2. Juli 2013

Diesseits und jenseits des Tellerrandes


Mit Polemik und drastischer Sprache verhält es sich ein bisschen wie mit geschmacksintensiven Gewürzen: Je nachdem, welcher Substanz sie eine besondere Note verleihen sollen, und abhängig von den Vorlieben des Lesenden beziehungsweise Essenden wird die Beimischung einer geringeren oder einer größeren Dosis anzuraten sein.

Aber auch wem der Gusto nicht nach Vergleichen wie „so wertvoll wie ein gebrauchtes Kondom“, der Deutschen liebstem Schimpfwort oder einer Aussage mit der Botschaft „Ernährungsberatung […] ist Gewalt von Frauen gegen Frauen“ steht, findet in dem Interview, das die ZEIT mit dem Sachbuchautor Udo Pollmer geführt hat, einige durchaus beachtliche Gedanken.
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Man mag in der Tat an der wissenschaftlichen Begründbarkeit des Body-Mass-Index oder der Kampagne zum Verzehr von fünf Portionen Obst pro Tag zweifeln. Aber interessanter ist vermutlich die Frage, weshalb derartige Körpervermessungen und Diätempfehlungen in der Bevölkerung überhaupt auf Akzeptanz stoßen und wie der ganze Ernährungswahn zu einem Dauerbrenner der Ratgeberliteratur werden konnte. Warum essen wir nicht einfach ohne jeden Gewissensbiss das, wonach sich unser Gaumen sehnt?

Pollmer argwöhnt, dass die Verteufelung derjenigen Speisen, die den meisten Menschen schmecken, „mit unserer protestantischen Vergangenheit“ zusammenhänge. Adressaten der Panikmache seien die Frauen. Und in der Familie, so wird man ergänzen müssen, werden sie dann auch häufig zu Multiplikatoren der lebensreformerischen Zumutungen.
 

Dieser Befund klingt auf den ersten Blick plausibel: Dass „[g]rüne Ideologie und protestantische Verzichts-Ethik“ (Maxeiner/Miersch) eine unheilige Allianz eingegangen sind, ist bekannt. Dass Frauen dem Wahn des gesunden Essens in größerer Zahl verfallen als Männer, lässt sich durch Gespräche und Erfahrungen im Bekanntenkreis empirisch untermauern. Aber macht man es sich mit dieser Erklärung nicht zu einfach?



Meines Erachtens ist auch hier der vom Blog-Kollegen Andreas Döding extrapolierte „Mensch-Natur-Dualismus als zentrales Dogma der grünen Religion“ von erheblicher Bedeutung: Demnach weiß der unbehaglich in der Kultur darbende Mensch nicht mehr, welche Nahrung ihm wirklich frommt. Sein von „künstlichen“ Lebensmitteln verdorbener Appetit ist somit kein verlässlicher Indikator für die Bedürfnisse des Körpers, im Gegenteil: Unser insoweit falsch konditioniertes Lustgefühl rät uns zu Viktualien, die unserer Konstitution schaden; um diesem Sirenengesang nicht anheimzufallen, müssen wir uns zum Biss in den sauren Apfel zwingen.

Exemplifizieren lässt sich diese These an der Behandlung, die der Ketchup in der veröffentlichten Meinung erfahren hat: Vermutlich ist die dickflüssige Sauce diejenige Darreichungsform der Tomate, welche die meisten Menschen goutieren. Da der Ketchup gedanklich mit der Schnellgastronomie und so fettreichen Speisen wie den Pommes Frites assoziiert ist, geriet er unter ernährungsphysiologischen Verdacht. Plakativ formuliert: Was in (amerikanischstämmigen) Fast-Food-Tempeln als Dip verabreicht wird, kann nicht gesund sein. Vor einigen Jahren wurde der Ketchup dann völlig unerwartet rehabilitiert: Ein „wahrer Jungbrunnen“ sei er und ein Schutz vor diversen Krankheiten.

Der unbefangene Betrachter mag schon vor dieser bahnbrechenden Erkenntnis daran gezweifelt haben, dass Ketchup dem Leib so viel weniger zuträglich sein sollte als rohe Tomaten. Doch den Speisegesetzen einer Religion ist nicht immer mit Alltagslogik beizukommen.
Noricus


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