3. Januar 2007

Schäuble, Kant und das Trolley-Problem

Der Bundesinnenminister bleibt hartnäckig: Er wird, so hat er in einem Interview mit der SZ angekündigt, versuchen, trotz der Entscheidung des BVerfG doch noch eine gesetzliche Regelung der Situation herbeizuführen, daß ein von Terroristen gekapertes Flugzeug auf dem Weg dazu ist, ein schweres Unglück herbeizuführen, und daß nur dessen Abschuß das verhindern kann. (Er hat dabei wohl nicht nur den Angriff auf ein Bürozentrum im Auge, sondern den auf ein Atomkraftwerk).

Die juristische Brücke, oder vielleicht Krücke, die Schäuble benutzen möchte, ist der "Quasi-Verteidigungsfall", der für eine solche Situation gelten soll.

Die Brücke muß gezimmert, die Krücke unter die Achsel geklemmt werden, weil das Bundesverfassungsgericht den direkten Weg versperrt, weil es den geraden Gang untersagt hatte. Artikel 1 des Grundgesetzes, so sagt das BVerfG ganz kantianisch, verbiete es, Menschen zu opfern, um andere Menschen zu retten. Punktum.

Kantianisch ist das konsequent, ja zwingend gedacht, gewiß: "Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden", so hat es Kant rigoros in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" formuliert; und ich habe das hier schon einmal zitiert, zustimmend.



Aber mit Kants Moral ist das so eine Sache. Sie ist makellos. Indes manchmal nur, solange man sie nicht in der schmutzigen Welt anwendet.

Im Grunde formuliert sie ja nur, getreu Kants ganzem Ansatz, notwendige Voraussetzungen moralischen Handelns, so wie seine Erkenntnistheorie die Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens analysiert.

Aber wenn man von den Voraussetzungen zu den Konsequenzen fortschreitet, dann kann sie sehr Bedenkliches hervorbringen, die Kant'sche Moral. Auch wenn man wisse, daß morgen die Welt untergeht, müsse ein zum Tode Verurteilter heute noch hingerichtet werden, so ähnlich hat er es geschrieben. Makellos gedacht, konsequent gedacht, denn der Vollzug der Gerechtigkeit ergibt sich aus der Gerechtigkeit des Urteils, nicht aus den Folgen und Umständen der Realisierung.

Und das BVerfG, das mit seiner Interpretation des Paragraphen 1 GG getreulich Kant folgt, ist ähnlich konsequent. Denn es impliziert ja mit seiner Entscheidung:

Auch wenn Terroristen ein Sportflugzeug mit, sagen wir, fünf Passagieren gekapert haben, dies mit einer mitgebrachten Bombe beladen haben und nun eindeutig auf ein AKW zufliegen, dessen GAU Hunderttausenden das Leben kosten kann - auch dann ist die Regierung gesetzlich verpflichtet, die Hunderttausende zu opfern. Sie darf den Befehl nicht erteilen, die fünf zu opfern, denn sie würde damit deren Menschenwürde verletzen, sie als Mittel zum Zweck einsetzen.



Und was ist mit der Menschenwürde der Hunderttausend, die ums Leben kommen? Nun, in zynischer Interpretation der Position des BVerfG könnte man sagen: Sie verlieren ja nur ihr Leben, aber nicht ihre Menschenwürde. Jedenfalls die Regierung hat sie nicht als Mittel zum Zweck eingesetzt.



Absurd? Ja. Oder sagen wir: Ein Paradox, ein Dilemma. Denn das, worum es hier in einer aktuellen politischen Diskussion geht, ist ein Problem, das in der Philosophie seit langem diskutiert wird, das sogenannte Trolley-Problem.

In der Standard-Version, wie sie von Phillipa Foot formuliert wurde, nähert sich ein Schienenfahrzeug einer Weiche. Die Weiche ist so gestellt, daß das Fahrzeug auf fünf Menschen treffen und sie töten wird, die von einem Verbrecher an die Schienen gebunden sind.

Nun stellen Sie sich vor: Sie sind der Weichensteller und könnten die Weiche so stellen, daß der Zug auf ein anderes Gleis fährt. Dort liegt allerdings auch ein Mensch, aber nur ein einziger, der an die Schienen gefesselt ist. Stellen Sie die Weiche um?

Die meisten Menschen sagen spontan "ja".



Nun kann man das moralische Dilemma verschärfen, wie es Judith Jarvis Thomson gemacht hat: Das Fahrzeug nähert sich den Festgebundenen. Diesmal gibt es keine Weiche, aber eine Brücke, auf der ein sehr dicker Mann steht. Man könnte ihn auf die Schiene stoßen, dann würde das Fahrzeug gestoppt, und die fünf wären gerettet.

Soll man es tun? Jetzt sagen die meisten Befragten: Nein! Das ist, meint Judith Jarvis Thomson, der Unterschied zwischen "töten" und "sterben lassen".

Wenn man die Weiche umstellt, dann benutzt man keinen Menschen als Mittel zum Zweck. Wenn man den Mann auf die Geleise stößt, dann tut man es aber.



Wie das bei den Philosophen so ist - sie denken sich in einer solchen Debatte immer raffiniertere Beispiele aus. Was beispielsweise, wenn der dicke Mann auf einem Geleisstück festgebunden ist, auf das man das Schienenfahrzeug durch Umlegen der Weiche leiten könnte? Der dicke Mann stoppt es. Würde es weiterfahren, dann würde es aber auch bei dieser Weichenstellung über eine Schleife schließlich zu den Fünfen gelangen und sie töten.

Es ist eigentlich Dasselbe wie in der ursprünglichen Version von Foote - nur benutzt man jetzt, wenn man die Weiche umlegt, den dicken Mann als Mittel zum Zweck. So, wie wenn man ihn auf die Geleise stößt. Also, streng kantianisch dürfte man jetzt nichts mehr tun.



Was folgt daraus für die Gesetzgebung?

In einer zum Pragmatismus neigenden Gesellschaft wird man sagen: Wer eine solche entsetzliche Verantwortung hat, der wird das einzig Richtige tun - die Entscheidung treffen, die die meisten Menschenleben rettet. Und die Gerichte werden dann schon so vernünftig sein, ihn dafür nicht auch noch zu bestrafen. Auch wenn es dafür nicht eigens ein Gesetz gibt. Sondern man wird einen übergesetzlichen Notstand konstruieren oder dergleichen, und der Betreffende wird einen Orden bekommen statt eine Strafe.

Aber kantianisch denken, das heißt eben auch, die Gesetze bedingungslos ernstnehmen. Da ist kein Platz für pragmatisches Abwägen. Es ist ja noch nicht so lange her, daß in Deutschland ein Polizist dafür verurteilt wurde, daß er, um das Leben eines Kindes zu retten, einem Verbrecher mit Schmerzen gedroht hat. Auch wenn die Strafe mild ausfiel. Auch der hätte einen Orden und eine Beförderung verdient gehabt, nach pragmatischer Moral. Aber nicht nach kantianischer.



Also: Lebten wir in einer Rechtskultur wie der angelsächsischen, dann bräuchten wir nicht Schäubles Vorstoß.

Aber der Gedanke, daß ein Innen- oder Verteidigungsminister oder ein Kanzler, die in einer solchen furchtbaren Situation Menschenleben zu retten versuchen, dafür dann auch noch vor Gericht gestellt und verurteilt werden; mit ihnen vielleicht auch noch die Jagdpiloten, die es auf sich nehmen, das Flugzeug abzuschießen - das ist ein (mir) so unerträglicher Gedanke, daß ich für eine gesetzliche Regelung bin.

Notfalls über Brücken mit Krücken.