29. August 2010

Marginalie: Sarrazin - jetzt wird's richtig häßlich. Nebst einem Nachtrag für alle, die Sarrazins Buch (erste Auflage vergriffen) noch nicht haben

Der Kampf gegen Thilo Sarrazin, der zunächst in Gestalt seiner Diffamierung als "Rassist", als "islamophob" und dergleichen geführt wurde (siehe Pawlow'sche Reflexe; ZR vom 25. 8. 2010), nimmt allmählich richtig häßliche Formen an.

In der deutschen Ausgabe des Internet-Magazins Life.Gen - nach eigenen Angaben "one of Europes most important lifescience Online-Magazines", eines der wichtigsten europäischen Online-Magazine zu den Biowissenschaften - ist jetzt dies zu lesen:
Hartz IV – Empfänger und Migranten können ab sofort gegen das von Bertelsmann massiv gepushte Buch von Thilo Sarrazin protestieren und bestehende Medien-Abonnements des globalen Konzerns kündigen. Welche Produkte in Frage kommen, lässt sich am besten auf der Seite des Unternehmens erkennen: Von Gruner + Jahr und damit verbunden Stern, Capital, GEO oder Eltern bis zum Bertelsmann Club ist eine ganze Menge dabei, was man als Sarrazin-Opfer in Zukunft meiden kann. (...)

Die Aktion kan [sic] man selbstverständlich beenden, und somit zum zuvor gekündigten Medium zurückkehren - nachdem DVA das Sarrazin-Werk aus dem Programm genommen hat.
Und wenn man zu den Vorabmeldungen zum "Spiegel" der kommenden Woche geht, dann findet man an oberster Stelle eine Meldung "Sarrazins Privilegien".

Es geht um eine Lächerlichkeit - wie zahlreichen anderen Prominenten auch hatte die Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport Sarrazin eine VIP-Karte geschickt, die zur kostenlosen Nutzung eines Sonderparkplatzes am Flughafen berechtigte. Ob Sarrazin davon überhaupt jemals Gebrauch gemacht hat, hat der "Spiegel" offenbar bisher nicht herausgefunden.

Dergleichen ist keine Auseinandersetzung, das ist auch nicht mehr Polemik: Es ist der Versuch, Sarrazin und seinen Verlag mit allen Mitteln zu bekämpfen. Es wird richtig häßlich.



Nachtrag am 29. 8. : Die erste Auflage von Sarrazins Buch ist offensichtlich schon vor dem offiziellen Verkaufsbeginn am morgigen Montag vergriffen; siehe diesen Beitrag von Calimero in Zettels kleinem Zimmer und meine beiden Antworten darauf. Das Buch steht auf Platz 1 der Bestsellerliste von Amazon.

Sie können sich aber einen guten Eindruck von dem Buch verschaffen, wenn Sie das Inhaltsverzeichnis und das Vorwort lesen, die Amazon als PDF-Datei zur Verfügung stellt.

Sie werden zum einen sehen, daß das Buch keineswegs das zentrale Thema "Einwanderung" hat, sondern daß nur eines von sieben Kapiteln sich damit befaßt. Es geht um die Zukunft Deutschlands unter den verschiedensten Aspekten - Armut und Ungleichheit beispielsweise, Arbeit und Politik, Bildung und Gerechtigkeit; um einige Kapitelüberschriften zu zitieren.

Sie können am Vorwort zum anderen ablesen, daß Sarrazins Buch das Gegenteil einer "wirre[n] Mischung" ist, wie der SPD-Politiker Ralf Stegner behauptet. Es ist eine bemerkenswert klare und rationale Analyse; übrigens abgefaßt in einem Deutsch, um das mancher Berufsjournalist Sarrazin beneiden dürfte. Textprobe:
Der Keim für diese Fehlentwicklungen, die unsere Zukunft verdüstern, ist bereits in den triumphalen späten fünfziger Jahren gelegt worden. Damals begann eine Kette institutioneller Reformen, von denen jede einzelne wohlgemeint war und sicher individuell auch viel Gutes gebracht hat. Die kombinierte Wirkung dieser Reformen leitete aber einen gesellschaftlichen Substanzverzehr ein, der unsere Zukunft bedroht. Im Kern geht es um vier Themenkomplexe, die miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen:
– um die seit 40 Jahren eingetretenen demografischen Verschiebungen und generativen Verhaltensänderungen sowie deren Weiterwirken in die Zukunft

– um die in unserem Sozialsystem liegenden Anreize, ein selbstbestimmtes Leben zu führen – oder dies eben nicht zu tun

– um Sozialisation, Bildung und lebensweltliche Motivation der Menschen

– um die Qualität, die Struktur und den kulturellen Hintergrund der Migranten in Deutschland.
Treffender und klarer kann man es aus meiner Sicht kaum sagen.



Neben dieser Textprobe stehen weiter die beiden anderen Informationsquellen zur Verfügung, auf die ich schon in früheren Artikeln aufmerksam gemacht habe: Sarrazins "Spiegel"-Artikel (ein Auszug aus dem Buch), der seit Freitag in "Spiegel-Online" zu lesen ist, und das Streitgespräch, das Bernd Ulrich und Özlem Topcu für die "Zeit" mit Sarrazin führten.

Nachtrag zum Nachtrag: Inzwischen ist dieses Interview mit Stefan Dietrich in FAZ.Net hinzugekommen, in dem Sarrazin seine Position zu einzelnen Punkten erläutert, unter anderem sein Verhältnis zur Sozialdemokratie. Lesenswert.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an monty und notquite. Erste Fassung publiziert am 28. 8. 2010, 16.09 Uhr.