Es hat sich eingebürgert, die Fangemeinde des Fußballs, die absoluten Verfechter einer grünen Ideologie, die Kunstverehrer in der Warteschlange vor Museen und Ausstellungshallen, die Erotomanen ebenso wie die auf ein ‚Tierkadaver‘-Essen Verzichtenden, die Wissenschaftsgläubigen so wie die Esoteriker und die Sternbildgläubigen wie die Menschenrechtskämpfer als Vertreter einer „Ersatz-Religion“ zu bezeichnen.
Gemeint ist offensichtlich, dass sie in Wahrheit keine wirkliche Religion besäßen, keinen echten Kaffee, sondern einen „Lindes ja der schmeckt“ (an den sich die Generation des Weltkriegs noch erinnern wird).
Der Anschein, der Begriff sei zutreffend, beruht auf der Unterscheidung zwischen Glaubensakt und Ziel. Nicht die Zuwendungskraft und Leidenschaft zur Sinngebung, nur das angestrebte Ziel der Verehrung, das Heilsversprechen, wird ein Surrogat genannt.
Die Bezeichnung „Ersatzreligion“ erscheint aus mehreren Gründen 1) politisch unkorrekt und diskriminierend, 2) inhaltlich gesehen als religionswissenschaftlich überholt und 3) vom christlich-theologischen Standpunkt her als inkonsequent und daher falsch. Warum?
Zu 1: Sie ist ein abwertendes Urteil aus dem Geist einer exklusiv verbreiteten „Hochreligion“, die inzwischen aber nicht mehr die Mehrheit erreicht und überzeugt. Sie passt nicht mehr im postchristlichen Westen. Unter den von den Kirchen enttäuschten Abständigen und neuen Heiden sind viele Suchende, die gegenüber den Kirchen etwas ihrer Lebenswelt näheres Gutes, Lebendigeres, Ergreifenderes begehren und verehren ( Auch viele Sonntagschristen haben im Alltag eine solche diffuse Zweitreligion). Diese Suche „Ersatzreligion“ zu nennen klingt aber nach einer Verurteilung als Qualitätsabfall oder Selbsttäuschung.
Zu 2: Religionswissenschaftlich scheint zu einer Religion ein Gottesbegriff nicht notwendig zu gehören. Und erst recht nicht gilt die Vorstellung eines persönlichen Gottes als Bedingung. Denn der echte Buddhismus kennt überhaupt kein Göttliches, sondern nur die Befreiung des Menschen vom Leid und doch wird er von allen unter die großen Weltreligionen gerechnet. Die modische katholische wissenschaftliche Theorie des Religionspluralismus definiert deshalb die für den Begriff „Religion“ zu erfüllende Bedingung „ an ein Transzendentes glauben“ so vage, dass die Vokabel „Gott“ vermieden bleibt, – sonst müsste ihr der Buddhismus aus der Gattung „Religion“ herausfallen.
Zu 3: Von der aufgeklärt-christlichen Sicht her sind die Anbeter von Sonne und Mond nicht grundsätzlich den Fußballbezauberten vorzuziehen. Die völkerverbindende Weltreligion „Gott ist rund“ bietet den Fans in der Arena ein Fest bis zur Ekstase. Man kann nicht sagen: Aber die ist doch nur weltimmanent, das Wahre aber jenseitig. Das Stück Welt, das ich anbete, ist mein Fetisch, sei es ein Holzstück oder das gestirnte Himmelszelt. Schon die alten Griechen haben gewusst und definiert, dass die „Götter“, alle, auch die großen, innerhalb des Welthorizontes bleiben: Die Olympier wohnen auf einem irdischen Gebirge, vor allem aber, auch die Götter sind im Kreis der Anánke, der ehernen Notwendigkeit, eingeschlossen.
Die humanistischen Schullehrer, die von den Griechen schwärmten, haben in Wahrheit unter Berufung auf die klassischen Dichter und Philosophen des deutschen Idealismus der alten Religion eine Schein-Transzendenz zugesprochen. Diese Welt erschien ihnen bunter und ethisch freier als die Dogmenstarre der Kirchen. Die ehebrechenden und zänkischen Götter waren aber eher schlechtere Vorbilder als die Werte heutiger ‚Ersatzreligionen‘: Sport, Gesundheit, Einklang mit der Natur, Menschenrechte…
Könnte eine mit der Aufklärung verbundene Theologie nicht sagen: Zur „Religion“ dürfen wir alles zählen, was Menschen ganz erfasst und bewegt, frei und froh macht, was sie motiviert und trägt, wofür sie ihre guten Kräfte und ihre Zeit opfern? Ausschließen müssten wir nur die Anbetung der Gewalt und die Unmenschlichkeit. Für unwürdige Religionen und deren Götter gibt es einen klaren Begriff: Da wird ein Götze, ein Abgott angebetet.
Es ist doch bemerkenswert: In der Antike nannte man die Juden und die Christen ‚Atheisten‘.
Das Christentum sollte sich mit einem eigenen Begriff definieren. „Im Christentum ist Aufklärung Religion geworden und nicht mehr ihr Gegenspieler“, sagte Joseph Ratzinger 1999 in Paris.
Die neue Enzyklika „Lumen fidei“ erinnert daran, dass schon Diaspora-Juden in Alexandrien, als sie die Bibel in das Griechische übersetzten, den hebräischen Satz des Propheten Jesaja zur Not der belagerten Stadt „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“ neu übersetzt hatten für die hellenistische Kulturwelt: „Glaubt ihr nicht, so versteht ihr nicht.“ Der Papst erklärt, Glaube bedeute mit Gottes Augen auf die Welt zu blicken, die Lage durchschauen und entsprechend handeln zu können. Der Glaube wohne also nicht im Dunkel, sondern sei ein Licht für unsere Finsternis und die wahre Vernunft.
Es könnte daher Immanuel Kants Werk „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ durchaus, neben Bibel und Katechismus gelesen, eine gute Hilfe zur Selbst-Religionskritik innerhalb der Christenheit sein (Zum Einstieg genügt es, seine Allgemeine Anmerkung am Schluss der Schrift über ein wahnhaftes und über das rechte Beten zu lesen).
Besonders erhellend ist aber, wie der jüdische Philosoph Franz Rosenzweig die Sache zusammenfasste: „Gott hat eben nicht die Religion, sondern die Welt geschaffen. Und wenn er sich offenbart, bleibt doch die Welt rings herum stehen, ja ist nachher erst recht geschaffen. Die Offenbarung zerstört ja das echte Heidentum, das Heidentum der Schöpfung, mitnichten. (…) Die Sonderstellung von Judentum und Christentum besteht gerade darin, dass sie, sogar wenn sie Religion geworden sind, in sich selber die Antriebe finden, sich von dieser ihrer Religionshaftigkeit zu befreien und aus der Spezialität und ihren Ummauerungen wieder in das offene Feld der Wirklichkeit zurückzufinden.“
Die Folgerung ist: Wir müssen Judentum und Christentum als unreligiösen Aufklärungs-Theismus von den Religionen unterscheiden. Mitgemeint ist damit eine Reform, ein Wieder-authentisch-Werden des Christentums. Zugleich würden wir uns den Vorteil einhandeln, jeden anderen Glauben, auch den sozialistischen und den grünen, nicht mehr als Ersatz-Religion herabwürdigen und unter das Niveau des griechischen oder römischen Polytheismus stellen zu müssen.
(Das Rosenzweig-Zitat ist an drei Orten zu finden: Kleinere Schriften, Berlin 1937, 389; Die Schrift, Königstein 1984, 202-203 und natürlich in der großen Ausgabe „Gesammelte Schriften“ III, 152.)
© Ludwig Weimer. Für Kommentare bitte hier klicken.