29. August 2010

Kurioses, kurz kommentiert: Jetzt sprechen Kachelmanns Frauen. Was ist uns Kachelmann? Über Interesse und Erkenntnis

Ist das ein Thema für ZR? Nein. Dieser Blog hat zwar ein ziemlich breites Themenspektrum. Aber auf das Niveau der Klatschpresse wollen wir uns doch nicht begeben, nicht wahr, lieber Leser?

Was haben uns Kachelmanns Frauen zu interessieren; was sie mit ihm erlebt haben, wie sie über ihn denken? Ob sie ihn immer noch lieben oder mittlerweile hassen?

Und doch, und doch.

Als ich heute das aktuelle Angebot von sueddeutsche.de durchsah, fiel mein Blick auf den Namen Kachelmann in einem verlinkten Artikel, und das war dieser. Mit einer Überschrift, länger als die barocken Titel der Artikel in ZR; oder ist es schon der Vorspann? Egal, lesen Sie:
Wer hat Angst vor Jörg Kachelmann? Er ist frei, sein Ruf für alle Zeiten ruiniert. Ob ihn Schuld trifft, wissen wir nicht. Wir können nur fragen, was für ein Mensch er eigentlich ist. Hier erzählen zum ersten Mal die Frauen seines Lebens, was sie wissen. Von Gabriela Herpell, Susanne Schneider und Jonas Leppin
Und das in einem Layout, als befänden wir uns bei "Emma" seligen Angedenkens (oder gibt es sie noch?); alles in ein sattes Lila getaucht.

Spätestens da hätte ich mich eigentlich mit Grausen abwenden müssen. Ich verabscheue Home Stories und Human Touch. Ich habe keine Ahnung, wie die Lage in den europäischen Königshäusern ist, außer daß ich Namen wie Harald und Mette-Marit nicht entgehen kann; aber fragen Sie mich nicht, wer in welches Land gehört und wer mit wem verheiratet ist. (Jedenfalls wird dort offenbar fleißig geheiratet, so viel bekomme ich mit. Hoffentlich erfüllen alle diese Ehen auch ihren Zweck, damit wenigstens die Royals etwas dagegen tun, daß Europas Bevölkerung schrumpft).

Also wer mit wem und warum und wie - das interessiert mich ungefähr so sehr, wie was es heute bei der Familie Kurt Beck zu Mittag gibt. Aber Kachelmanns Frauen, das hat mich interessiert, seltsamerweise. Ein großer Artikel ja auch. Das dreiköpfige Autorenteam hat nicht weniger als 18 von ihnen aufgespürt, Freundinnen oder auch Kolleginen, und hat sie dazu gebracht, sich zu äußern über ihren verflossenen Kachelmann.

Und was nun sagen diese Frauen? Was ist herausgekommen bei der Lektüre, zu der ich mich habe verleiten lassen? Im Grunde nichts.

Kachelmann wird genau so geschildert, wie man das erwarten konnte: Ein Charmeur, liebevoll und einfühlsam. Ein intelligenter und arbeitsamer Mensch. Sentimental und zugleich verschlossen. Redegewandt und humorvoll. Ein Egomane, der keine Kritik an sich heranläßt. Einer, der andere Menschen bezaubert und sie manipuliert.

Wir haben es geahnt.



Aber warum wollen wir es wissen? Gut: Warum wollte ich es wissen?

Es muß da wohl eine eigenartige Form der Wißbegier geben; ich habe keine Ahnung, ob Psychologen das schon erforscht haben: Sobald uns ein Mensch beschäftigt, wollen wir alles über ihn wissen. Interesse gebiert Erkenntnis; jedenfalls den Wunsch nach Erkenntnis, wie trivial auch immer.

Als ich mich als junger Mensch für bemannte Raumfahrt interessierte - es war die Zeit der sieben ersten "Mercury"-Astronauten, ich kann jetzt noch ihre Namen aufzählen - , da wußte ich von ihnen alles und wollte alles wissen: Ihre Karriere beim Militär, ihr Familie, ihre Hobbies. War das für ihre Leistung als Astronauten relevant? In keiner Weise. Aber es interessiert mich.

So geht es unfehlbar denen, die einen Schriftsteller besonders schätzen. Deshalb verkaufen sich auch noch die ödesten Tagebücher, von Thomas Mann beispielsweise oder von Martin Walser.

Ich habe einmal mit größtem Interesse einen Auszug aus dem Tagebuch von Alice Schmidt gelesen, der Frau von Arno Schmidt. Es schildert nichts als das Alltägliche eines kargen Lebens von Flüchtlingen im Jahr 1955.

Der Thomas-Mann-Fan andererseits freut sich daran, zu lesen, wie es denn mit der Verdauung seines Helden an jenem Tag in Pacific Palisades bestellt war, an dem er außerdem einen langen Spaziergang unternahm und sich erkundigte, ob die neuen Maßhemden schon eingetroffen seien. (Nur zur Sicherheit gesagt: Das habe ich mir jetzt ausgedacht; nicht daß das jemand als Neues zur Mann-Biographie zitiert).

So muß es wohl auch bei Kachelmann sein. Wäre er nicht verhaftet worden, dann wäre ich niemals auf den Gedanken verfallen, auch nur eine Zeile über das Privatleben dieses Grinsemanns lesen zu wollen. Ich interessiere mich ja auch nicht für das Privatleben von Donald Bäcker oder Inge Niedeck.

Aber nun hat er mich beschäftigt wegen des fragwürdigen Vorgehens der Justiz gegen ihn; und ich habe das ja auch wiederholt kommentiert (z.B. "Er machte einen sehr niedergeschlagenen Eindruck, ist aber nicht suizidgefährdet"; ZR vom 25. 3. 2010; "Gegen Jörg Kachelmann besteht kein dringender Tatverdacht mehr"; ZR vom 29. 7. 2010).

Der "Fall Kachelmann" liegt jetzt erst einmal bei den Akten; bis zum Beginn des Prozesses. Aber das Interesse hat sich gewissermaßen verselbständigt. Es hat vom Fall Kachelmann auf die Person Kachelmann übergegriffen. Ist das nicht kurios?

Wie kommt das, was soll das? Ich weiß es nicht. Evolutionspsychologisch könnte man spekulieren: Wenn für jemanden ein Mensch wichtig ist, dann ist es gut, möglichst viel über diesen zu wissen. Man hat dann einen Vorteil in der Interaktion mit ihm, sei es der liebevollen, sei es der feindlichen.

Jedenfalls scheint es diese Regel zu geben: Als je wichtiger wir jemanden wahrnehmen, desto mehr interessieren uns Einzelheiten über ihn.

In Thomas Manns - um noch einmal auf ihn zu kommen - "Zauberberg" läßt sich der junge Hans Castorp von dem vertrockneten "Alten Mädchen" Fräulein Engelhart jede noch so kleine Einzelheit über Madame Chauchat erzählen. Da wissen wir, noch bevor Hans Castorp selbst es ganz erfaßt hat: Er ist in Clawdia Chauchat verliebt.



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