Wie konnten westliche Linke, selbst wenn sie keine Kommunisten waren, so sehr an den kläglichen Regimes sowjetischen Typs hängen? Sie waren ja nun nicht direkt begeistert davon: den Anblick der Berliner Mauer haben nur wenige geliebt, Zensur und Geheimpolizei auch nicht, und die Führungsriegen um Breschnew, Honecker oder Ceaușescu wirkten kaum inspirierend für junge Revolutionäre im Westen. Und doch hatten diese marxistischen Diktaturen, wie sich am klarsten in der Zeit ihres Unterganges zeigte, als man jammerte und wehklagte, eine enorme Bedeutung für die Westlinken; man war auf eine seltsame Weise loyal. Seither fühlen sie sich einsam in einer durch und durch kapitalistischen Welt.
Eines hatten diese Regime zu bieten, das den Westlinken fehlte: sie hatten Macht. Die Arbeiterklasse hat es zu einer atomar bewaffneten Supermacht gebracht! Das war doch schon etwas.
Die marxistischen Diktaturen gaben der Linken einen Trost und eine Hoffnung, den die Sozialisten vor 1917 noch nicht kannten; diese hatten ja nur eine Niederlage nach der anderen erlebt. Insgeheim, abseits der öffentlich vertretenen optimistischen Prognosen, dürften die meisten Zweifel daran gehabt haben, ob die sozialistische Bewegung jemals mehr als eine Randerscheinung sein würde. Lenin hat dann gezeigt, daß man ein großes Land unter seine Herrschaft bekommen kann: das hat die ganze Szene ungeheuer beeindruckt. Viele Sozialisten, die zuvor Gegner des Marxismus waren, schlossen sich ihm an oder schlugen vor, ihn nachzuahmen.
Zwei gegensätzliche Haltungen erlaubten es, diesem Sog zu widerstehen. Die eine besteht im ideologischen Starrsinn, wie ihn etwa der italienische Sozialist Errico Malatesta in überragendem Maße aufwies; er dachte in seinem Todesjahr 1932 über die Welt und wie man sie verbessern sollte, exakt so, wie er schon 1878 dachte. Fast wie ein Automat produzierte er jahrzehntelang dieselbe Propaganda. Lenins Revolution beeindruckte ihn sowenig wie jede andere Veränderung, die sich in der Welt ereignet hatte.
Der andere Weg besteht in extremer Biegsamkeit, verbunden mit Beobachtungsgabe. Das Paradebeispiel dafür ist Bertrand Russell, von dem behauptet wird, er habe etwa alle sechs Monate seine philosophischen Grundüberzeugungen ausgewechselt. Als er 1920 nach Rußland fuhr, ärgerte ihn die ständige Bewachung und Bespitzelung derart, daß er dem Regime die Zuneigung entzog.
Betrachtet man die beiden Extremfälle Malatesta und Russell, so erscheint der Mittelweg gerade als der problematischste: wenn man flexibel genug ist, um für neue Propaganda oder dem Prestige des Erfolgreichen aufgeschlossen zu sein, dann aber an einer einmal akzeptierten Position auch gegen widerstrebende Erfahrung festhält, wird man am leichtesten zum Mitläufer.
Und dieser Mittelweg der begrenzten Flexibilität ist nun einmal leider der am weitesten verbreitete: Man möchte ja ungern jeden Tag einer neuen geistigen Mode hinterherrennen - ewig gestrig an alten Vorurteilen zu kleben möchte man aber auch nicht. Sich starr gegen den wechselnden Zeitgeist zu behaupten, erfordert unangenehm viel Kraft; sich aber einzugestehen, einem Irrtum, und schlimmer noch einem Betrug aufgesessen zu sein, fällt ebenfalls schwer. Also passen wir uns gerne an, wenn es nicht allzu oft geschehen soll. Das ist soweit schon rational und bei vielen nebensächlichen Fragen sicher die sinnvollste Methode.
Will man sich als Normalmensch aber davor schützen, ernsthaft vor einen Karren gespannt zu werden, muß man sich wohl oder übel auf einen von zwei schwierigen Wegen machen: entweder reagibler zu werden oder sturer. Der Weg der Aufklärung ist zweifellos der erste; er verlangt mehr Mut - dafür erfordert er weniger Charakter.
Fast ebensowichtig wie die Macht ist wohl die Legalität der Macht gewesen. Richelieu soll einmal dem König gesagt haben, Rebellen würden immer unterliegen, weil sie hinter dem Schwert, das sie schlägt, bereits das Beil sähen, das sie richtet. Umso wichtiger ist es, aus dem Bereich des Strafrechts herauszukommen, und also anerkannte souveräne Hoheitsgewalt zu erlangen. Von dem "souveränen Kampuchea" und dergleichen war entsprechend oft die Rede, und Linke waren ganz in diesem Sinne immer pingelig, was die Gesetze der DDR betraf. Die durften natürlich auf keinen Fall verletzt werden, wie das etwa die Fluchthelfer taten: die einzige Migration, die von der Linken je abgelehnt wurde, war die der DDR-Bürger in den Westen; die war nämlich kriminell.
Gegen die BRD-Gesetze konnte man selbstverständlich "Rechtsbrüche in Kauf nehmen, um menschliche Verhältnisse zu schaffen", wie J. Fischer das einmal formulierte. Das Recht an sich aber respektierte man, wenigstens das der DDR, über deren Sozialismus der Glanz der offiziellen Legalität leuchtete.
Einen Sonderfall stellt die Faszination dar, die Pol Pots oder Enver Hodschas Sozialismus auf eine Minderheit der Linken ausgeübt haben. Hier dürfte die Lust am Extremismus als solchem eine Rolle gespielt haben. Ich kannte mal einen, der sich in den 80er-Jahren für den albanischen Sozialismus begeistert hat: "Das reichste Land der Welt! Drei Ernten im Jahr! Das hab' ich echt geglaubt." Dann faszinierte ihn Landauer, später eine Art von spirituellem Öko-Anarchismus. Anschließend war er ein paar Jahre im Umkreis von Horst Mahler. (Was dann kam, weiß ich nicht.) Ich glaube, er hatte immer das Bedürfnis, weitab vom Mainstream eine Gemeinschaft zu finden; was er da jeweils "glaubte", war kaum von Bedeutung, Hauptsache es handelte sich um extreme Außenseitermeinungen. Der Anblick des Beils, sofern es nur weit genug weg ist, hat auch etwas Erregendes.
Ich finde, selbst das hat seine Logik für sich. Entweder man ist Mainstream und wird wohlhabend und anerkannt, oder man bricht restlos mit dem System und fühlt sich als Rebell. Am Rand zu stehen, das ist das Allerschlechteste. Jeder, der bei Trost ist, will von dort weg.
So gesehen, hat sich die 68er-Bewegung in drei Richtungen aufgeteilt: jene, die Staat wurden, jene die Außenseiter blieben - und die vielen, die beides nicht geschafft haben und ungebrochen bis heute in ihrer Nische hocken blieben, die traurigen Malatestas unserer Zeit.
Eines hatten diese Regime zu bieten, das den Westlinken fehlte: sie hatten Macht. Die Arbeiterklasse hat es zu einer atomar bewaffneten Supermacht gebracht! Das war doch schon etwas.
Die marxistischen Diktaturen gaben der Linken einen Trost und eine Hoffnung, den die Sozialisten vor 1917 noch nicht kannten; diese hatten ja nur eine Niederlage nach der anderen erlebt. Insgeheim, abseits der öffentlich vertretenen optimistischen Prognosen, dürften die meisten Zweifel daran gehabt haben, ob die sozialistische Bewegung jemals mehr als eine Randerscheinung sein würde. Lenin hat dann gezeigt, daß man ein großes Land unter seine Herrschaft bekommen kann: das hat die ganze Szene ungeheuer beeindruckt. Viele Sozialisten, die zuvor Gegner des Marxismus waren, schlossen sich ihm an oder schlugen vor, ihn nachzuahmen.
Zwei gegensätzliche Haltungen erlaubten es, diesem Sog zu widerstehen. Die eine besteht im ideologischen Starrsinn, wie ihn etwa der italienische Sozialist Errico Malatesta in überragendem Maße aufwies; er dachte in seinem Todesjahr 1932 über die Welt und wie man sie verbessern sollte, exakt so, wie er schon 1878 dachte. Fast wie ein Automat produzierte er jahrzehntelang dieselbe Propaganda. Lenins Revolution beeindruckte ihn sowenig wie jede andere Veränderung, die sich in der Welt ereignet hatte.
Der andere Weg besteht in extremer Biegsamkeit, verbunden mit Beobachtungsgabe. Das Paradebeispiel dafür ist Bertrand Russell, von dem behauptet wird, er habe etwa alle sechs Monate seine philosophischen Grundüberzeugungen ausgewechselt. Als er 1920 nach Rußland fuhr, ärgerte ihn die ständige Bewachung und Bespitzelung derart, daß er dem Regime die Zuneigung entzog.
Betrachtet man die beiden Extremfälle Malatesta und Russell, so erscheint der Mittelweg gerade als der problematischste: wenn man flexibel genug ist, um für neue Propaganda oder dem Prestige des Erfolgreichen aufgeschlossen zu sein, dann aber an einer einmal akzeptierten Position auch gegen widerstrebende Erfahrung festhält, wird man am leichtesten zum Mitläufer.
Und dieser Mittelweg der begrenzten Flexibilität ist nun einmal leider der am weitesten verbreitete: Man möchte ja ungern jeden Tag einer neuen geistigen Mode hinterherrennen - ewig gestrig an alten Vorurteilen zu kleben möchte man aber auch nicht. Sich starr gegen den wechselnden Zeitgeist zu behaupten, erfordert unangenehm viel Kraft; sich aber einzugestehen, einem Irrtum, und schlimmer noch einem Betrug aufgesessen zu sein, fällt ebenfalls schwer. Also passen wir uns gerne an, wenn es nicht allzu oft geschehen soll. Das ist soweit schon rational und bei vielen nebensächlichen Fragen sicher die sinnvollste Methode.
Will man sich als Normalmensch aber davor schützen, ernsthaft vor einen Karren gespannt zu werden, muß man sich wohl oder übel auf einen von zwei schwierigen Wegen machen: entweder reagibler zu werden oder sturer. Der Weg der Aufklärung ist zweifellos der erste; er verlangt mehr Mut - dafür erfordert er weniger Charakter.
Fast ebensowichtig wie die Macht ist wohl die Legalität der Macht gewesen. Richelieu soll einmal dem König gesagt haben, Rebellen würden immer unterliegen, weil sie hinter dem Schwert, das sie schlägt, bereits das Beil sähen, das sie richtet. Umso wichtiger ist es, aus dem Bereich des Strafrechts herauszukommen, und also anerkannte souveräne Hoheitsgewalt zu erlangen. Von dem "souveränen Kampuchea" und dergleichen war entsprechend oft die Rede, und Linke waren ganz in diesem Sinne immer pingelig, was die Gesetze der DDR betraf. Die durften natürlich auf keinen Fall verletzt werden, wie das etwa die Fluchthelfer taten: die einzige Migration, die von der Linken je abgelehnt wurde, war die der DDR-Bürger in den Westen; die war nämlich kriminell.
Gegen die BRD-Gesetze konnte man selbstverständlich "Rechtsbrüche in Kauf nehmen, um menschliche Verhältnisse zu schaffen", wie J. Fischer das einmal formulierte. Das Recht an sich aber respektierte man, wenigstens das der DDR, über deren Sozialismus der Glanz der offiziellen Legalität leuchtete.
Einen Sonderfall stellt die Faszination dar, die Pol Pots oder Enver Hodschas Sozialismus auf eine Minderheit der Linken ausgeübt haben. Hier dürfte die Lust am Extremismus als solchem eine Rolle gespielt haben. Ich kannte mal einen, der sich in den 80er-Jahren für den albanischen Sozialismus begeistert hat: "Das reichste Land der Welt! Drei Ernten im Jahr! Das hab' ich echt geglaubt." Dann faszinierte ihn Landauer, später eine Art von spirituellem Öko-Anarchismus. Anschließend war er ein paar Jahre im Umkreis von Horst Mahler. (Was dann kam, weiß ich nicht.) Ich glaube, er hatte immer das Bedürfnis, weitab vom Mainstream eine Gemeinschaft zu finden; was er da jeweils "glaubte", war kaum von Bedeutung, Hauptsache es handelte sich um extreme Außenseitermeinungen. Der Anblick des Beils, sofern es nur weit genug weg ist, hat auch etwas Erregendes.
Ich finde, selbst das hat seine Logik für sich. Entweder man ist Mainstream und wird wohlhabend und anerkannt, oder man bricht restlos mit dem System und fühlt sich als Rebell. Am Rand zu stehen, das ist das Allerschlechteste. Jeder, der bei Trost ist, will von dort weg.
So gesehen, hat sich die 68er-Bewegung in drei Richtungen aufgeteilt: jene, die Staat wurden, jene die Außenseiter blieben - und die vielen, die beides nicht geschafft haben und ungebrochen bis heute in ihrer Nische hocken blieben, die traurigen Malatestas unserer Zeit.
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