7. September 2007

Randbemerkung: Freispruch dritter Klasse. Eine Urteilsbegründungsschelte

Bis 1968 gab es im deutschen Strafrecht die Unterteilung in Freisprüche "aus Mangel an Beweisen" und "wegen erwiesener Unschuld".

Das wurde zu Recht gestrichen. Denn ob ein Unschuldiger seine Unschuld auch beweisen kann oder nicht, das hängt von Zufällen ab, die dieser Unschuldige nicht zu verantworten hat, die er oft auch gar nicht beeinflussen kann oder konnte.

Der Freispruch "wegen erwiesener Unschuld" war ursprünglich wohl als eine besonders vollständige Wiederherstellung der Ehre des zu Unrecht Angeklagten gedacht; als eine Wiedergutmachung des Unrechts, das man ihm mit der Strafverfolgung zugefügt hatte.

Faktisch aber war umgekehrt der Freispruch "aus Mangel an Beweisen" nicht selten ein Makel, der an dem so Freigesprochenen haften blieb. Dieser stand so da, wie an jener Ecke der Mackie Messer, dem "man nichts beweisen kann".

Also war es vernünftig, im Rahmen der zahlreichen Entrümpelungen, Entlüftungen und Renovierungen des Strafrechts in den Jahren um 1970 herum auch diesen alten Zopf abzuschneiden.

Seither ist es im deutschen Strafrecht wie im angelsächsischen: Guilty. Oder not guilty. Punktum. Man wird verurteilt oder freigesprochen. Und wenn jemand rechtskräftig freigesprochen ist, dann ist er unschuldig.



Heute ist in Saarbrücken ein Prozeß zu Ende gegangen, der in jeder Hinsicht deprimierend gewesen ist.
  • Deprimierend war es, daß ein Kind aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet, vielleicht zuvor mißbraucht wurde.

  • Deprimierend ist das Milieu, in dem das geschehen sein soll - um eine heruntergekommene Kneipe, die "Tosa- Klause" herum gruppieren sich Gescheiterte, Alkoholiker, Asoziale. (Ja, das ist der richtige Begriff; "desozialisiert" habe ich heute als eine pc Umschreibung gelesen).

  • Deprimierend war die öffentliche Erregung, die Vorverurteilung der Angeklagten, dieses ganze gierige Interesse, das der Fall auf sich zog. Sich fortsetzend in die heutigen Äußerungen der "Empörung" über die Freisprüche.

  • Und deprimierend war schließlich auch der Verlauf der Voruntersuchung, der Verlauf des Prozesses selbst. Mit Aussagen, die wieder zurückgezogen wurden, mit Angeklagten, die sich reihenweise gegenseitig belasteten, mit Gutachten, aus denen man schließen konnte, daß diesen Aussagen ungefähr so sehr zu trauen ist wie den Berichten von Sindbad dem Seefahrer.


  • Heute nun also das Urteil. Der Freispruch, den alle seriösen Prozeß- Beobachter erwartet hatten.

    Aber was für eine mündliche Urteilsbegründung! Der "Tagesspiegel" referiert sie ausführlich. Eine Urteilsbegründung, die in ihrem ersten Teil zu einer Verurteilung besser passen würde als zu einem Freispruch:
    Über eine Stunde lang begründet der Vorsitzende Richter Ulrich Chudoba, weshalb eine Schuld der Angeklagten wahrscheinlich sei: Mehrere der Angeklagten hätten die Taten ausführlich gestanden, ein komplexes Geschehen eindringlich geschildert. So sehr sie sich widersprochen hätten, in ihrem Kern hätten all die Aussagen übereingestimmt.

    Die Angeklagten hätten dabei sich selbst belastet; eine von ihnen hatte sogar gestanden, den Jungen erstickt zu haben. Es sei schwer vorstellbar, dass dies alles "reine Phantasie" gewesen sei.
    Später dann werden die Gründe genannt, die Zweifel an der Schuld der Angeklagten begründen - keine objektiven Tatspuren, keine belastenden Aussagen von Zeugen außerhalb der Gruppe der Stammgäste in der "Tosa-Klause".

    Am Ende hat das Gericht sich aus diesen Gründen zum Freispruch entschlossen. Mit welcher Mehrheit der drei Berufs- und zwei Laienrichter ist nicht bekannt; das gehört zum Beratungsgeheimnis.

    Aber wenn die Angeklagen nun freigesprochen sind, wenn also auf not guilty erkannt ist - mußte das Gericht dann eine Urteilsbegründung schreiben, die einem Freispruch nicht zweiter, sondern dritter Klasse, der Holzklasse sozusagen gleichkommt?

    War eine Urteilsbegründung erforderlich, über die der "Tagesspiegel" schreibt: "Eine Stunde lang können sich während der Urteilsbegründung zumindest jene, die die Angeklagten zuvor während der vielen Verhandlungstage nicht selbst erlebt hatten, fragen, weshalb die Richter denn nicht verurteilt haben"?



    Natürlich treten bei einem solchen Prozeß Momente zutage, die für, und andere, die gegen die Schuld der Angeklagten sprechen. Aber Urteilen heißt doch wohl, eine Entscheidung treffen. "Trancher" ist im Französischen ein Wort für entscheiden; und das bedeutet auch schneiden.

    Ein Gericht muß entscheiden. Es muß sich entscheiden. Eine Urteilsbegründung, die klingt wie ein fauler Kompromiß, zu dem sich die Große Koalition mal wieder durchgerungen hat, ist keine.

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