aus einem Artikel zitiere, dann empfehle ich oft, ihn im Original zu lesen. Hier nicht. Was Richtel Interessantes zu berichten weiß, habe ich Ihnen jetzt gesagt; noch ein wenig angereichert durch Aspekte, die nicht in seinem Artikel stehen. Statt auf den Link zur NYT zu klicken - nehmen Sie jetzt lieber ein paar Minuten Auszeit.
"Digital devices deprive brain of needed downtime" ist der Artikel von Matt Richtel betitelt, digitale Geräte rauben dem Gehirn die Auszeit, die es benötigt.
Der Kern der Sache ist denkbar einfach: Wir tendieren zunehmend dazu, unserem Gehirn keine Auszeit mehr zu gönnen. Was früher einmal eine solche Auszeit war, das wird immer mehr damit gefüllt, daß wir unser Gehirn mit anspruchsvollen Aufgaben beschäftigen.
Beschäftigt ist unser Gehirn natürlich immer. Es steuert die körperlichen Funktionen. Solange wir bei Bewußtsein sind, gibt es auch kontinuierlich das, was man im Englischen mentation nennt, also Erleben irgendeiner Art. Wir dösen, wir lassen unseren Gedanken ihren Lauf, wir tagträumen. Tucholskys Metapher "die Seele baumeln lassen" hat sich dafür bei uns Deutschen eingebürgert.
Aber dann arbeitet das Gehirn nicht auf Hochtouren. Es ist gewissermaßen in dem Zustand, in dem sich das Notebook befindet, auf dem ich diesen Text schreibe, wenn ich es zuklappe. Es ist im Standby-Modus; es arbeitet - mit einer anderen Metapher gesagt - auf Sparflamme.
So etwas kennt der moderne Mensch, jedenfalls derjenige in den hochtechnisierten Ländern, kaum noch. Der Aufhänger für Richtels Artikel sind Fitness-Studios, in denen sich an fast jedem Trainingsgerät ein Bildschirm befindet, oft auch noch eine Dockingstation für den iPod. Während man strampelt, guckt man fern oder sieht seine Email durch, oder man hört mindestens Musik. Das oft in schnellem Wechsel oder auch parallel.
Oder man spielt ein Computerspiel. Die Industrie, die solche Spiele anbietet, arbeitet mit dem Begriff der "Mikro-Momente". Spiele auf dem Handy oder iPod werden im Schnitt 6,3 Minuten lang gespielt; manche - wie diejenigen vom Typ Tetris - kaum mehr als zwei Minuten.
Man tut etwas, wo man früher eine Auszeit für das Gehirn nahm. Während man Schlange steht, telefoniert man. Während man auf jemanden oder auf etwas wartet, kann man spielen, mailen, im Internet unterwegs sein oder schlicht und altmodisch mit seiner Stimme telefonieren.
Ja und? Ist das nicht prima? Eine Bereicherung des Lebens? Eine ständige Herausforderung für das Gehirn, dem es doch nur gut tun kann, wenn es gefordert wird?
Im Prinzip ja. Im Prinzip ist es gut für das Gehirn, kognitiv gefordert zu werden. Denn dadurch entstehen immer neue Aktivitätsmuster, die bei Wiederholung zu neuen Verknüpfungen zwischen Neuronen führen. Das Gehirn wird in einem ganz konkreten Sinn bereichert (bei Ratten wird es sogar schwerer, man kann das wiegen). Es verfügt über immer mehr assoziative Verknüpfungen, damit über mehr computational power, mehr Rechenleistung.
Wer sein Hirn fordert, der rüstet es sozusagen ständig auf. Er baut gewissermaßen neue Speicherchips ein, taktet die CPU schneller. Nur nicht in einem Schritt, sondern allmählich.
Aber: wann bildet das Gehirn diese neuen Assoziationen? Es ist eine alte Vermutung der Hirnforschung, daß sie sich nicht während der Aktivität selbst verfestigen und damit längerfristig verfügbar werden, sondern in Ruhezeiten danach. Wird diese "Konsolidierung" verhindert, zum Beispiel durch eine Gehirnerschütterung, dann "fehlen uns" die betreffenden Erlebnisse in der Erinnerung. Auch die Funktion des Träumens wird oft in diesem Zusammenhang gesehen.
Neuere Untersuchungen, von denen Richtel zwei zitiert, untermauern diese Vermutung, so daß sie inzwischen schon als gesichert gelten kann. Wenn man Ratten nach einer neuen Erfahrung keine Auszeit erlaubt, sondern sie ständig weiter beschäftigt, dann vergessen sie diese Erfahrung eher. Menschen, die sich einen Spaziergang durch ruhige Gefilde gönnen, behalten Gelerntes besser als diejenigen, die durch eine Großstadt hetzen.
Als alltagspsychologische Erfahrung ist das seit langem bekannt. Eine tradierter Rat an Schüler lautet zum Beispiel, zum besseren Vokabellernen "das Vokabelheft unter das Kopfkissen zu legen", also abends zu lernen und dann darüber zu schlafen. Ich habe mir seit dem Abitur angewöhnt, nach einer intensiven Phase des Lernens am Tag vor einer Prüfung oder einer vergleichbaren Herausforderung die Bücher und Notizen wegzulegen und Schwimmen oder Spazieren zu gehen.
Wenn ich aus einem Artikel zitiere, dann empfehle ich oft, ihn im Original zu lesen. Hier nicht. Was Richtel Interessantes zu berichten weiß, habe ich Ihnen jetzt gesagt; noch ein wenig angereichert durch Aspekte, die nicht in seinem Artikel stehen. Statt auf den Link zur NYT zu klicken - nehmen Sie jetzt lieber ein paar Minuten Auszeit.
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