26. August 2010

Gedanken zu Frankreich (35): Sarkozy und Sarrazin. Umgang mit Einwanderung und nationaler Identität diesseits und jenseits des Rheins

Gut, zugegeben. Sarrazin und Sarkozy - das bietet sich zunächst einmal wegen der Alliteration an.

Gemeinsam haben die beiden neben dem Anfang ihres Namens, daß sie Nachfahren von Einwanderern sind. Die Sarrazins - der Name bedeutet "Sarazenen", also Moslems - sind als Hugenotten im 17. Jahrhundert nach Deutschland eingewandert; auch weist Thilo Sarrazin eine englische und eine italienische Großmutter auf. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy heißt eigentlich Nicolas Paul Stéphane Sárközy de Nagybócsa und ist Sohn eines Ungarn und einer jüdischen Französin griechischer Herkunft.

Die beiden sind also nicht gerade ein Urdeutscher und ein français de souche. Beide sind aber in den letzten Wochen durch das hervorgetreten, was man ihnen als Ausländerfeindlichkeit oder gar Rassismus vorzuwerfen versucht.

Hier allerdings endet die Gemeinsamkeit. Nicht nur, weil Sarkozy der Präsident Frankreichs und Sarrazin nur ein deutscher Banker ist, der ein Buch geschrieben hat. Sondern vor allem, weil die Diskussion, für die ihr Name steht, in Frankreich und in Deutschland ganz verschieden verläuft; jedenfalls bisher.



Sarkozy und Einwanderer - was fällt Ihnen dazu ein? Richtig, Sarkozy hat die Ausweisung von Gitanes angeordnet; in Frankreich nennt man sie noch so, während das deutsche Äquivalent "Zigeuner" aus unklaren Gründen tabuisiert ist. Sagen wir also Gitanes.

Die Ausweisungen sind rechtmäßig. Als Bürger der EU können sich rumänische Gitanes drei Monate in Frankreich aufhalten. Haben sie danach aber weder ein eigenes Einkommen noch einen festen Wohnsitz, dann dürfen sie ausgewiesen werden.

Sie müssen aber nicht. Also hat sich in Frankreich eine Debatte darüber entzündet, ob diese Ausweisungen nicht nur rechtens, sondern auch unter humanitären und politischen Gesichtspunkten angemessen waren und sind.

Die Franzosen sind gespalten. Laut einer heute veröffentlichten Umfrage des Instituts CSA für Le Parisien befürwortet eine relative Mehrheit von 48 Prozent die von Sarkozy angeordneten Maßnahmen. 42 Prozent sind dagegen; 10 Prozent sind unentschieden oder äußern sich nicht.

Dieses Meinungsbild dürfte repräsentativ sein für die Diskussion über Einwanderung, die in Frankreich seit Jahren läuft; die dort mit Intensität und großer Ernsthaftigkeit geführt wird.

Sie wurde zunächst geführt, als 2007 unter dem frisch gewählten Präsidenten Sarkozy ein neues Einwanderungsgesetz verabschiedet wurde; siehe Gedanken zu Frankreich (19): Eine heiße Debatte, eine kühle Strategie; ZR vom 24. 10. 2007.

Sie hält seither an, diese innerfranzösische Diskussion, und sie wurde heftiger, als vor knapp einem Jahr der Minister für nationale Identität Eric Besson die Initiative ergriff und im ganzen Land Debatten über nationale Identität organisieren ließ; siehe Gedanken zu Frankreich (32): Ein Minister für nationale Identität startet eine Debatte über nationale Identität; ZR vom 26. 10. 2009; sowie Gedanken zu Frankreich (33): Die Debatte über nationale Identität wird heftiger. Eine kleine Hommage an Jean Daniel; ZR vom 11. 12. 2009.

Ja, "nationale Identität" steht in der Amtsbezeichnung des Ministers Besson, eines langjährigen Sozialisten, der 2007 zu Nicolas Sarkozy gestoßen ist; wie auch Einwanderung, Integration und solidarische Entwicklung zu seinem Ressort gehören.

Denn aus französischer Sicht gehört das zusammen - Einwanderung und nationale Identität. Die Debatte darüber findet mit großem Engagement statt. Kürzlich hat zum Beispiel der linke Jurist Serge Portelli Nicolas Sarkozy vorgeworfen, sich auf den Spuren der Rechtsextremen zu bewegen. Zu den Rechtsextremen von Le Pen würden sich, so Portelli, die "extremen Rechten" von Sarkozy gesellen.

Aber die Debatte wird doch auf der Grundlage einer Überzeugung geführt, die - mit Ausnahme der Extremisten auf beiden Seiten - alle Franzosen eint: Daß man die Einwanderung als solche nicht ablehnt (wie das die Rechtsextremen tun); daß aber durch die Einwanderung die nationale Identität nicht in Frage gestellt werden darf (wie das die extreme Linke gern hätte).



Am besten hat es vielleicht der Nestor der französischen Publizistik, der langjährige Herausgeber des linken Nouvel Observateur Jean Daniel (er wurde am 21. Juli 90 Jahre) formuliert; er kleidet es in die Form einer Rede, von der er sich gewünscht hätte, daß Nicolas Sarkozy sie hält:
Je veux aujourd'hui m'adresser à toutes les femmes et à tous les hommes qui ont décidé de vivre ensemble sur le territoire français pour former la Nation. Nous avons bien des choses à nous dire parce que nous sommes tous, quelle que soit la date de notre arrivée en France, des enfants de la République et que nous en sommes fiers. (...)

Longtemps nous avons eu le génie de transformer les frères humains qui cherchaient refuge chez nous en enfants de la République. L'Ecole, d'abord, dont Victor Hugo pensait que chaque fois que l'on en ouvrait une c'était une prison que l'on fermait, notre chère Ecole laïque et républicaine a été une merveilleuse machine à fabriquer des Français. J'en dirai autant de l'armée, des syndicats et aussi - les Italiens et les Polonais s'en souviennent - de l'Eglise.

Heute will ich mich an alle Frauen und Männer wenden, die sich dafür entschieden haben, gemeinsam auf dem Gebiet Frankreichs zu leben, um die Nation zu bilden. Wir haben uns viel zu sagen, weil wir alle, zu welchem Zeitpunkt wir auch nach Frankreich gekommen sind, Kinder der Republik sind, und weil wir darauf stolz sind. (...)

Lange Zeit haben wir die Gabe gehabt, die Menschen, unsere Brüder, die bei uns Zuflucht suchten, in Kinder der Republik zu verwandeln. An erster Stelle die Schule, von der Victor Hugo meinte, daß man mit jeder Schule, die man neu eröffnet, ein Gefängnis schließt; unsere geliebte laizistische und republikanische Schule, die eine wunderbare Maschine zur Produktion von Franzosen war. Dasselbe würde ich von der Armee, den Gewerkschaften und auch - die Italiener und die Polen erinnnern sich - von der Kirche sagen.
Die meisten Einwanderer, schreibt Daniel weiter, dächten immer noch so. Doch gäbe es eine Minderheit, bei der diese Mechanismen der Integration nicht mehr funktionierten; die sich absonderte.

Der Präsident - in seine Rolle hat sich Jean Daniel ja begeben - müsse alles tun, "[pour] combattre l'insécurité, la violence des groupes, les émeutes des marginaux, et parfois la division des Français" - [um] die mangelnde Sicherheit zu bekämpfen, die Gewalt von Gruppen, das Randalieren von Außenseitern, und manchmal die Spaltung der Franzosen. Und dies im Namen der Einwanderer, die sich integrieren und Franzosen werden wollen, so Jean Daniel weiter.



Ein Plädoyer also für Assimilation, wie das Thilo Sarrazins; siehe Thilo Sarrazin über Einwanderungspolitik; ZR vom 22. 8. 2010.

Gewiß, Jean Daniel ist pathetischer als Sarrazin. Das ist er nun einmal als Franzose; schon gar in der Rolle des Präsidenten, in die er sich zum Schreiben begeben hat. Er formuliert auch positiver. Er lockt und gibt Hoffnung, statt zu warnen. Aber das ist eine Frage des Stils. In der Substanz sagen beide dasselbe: Wer nach Frankreich kommt, der soll sich anpassen und Franzose werden. Wer nach Deutschland kommt, der soll sich anpassen und Deutscher werden.

Wie anders aber die Reaktion in Deutschland als in Frankreich! Sarrazin wird nicht als ein Mahner betrachtet (Michael Stürmer gestern in "Welt-Online" ist eine rühmliche Ausnahme), sondern als ein - so "Spiegel-Online" - "Querulant".

Die Diffamierung Sarrazins, die seit Montag im Gange ist (siehe Pawlow'sche Reflexe; ZR vom 25. 8. 2010), geht unvermindert weiter. Die Kanzlerin ließ ihren Regierungssprecher gegen Sarrazin vom Leder ziehen; Andrea Nahles, die Generalsekretärin der SPD, diagnostiziert bei ihrem Parteigenossen eine "ausgeprägte Profilneurose".

In der Presse herrscht eine Einigkeit, als sei man am Morgen zur Ausgabe der Sprachregelungen beim Minister angetreten gewesen: "Bullshit" riecht Alan Posener in seinem Videoblog für "Welt-Online". Einen "offen [ans] Rassistische grenzenden Populismus" nimmt der sonst vernünftige Yassin Musharbash in "Spiegel-Online" bei Sarrazin wahr. "Schwarze Pädagogik" attestiert ihm Mechthild Küpper in FAZ.Net.

Kurzum, die Debatte wird verweigert. Die Debatte über Einwanderung und nationale Identität, über die Frage, wie ein Land sich entwickeln soll, das einen wachsenden Anteil moslemischer Einwanderer aus überwiegend der Unterschicht hat - sie findet in Frankreich intensiv statt; sie wird in Deutschland durch die Beschimpfung dessen ersetzt, der dazu eine prononcierte Meinung äußert.

Der eine Meinung äußert, die nach französischen Maßstäben in der Mitte des Meinungsspektrums wäre; über die sich jedenfalls niemand erregen, sondern die man vernünftig diskutieren würde.

Deutschland kann oder will das nicht. Frankreich wird das Problem der moslemischen Einwanderung wahrscheinlich bewältigen, weil man sich ihm stellt. In Deutschland regieren die meisten Politiker mit Verdrängung.

Verdrängung mag kurzfristig vor Unangenehmem schützen. Aber anders, als es Kinder glauben, verschwindet etwas ja nicht, wenn man davor die Augen verschließt.

Die Diskussion, die jetzt verweigert und durch Diffamierung ersetzt wird, kann selbstredend nicht unbegrenzt umgangen werden. Aber je länger wir sie hinausschieben, umso schwieriger wird sie werden. Umso größer werden die Probleme werden; bis wir sie vielleicht zwar noch diskutieren, aber nicht mehr beheben können.



Und noch etwas Positives: In "Zeit-Online" ist seit heute Morgen ein ausführliches Gespräch, ein Streitgespräch zwischen Thilo Sarrazin und Bernd Ulrich, zu lesen. Dort können Sie erfahren, was Thilo Sarrazin wirklich denkt. Sie werden sehen: Nicht, das, was ihm zugeschrieben wird.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Eugène Delacroix, La Liberté guidant le peuple (1830); Ausschnitt.