15. Januar 2007

Das im Irrgarten der Einigung herumtaumelnde Europa

Für Europa zu sein, das war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs selbst­ver­ständlich. Zuerst, weil man sich nach zwei fürchterlichen Kriegen nach Aussöhn­ung sehnte. Dann aus der Notwendigkeit heraus, sich gemein­sam gegen den Kommunismus, gegen die Bedrohung durch die Kolonialmacht UdSSR zu behaupten, die gern auch Westeuropa kolonisiert hätte. Schließlich, weil es zunehmend klar wurde, daß nur ein vereintes Europa sich im globalen Mächtespiel würde behaupten können.

Ich bin immer aus Überzeugung Europäer gewesen. Ich habe es wunderbar gefunden, wie allmählich die Grenzen fielen, wie Europa zusammenwuchs.

Als ich in den späten fünfziger Jahren als Schüler die ersten Male nach Frankreich fuhr, verlangte das lange Reise­vorbereitungen. Es mußte zum Beispiel beim ADAC für das Auto ein sogenanntes Carnet de Passage erworben werden; ein umfangreiches Dokument, das das Auto bis zu seiner "Wiederausführung" aus Frankreich begleitete. Auf der Bank waren "Devisen" zu besorgen. In unserer kleinen Stadt mußten meine Eltern sie im voraus bestellen, wie auch die Reiseschecks.

Wenn ich mit meinem Onkel fuhr, der einen Diplomatenpaß hatte, dann genoß ich es, daß wir an der Grenze nach kurzer Prüfung "durchgewinkt" wurden, statt der langen Prozedur, in der erst die deutsche Paßkontrolle, dann der deutsche Zoll, dann der französische Zoll, dann die französische Paßkontrolle jeweils ihres Amtes walteten.

Wer heute mit dem Thalys von Köln nach Paris fährt, der merkt gar nicht mehr, wann und wo er die Grenze nach Belgien, die von Belgien nach Frankreich überquert. Er zahlt, angekommen, in derselben Währung wie zu Hause, und er kann im Zug sogar schon die Fahrscheine für die Métro erwerben.

Wer dieses Zusammenwachsen Europas nicht als eine riesigen, einen epochalen Fortschritt sieht, mit dem kann und will ich nicht diskutieren. Das schicke ich voraus, weil der Rest dieses Beitrags sehr europakritisch ist und ich nicht mißverstanden werden will.



Solche historischen Prozesse wie die Europäische Einigung vollziehen sich selten nach einem Plan. Sie sind, um einmal einen von Marx gern benutzten Begriff zu verwenden, "naturwüchsig".

Was Adenauer und seine Mitstreiter Anfang der fünfziger Jahre wollten und was 1957 seinen Ausdruck im Vertrag von Rom fand, das war Neukarolingien - das Wiedererstehen des Reichs Karls des Großen; ein katholisch geprägtes, freiheitliches, in seiner gemeinsamen Tradition verwurzeltes Kerneuropa.

Dieses "Europa der Sechs", wie es genannt wurde, hat sich seither mehrfach erweitert. Die Erweiterungen boten sich an; sie schienen jeweils in die Zeit zu passen. Die Einbeziehung der meisten Länder der EFTA, also Englands und von Teilen Nordeuropas 1973. Später die "Süderweiterung". In unseren Tagen die diversen Stufen der "Osterweiterung". Und seit langem verhandelt man gar mit einem Land des Orients darum, ob es nicht am Ende auch noch nach Europa eingemeindet werden sollte.

Diese Erweiterungen waren nicht von Anfang an geplant gewesen. So, wie überhaupt kaum jemand das Europa vorausgedacht hat, das am Ende stehen sollte. Man hat sich halt immer mal wieder erweitert. So, wie aus einem Familienbetrieb allmählich ein Konzern wird.

Viele Unternehmen haben das nicht überlebt. Grundig, Borgward, Neckermann zum Beispiel.



Das Europa der Sechs, Neukarolingien - das hätte man sich als einen Bundesstaat vorstellen können. Gegründet auf die gemeinsame karolingische Tradition, die gemeinsame Tradition des Heiligen Römischen Reichs. Mit wenigen Sprachen - Deutsch, Französisch, Italienisch, Niederländisch.

Das sind exakt so viele wie die Amtssprachen in der Schweiz. Die Schweiz hätte überhaupt zum Vorbild dieses Europas werden können. Auch mit ihrem stark ausgeprägten Subsidiaritätsprinzip. Mit der Eigenständigkeit der Kantone, mit der Basisdemokratie. Das wäre ein schönes Europa geworden, von dem Adenauer, de Gasperi, Schuman, Paul-Henri Spaak träumten.

Jetzt ist Europa gewuchert und gewuchert. "Naturwüchsig" eben, also unbedacht. Und nun wird es fünfzig, und man reibt sich die Augen und fragt: Ja, wo soll das eigentlich hinführen?



Wie wenig diejenigen, die die Verantwortung tragen, wie wenig diejenigen, die sie als Denkende in ihren Think Tanks dabei unterstützen, das wissen, das erhellt mit erschreckender Deutlichkeit aus einem großen Kommentar, der gestern in der Welt am Sonntag zu lesen war.

Ein bedeutender Artikel zu Europa. Geschrieben von zweien, die es wissen müssen: Dem Verfassungsrechtler Roman Herzog, Mitglied des Kuratoriums des CEP, und dessen Direktor, Lüder Gerken.

Was eigentlich Europa werden soll, darüber sind sich die führenden Europapolitiker, so kann man es diesem Artikel entnehmen, überhaupt nicht im Klaren. Vielmehr gebe es, schreiben die Autoren, zwei "sich ausschließender Vorstellungen über die endgültige Gestalt der EU. Auf der einen Seite stehen die Intergouvernementalisten, die einen Verbund dauerhaft souveräner Staaten, ein 'Europa der Vaterländer' anstreben. (...) Auf der anderen Seite stehen die Föderalisten, die einen europäischen Bundesstaat anstreben."

Beide sind - und das ist die Pointe dieses Artikels - mit der gegenwärtigen Entwicklung gleichermaßen unzufrieden; und beide haben sie Recht mit ihrer Kritik.

Die einen, die Intergouvernementalisten, konstatieren "mit Sorge eine zunehmende Zentralisierung der Politik auf EU-Ebene, die mit einer Ausdünnung der Befugnisse der Mitgliedstaaten einhergeht". Wie wahr! Das erbärmliche, das durch nichts zu rechtfertigende AGG, ein Schritt in Richtung Sozialismus, ist ein Beispiel. Die Umsetzung einer EU-Direktive, auch wenn die Deutschen (und das unter einer Kanzlerin Merkel) noch draufgesattelt haben auf den lahmenden Gaul.

Die anderen, die Föderalisten, stört es überhaupt nicht, daß Brüssel immer mehr Kompetenzen an sich zieht. Sie wollen einen europäischen Staat. Den freilich demokratisch verfaßt. "Sie fordern vollständige staatliche Strukturen für die EU im Sinne der klassischen Gewaltenteilungslehre, insbesondere ein Parlament als souveräne Legislative und eine Regierung als souveräne Exekutive – ohne dass die Regierungen der Mitgliedstaaten über den Rat Sand ins Getriebe streuen können."

Wovon gegenwärtig keine Rede sein kann. Weil - das belegen die beiden Autoren ausführlich - der Ministerrat gegenwärtig zugleich Exekutive und Legislative ist. Weil der Europäische Gerichtshof kräftig selbst Politik macht, indem er regelmäßig zugunsten von mehr Macht für die Brüsseler Bürokraten entscheidet. Weil das Europa- Parlament weit davon entfernt ist, die Europa- Bürokratie zu kontrollieren. Und weil diese, wie jede Bürokratie, darauf abzielt, immer mehr unter die Knute ihrer Direktiven und Regulierungen zu bekommen.



Kurz, die Intergouvernementalisten und die Föderalisten, beide haben sie Recht mit ihrer Kritik, sagen Herzog und Gerken: "Unbestreitbar treffen die Problemdiagnosen sowohl der Intergouvernementalisten als auch der Föderalisten zu".

Mit anderen Worten, Europa hat die Pest und die Cholera.

Dank an C. dafür, mich auf den Artikel von Herzog und Gerken aufmerksam gemacht zu haben.