28. Juli 2013

Anmerkungen zum Fall Gustl Mollath


Groß ist die Aufregung, nachdem das Landgericht Regensburg die Wiederaufnahme des Verfahrens im Fall Gustl Mollath abgelehnt hat, weil die erkennbaren Verfahrensfehler der Vorinstanzen nicht von hinreichender Schwere gewesen seien. Hier finden Sie eine grobe Chronologie des Falles. Die Unterstützer Mollaths, allen voran die Süddeutsche Zeitung, sehen hierin einen veritablen Justizskandal, und nachdem sich große Teile der bayerischen Politik im gegenwärtigen Wahlkampf ebenfalls auf die Seite der Unterstützer geschlagen haben, stehen die Justiz und die behandelnde Ärzteschaft ziemlich isoliert da. 
Viele gängige Klischees über Psychiatrie werden da bemüht. Die zwangssedierende, womöglich mit "Elektroschocks" gegen den Willen der Patienten vorgehende "Verwahrpsychiatrie" im Dienste einer vertuschenden Justiz usw. Einer flog über das Kuckucksnest reloaded, wenn man so sagen darf; auch Assoziationen zur unrühmlichen Rolle der Psychiatrie in den beiden deutschen Diktaturen werden erzeugt. Dabei scheinen viele Menschen, die, ebenso wie ich, lediglich auf die in den Medien verfügbaren Informationen zugreifen können, getragen von einer Sicherheit in der Beurteilung dieses Falles zu sein, über die ich nur staunen kann: Experten allerorten. 
Ich dagegen gebe unumwunden zu: Ich weiß nicht, ob Mollath eine Wahnerkrankung hatte oder hat, und ich habe festgestellt, daß unabhängige Informationen zum Thema kaum recherchierbar sind. Dennoch möchte ich ein paar Anmerkungen zu dem Fall machen mit der Idee, mich eines abschließenden Urteils zumindest halbwegs zu enthalten.
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Beginnen möchte ich mit einem kurzen Exkurs zum Thema Wahnhafte Störung. Dies ist bekanntlich die Diagnose, wegen der Mollath seit 2006 im Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Abteilung Forensische Psychiatrie, untergebracht ist.
Unter einem Wahn wird gemeinhin eine krankhafte Überzeugung verstanden. Diese ist subjektiv gewiß und nicht widerlegbar. Eine Wahnerkrankung beginnt häufig mit dem subjektiven Empfinden des Betroffenen, daß sich in der Umwelt etwas verändert hat; etwas ist "im Busche"; dieses Erleben kann aber oft nicht näher beschrieben werden. Diese Phase nennt man Wahnstimmung oder Wahnspannung. Den Wahneinfall, der diese Phase beendet, kann man sich wie ein Aha-Erlebnis vorstellen. Plötzlich hat die Veränderung einen Namen, man "weiß bescheid". In der Folgezeit wird die Wahrnehmung der Umwelt zunehmend auf das Wahnthema (die häufigsten Wahnthemen sind: Verfolgung, Beeinträchtigung und religiöse Inhalte) ausgerichtet, man spricht von Wahnwahrnehmungen, d. h. real Erlebtes wird mit dem Wahn "kompatibel" gemacht. Wahnerinnerungen beinhalten die nachträgliche Umdeutung früher Erlebtes im Sinne des Wahns (z. B. "schon meine Lateinlehrerin, damals, hat mich warnen wollen"). Wahnwahrnehmungen und -erinnerungen werden zunehmend zu einem komplexen System aus Ursache-Wirkungszusammenhängen zusammengesetzt, "Stein für Stein" wird ein komplexes Wahngebäude errichtet. Man weiß, wer alles "dazugehört" und wo "sichere Orte" sind usw. Man spricht jetzt von einem Systematisierten Wahn. 
Gustl Mollath soll also an einer solchen Wahnhaften Störung leiden. Das bedeutet, daß er ansonsten keine weiteren Symptome aufweist (wie etwa bei schizophren Erkrankten die oft vorhandene Wahnsymptomatik eingebettet ist in ein breites Symptombild aus formalen Denkstörungen, Ich-Störungen, katatonen Symptomen usw.

Eine erhöhte Gewaltneigung wird bei Wahnkranken selten beobachtet; das Risiko ist gegenüber Gesunden kaum erhöht; sie kommt aber durchaus vor. Meist handelt es sich dann um eine Art "Defensivaggression" aus dem Erleben des Bedrohtseins heraus. Bei der Ermordung der schwedischen Außenministerin Anna Lindh im Jahre 2003 durch den als schizophren vordiagnostizierten Mijailo Mijailovic mag dergleichen eine Rolle gespielt haben.

Wahnhafte Störungen sind selten; Schätzungen zur Prävalenz (Vorkommenshäufigkeit) pendeln sich bei 0,1% der Bevölkerung ein (zum Vergleich Schizophrenie: 1%; Major Depression: um 8%). Sie sind außerdem schwierig zu diagnostizieren. Bei den mir beruflich bekannt gewordenen Fällen Wahnkranker brauchte es in jedem Fall mehrere längere Gespräche. Der Wahn tritt dann typischerweise um so deutlicher hervor, je länger das Gespräch dauert, und je mehr man den Patienten frei reden läßt.

Dies alles ist überhaupt nicht kompatibel mit der Tatsache, daß die ursprüngliche Unterbringung 2006 gutachterlich "nach Aktenlage" entschieden worden ist. Dieses Vorgehen halte ich für unglücklich, wenngleich es üblich ist und kein besonderer Vorgang im Falle Mollath. Nicht lege artis also, aber legal. Der Grund für die Aktenlageentscheidung lag jedoch ausschließlich in der damaligen Weigerung Mollaths, mit dem betreffenden Gutachter auch nur zu sprechen.

Mollath verweigert also seit ehedem die Zusammenarbeit mit Gutachtern, die die Notwendigkeit einer Fortsetzung der Unterbringung untersuchen sollen, so daß man inzwischen buchstäblich auf eine Beurteilung nach "Aktenlage" und Fremdbeurteilung angewiesen ist. Eine, ausgehend von der Annahme der psychischen Gesundheit Mollaths, psychologisch mögliche, aber nicht sehr wahrscheinliche Haltung; selbst wenn man das tiefe Mißtrauen gegen psychiatrische Gutachter aufgrund der Erfahrungen 2006 berücksichtigt. Schließlich hat Mollath durch eine Begutachtung nicht viel zu verlieren, aber alles zu gewinnen. 

Umgekehrt, ausgehend von einer fortdauernden Wahnerkrankung Mollaths, ist die Verweigerung der Kooperation folgerichtig und wahrscheinlich, da er die untersuchenden Ärzte als Teil des "Komplotts" begriffe, das ihn mundtot machen wolle, und mit dem die Aufdeckung eines gigantisch dimensionierten Steuerbetrugsskandals verhindert werden solle (wenngleich die Weigerung Mollaths natürlich nicht beweisend für eine solche Erkrankung ist).

Die "Pro-Mollath-Aktivisten" betonen stets, daß er von den Vorwürfen, seine damalige Frau verletzt, sie ihrer Freiheit beraubt und und bis zur Bewußtlosigkeit gewürgt, sowie 129 Autoreifen Reifen perforiert zu haben, von denen einer auf einer Autobahn geplatzt war, freigesprochen worden, also unschuldig sei. Das ist insofern nicht vollständig dargestellt, als er für nicht schuldfähig erklärt und deshalb freigesprochen worden ist, eben vor dem Hintergrund der diagnostizierten Wahnerkrankung. Hier kann das ursprüngliche Urteil eingesehen werden. Das Gericht war auf Basis der Beweislast durchaus der Überzeugung, daß Mollath diese Taten begangen hatte, was tatsächlich als schwer fremdgefährdendes Verhalten eingestuft werden muß und das eine Zwangsunterbringung, sofern die Fremdgefährdung krankheitsbedingte Ursachen hatte, durchaus rechtfertigt. Anders gesagt: War Mollath damals nicht wahnkrank, muß man ihm zum damaligen Zeitpunkt schwerste kriminelle Energie mit der Bereitschaft zur fahrlässigen oder gar vorsätzlichen Tötung konstatieren. 

Ein zentraler Punkt des angeblichen oder tatsächlichen Justizskandals liegt in der Tatsache begründet, daß sich einige der damals von Mollath geäußerten und zur Anzeige gebrachten Vorwürfe gegen seine Frau, weitere Mitarbeiter und 24 Kunden der HypoVereinsbank,  als im Nachhinein "teilweise zutreffend" herausgestellt haben. Dabei ging es bekanntlich um Steuerhinterziehung. Die Ermittlungen waren damals, nach der Strafanzeige durch Mollath, mit der Begründung nicht aufgenommen worden, daß die Angaben zu vage und unkonkret gewesen seien. 

Was also hat sich "teilweise bestätigt"?

Bereits seit Ende November 2002 hatte Mollath fortgesetzt Briefe an die Nürnberger Niederlassung der HypoVereinbank (sowie an Kofi Annan und Horst Köhler) geschickt, in denen er u. a. vom "größten und wahnsinnigsten Steuerhinterziehungsskandal" gesprochen hatte. Dies rief schließlich die Innenrevision der Bank auf den Plan. In einem Sonderrevisionsbericht vom Januar 2003 werden die Prüfergebnisse detailliert dargestellt. Der Bericht ist hier einzusehen. Mehreren Mitarbeitern der Bank, u. a. Frau Mollath, konnten hier Verstöße gegen interne Regeln der Bank nachgewiesen werden: Kunden wurden von der Hypovereinbank zugunsten einer Schweizer Bank abgeworben. Hierfür kassierten die Mitarbeiter Provisionen. Unschön und zweifellos ein Kündigungsgrund, aber wohl nicht illegal. Dabei wurden natürlich auch die Kundendepots in die Schweiz transferiert. Ob diese zuvor versteuert worden waren, geht aus dem Bericht nicht hervor. Die Beträge, um die es in den meisten Fällen ging, bewegten sich im Bereich einiger zehntausend DM; die Provisionen betrugen einige hundert bis wenige tausend DM/Euro. Von einem "größten und wahnsinnigsten Skandal" kann hier jedenfalls keine Rede sein. 
Ein pikantes Detail im Bericht:
Die Kontoführung ist bis zum Zeitpunkt der Trennung von ihrem Mann als angespannt zu bezeichnen. [...] diese Gelder wurden anschließend auf den Konten eingezahlt, um Linienüberschreitungen zu verhindern bzw. auszugleichen. [...] Herr Mollath, der einen Handel mit Autoersatzteilen betreibt, war bisher auf die finanzielle Unterstützung durch seine Frau angewiesen (u. a. HVB-Darlehen über ca. 82 TEUR).
Wenn man das recht versteht, dann hat also Frau Mollath halbseidene (aber juristisch nicht strafbewehrte) Geschäftspraktiken zum Nachteil ihres Arbeitgebers gepflegt, um nicht zuletzt ihren Mann wirtschaftlich über Wasser zu halten, der dies wiederum an ihren Arbeitgeber gemeldet hat, woraufhin Frau Mollath ihren Job verloren hat (und Herr Mollath seine Frau). 

Ein Punkt, der zu dem sehr einheitlichen öffentlichen Stimmungsbild zugunsten Mollaths beitragen mag, sind die einseitigen Informationsquellen. Auf Basis der Presse- und Meinungsfreiheit kann natürlich jeder Journalist und jede Privatperson alles zum Thema an Spekulationen, Vermutungen und (Halb)wahrheiten als Tatsachen veröffentlichen  wie er will. Wohingegen die beteiligten Behörden und Ärzte durch Datenschutzregelungen und die Schweigepflicht weitestgehend daran gehindert sind. Ein zentrales Merkmal eines demokratischen Rechtsstaates übrigens, das aber auf seiten, auch des kritischen und unvoreingenommenen Publikums, zum sozialpsychologischen Phänomen der Verfügbarkeitsheuristik oder auch zu einem confirmation bias führen kann: häufig und wiederholt Gehörtes wird als wahrscheinlicher und "wahr" interpretiert, weil hiervon abweichende Information kaum verfügbar ist, bzw. es werden selektiv die eigenen Annahmen bestätigende Informationen wahrgenommen.

Abschließend möchte ich mich der Wahrscheinlichkeit, daß es sich hier insgesamt um einen groß angelegten Justiz- und Vertuschungsskandal handelt, widmen. Man muß konstatieren, daß der Justizskandal und das Ausmaß der Vertuschung gigantisch wären, sollten alle Vorwürfe zutreffen. Ausgeschlossen ist das freilich nicht, aber es erscheint auch nicht sehr wahrscheinlich. An einem solchen Komplott müßten aufgrund der meist hohen Personalfluktuation in Psychiatrien mehrere "Generationen" von Fach- und Assistenzärzten, Pfleger, Therapeuten, Mitarbeiter des Sozialdienstes, Oberärzte und der Chefarzt beteiligt sein. Wohlgemerkt, zusätzlich zur ebenfalls vertuschenden Justiz! 

Die fachpsychiatrische Begutachtung eines stationär untergebrachten Patienten erfolgt kontinuierlich und unter einem Mehraugenprinzip bei strenger Dokumentationspflicht. In sieben Jahren haben die behandelnden Ärzte den Patienten Mollath selbstverständlich gründlich kennengelernt (auch wenn dieser sich jeglicher Kooperation hartnäckig verweigert), und diese Informationen und Einschätzungen gehen in die jährliche, richterlich angeordnete und gesetzlich vorgeschriebene Begutachtung als Informationsquelle ein. Es erscheint nicht unbedingt wahrscheinlich, daß ein psychisch komplett Gesunder sieben Jahre lang in einer Psychiatrie verbleibt, ohne daß die behandelnden Ärzte dagegen irgendwann auf die Barrikaden gegangen wären, selbst wenn der Chefarzt Teil eines solchen Komplotts wäre.

Umgekehrt ist es nun mal die gesetzlich vorgesehene Aufgabe der Gutachter, sicherzustellen, daß Mollath nicht oder nicht mehr unter einem paranoiden Wahnsystem leidet, das ihn möglicherweise schon einmal zu schwer fremdgefährdenden, gewalttätigen Verhalten verleitet hat. Die Fremdgefährdung ist das entscheidende; ansonsten darf in Deutschland nämlich jeder seinen Wahn in Freiheit pflegen wie er will. Es ist Aufgabe der Gutachter, sicherzustellen, daß Mollath nicht seit einem knappen Jahrzehnt Rachepläne schmiedet und diese nach seiner Entlassung gewaltsam in  die Tat umsetzt; und diese Sicherstellung ist eben kaum möglich, wenn der Patient jegliche Kooperation verweigert. Hier sei an die öffentlich-medialen Reaktionen erinnert, die jedesmal aufbranden, sobald ein psychisch kranker Straftäter auf Freigängen "rückfällig" wird.

In einer Stellungnahme geht das Bezirkskrankenhaus Bayreuth, in dem Mollath seit 2006 untergebracht ist, unter Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht, auf die gegen die behandelnden Ärzte und das Krankenhaus erhobenen, z. T. absurd anmutenden, Vorwürfe ein.
Bewiesen ist freilich weder das eine noch das andere; vielleicht ist Mollath Opfer eines Justizskandals und Komplotts gegen seine Person. Sehr wahrscheinlich erscheint dies auf Basis der vorliegenden Informationen aber nicht. 
Im anderen denkbaren Fall hätte sich wohl manch unkritisch-fanatischer Unterstützer Mollaths gleichsam in sein paranoides Wahnsystem hineinziehen lassen, im Sinne einer kollektiv erweiterten Folie à deux.


Andreas Döding


© Andreas Döding. Mit Dank an den Mitbewohner Hausmann in "Zettels kleinem Zimmer", für die Anregung zu diesem Artikel. Für Kommentare bitte hier klicken.