5. März 2012

Zitat des Tages: "Ich kann dieses faschistische Regime nicht mehr ertragen". Putins Triumph, Putins Gegner. Erinnerung an den Arabischen Frühling

Today nothing will be decided. (...) I have never participated in a protest, but tomorrow I will go out because I can no longer tolerate this fascist regime.

(Heute wird noch nichts entschieden. (...) Ich habe nie an einem Protest teilgenommen, aber morgen gehe ich hin, denn ich kann dieses faschistische Regime nicht mehr ertragen.)
Sergej N. Tanikow, Oberstleutnant im Ruhestand des KGB, am gestrigen Wahlsonntag vor einem Moskauer Wahllokal zu einem Reporter der New York Times (NYT).

Kommentar: Ist diese Stimme repräsentativ für die Opposition, über deren heutige Demonstrationen unsere Medien berichten werden? Vermutlich nicht; aber es ist auch eine Stimme dieser Opposition. Tanikow sagte dem Reporter der NYT, daß er den kommunistischen Kandidaten Sjuganow wählen werde. Das ist nicht unbedingt die Opposition, wie wir sie uns im Westen vorstellen.

Putin wird vermutlich zwischen 63 und 65 Prozent der Stimmen erreichen. Nach der Auszählung von 80 Prozent sind es laut NYT 64,7 Prozent. Die Daten, die man bei dem staatlichen russischen Sender Russia Today findet, geben ihm im Augenblick (keine Angaben über Prozent der ausgezählten Stimmen) 63,9 Prozent.

Das entspricht sehr gut den letzten Umfragewerten, die Sie in meinem Vorausbericht vom Freitag lesen konnten. Sie waren damit etwas besser informiert als beispielsweise die Leser der FAZ, die noch am Samstag titelte: "Wahlen in Russland - Sieg Putins im ersten Wahlgang der Präsidentenwahl nicht sicher".

Er war sicher und nie gefährdet, der Sieg Putins. Warum kam der Moskauer Korrespondent der FAZ, Michael Ludwig, zu einer anderen Beurteilung? Weil er sich u.a. auf eine "Meinungsumfragen im Auftrag der Oppositionsbewegung 'Solidarnost'" stützte. Und damit bin ich bei einem Thema, zu dem ich einige Anmerkungen machen möchte.



Liest man die Kommentare des gestrigen Abends, dann könnte man meinen, Putin sei eigentlich gar nicht der triumphale Sieger, sondern der Verlierer dieses Wahltags. "Präsident Wladimir Putin — Wenn ein Sieg kein Sieg ist" lautet der gegenwärtige Aufmacher von "Süddeutsche.de". Selbst der sonst so analytisch-klare Michael Stürmer bläst in "Welt-Online" in dasselbe Horn:
Diese Wahl kann, auch wenn Putin sich selbst im Kreml nachfolgt, tatsächlich den Anfang vom Ende des Systems Putin bedeuten. Denn dessen Funktion hat sich überlebt. (...)

Putin weiß, er darf die Jungen, die Weltoffenen, die Sprachkundigen nicht verlieren.

Zugleich ist mit seiner Partei Geeintes Russland kein Staat zu machen. Sie hat allen Kredit verspielt und gehört ausgewechselt. Dann aber stellt sich für ihn die Systemfrage.
Und der Moskauer Korrespondent des gedruckten "Spiegel", Matthias Schepp, macht eine kuriose Rechnung auf, die "Putins Mehrheit" bei den Rentnern, den Angehörigen des Öffentlichen Dienstes, dem Militär und den Angestellten der Rüstungsindustrie sieht: "Zusammen macht das rund 60 Millionen Menschen. Das sind mehr als 56 Prozent der insgesamt 108 Millionen Wahlberechtigten. Das ist Putins Mehrheit".

Und die anderen? Schepp:
Putins Mehrheit ist eine quantitative, aber keine qualitative. (...) Richtig ist ..., dass für das von Putin geforderte Wachstum von mehr als sechs Prozent (statt 4,3 Prozent wie im vergangenen Jahr) genau die junge Elite gut ausgebildeter Spezialisten nötig ist, die den Kern der Moskauer Proteste bildet. Doch genau die hat Putin mit einem schmutzigen und diffamierenden Wahlkampf verprellt. Putin hat eine Mehrheit - aber eine falsche.
Und die richtige Mehrheit, diejenige der Nichtwähler Putins, die allerdings "quantitativ" eine Minderheit ist - wen hat sie gewählt?

Laut Russia Today erhielten nach dem derzeitigen Stand der Auszählung der Kommunist Sjuganow 17,3 Prozent, der Ultranationalist Wladimir Schirinowski 6,2 Prozent und der Führer der in Putins Auftrag gegründeten "Oppositionspartei" mit dem Namen "Gerechtes Rußland", Sergej Mironow, 3,8 Prozent.

Sind das etwa die Kandidaten, die von der "jungen Elite der gut ausgebildeten Spezialisten" gewählt wurden? Wohl kaum. Es sind Leute, die entweder Putin treu ergeben sind wie Mironow oder die, wie die Kommunisten und Schirinowski, von Demokratie ein Verständnis haben, gegen das Putin in der Tat als "lupenreiner Demokrat" erscheinen mag.

Kandidaten der demokratischen Opposition wurden überhaupt nicht zur Wahl zugelassen. Der einzige Kandidat, der vielleicht zu ihr eine gewisse Nähe hat, war der Milliardär Michael Prochorow, einer der reichsten Männer der Welt. Er liegt in der Auszählung derzeit bei 7,7 Prozent.



92,3 Prozent der Wähler haben also - jetziger Stand - gestern für Putin, einen Putin-Getreuen oder einen Extremisten gestimmt. Eine breite Demokratiebewegung stellt man sich anders vor. Selbst dann, wenn man in Rechnung stellt, daß es Anzeichen für Wahlbetrug gibt (siehe Kommunisten werfen dem Wahlsieger Putin Wahlbetrug vor; ZR vom 4. 3. 2011).

Wenn jetzt Moskauer Korrespondenten und deutsche Kommentatoren ihr Augenmerk auf "die Jungen, die Weltoffenen, die Sprachkundigen" richten, dann machen sie denselben Fehler wie die Kommentatoren und Reporter, die vor einem Jahr im "Arabischen Frühling" ihre Blütenträume von Demokratien in Arabien reifen sahen (siehe "Westliches Wunschdenken". George Friedman über Hoffnung und Realität im Arabischen Frühling; ZR vom 17. 8. 2011).

Damals konnte man als deutscher Medienkonsument glauben, auf Mubarak werde in Ägypten der liberale ElBaradei folgen; heute spielt er keine politische Rolle mehr. Damals hatten deutsche Juristen die naive Vorstellung, im Libyen nach Gaddafi werde es keine Islamisierung des Justizwesens geben (siehe Scharia im neuen Libyen; ZR vom 2. 9. 2011). Daß an die Stelle der alten Autokraten durchweg Islamisten treten würden, haben nur wenige Journalisten damals erwartet.

Woher rührte diese Verkennung der Realität? Wunschdenken mag im Spiel sein; das Schema "Entweder Dikatur oder Demokratie" spielt vielleicht eine Rolle. Ein wichtiger Faktor ist auch, mit wem die Journalisten vor Ort Kontakt haben: Es sind oft vorwiegend Oppositionelle; Menschen, die sich an westlichen Werten orientieren, die gut Englisch sprechen, die an Kontakten mit Journalisten aus dem Ausland ein eigenes Interesse haben.

So kommt es leicht zu Fehleinschätzungen. Die Sicht dieser Kontaktpersonen wird überschätzt. Ebenso, wie man nicht hinreichend berücksichtigt, daß jetzt in Rußland einige zehntausend, vielleicht einige hunderttausend Demonstranten in einem Land mit 143 Millionen Einwohnern nicht repräsentativ für das sind, was die Bevölkerung denkt.



Putin sitzt jetzt fester im Sattel denn je. Kein Mann an der Spitze Rußlands seit Leonid Illjitsch Breschnew hat so unumschränkte Macht gehabt wie er seit gestern. Er braucht die Opposition in der Duma nicht zu fürchten; ja sie kaum zu berücksichtigen. Er braucht die Demonstranten auf der Straße nicht zu fürchten, von denen er sagt, sie seien "eine sehr gute Erfahrung für Rußland" (siehe Putin, der ewige Präsident. Wie er wurde, was er ist; ZR vom 3. 3. 2011).

Putin hat mit dieser Machtfülle jetzt freie Gestaltungs­möglichkeiten; innen- wie außenpolitisch.

Außenpolitisch wird er seinen Plan einer Eurasischen Föderation, einer Wiederherstellung der Sowjetunion in anderer Form, vorantreiben (siehe "Putin plant eine Art neue Sowjetunion". Jetzt hat es auch die SZ gemerkt; ZR vom 13. 10. 2011).

In der Innenpolitik hat er jetzt die Möglichkeit, das "System Putin", wie es Michael Stürmer nennt, nicht abzuschaffen, sondern auszugestalten. Dabei wird er sicherlich auch auf die technisch-wissenschaftliche Intelligenz, auf die jungen Geschäftsleute und Medienschaffenden Rücksicht nehmen. Mit dem Ziel, sie in dieses System einzubinden, nicht es ihretwegen zu opfern. Die Kandidatur von Michael Prochorow, von der es heißt, sie sei mit ausdrücklicher Billigung des Kreml erfolgt, mag ein Schritt in diese Richtung gewesen sein.

Gewiß steht Putin vor Herausforderungen - ökonomischen, politischen, auch der demographischen Herausforderung. In der Außenwahrnehmung erscheint Rußland deshalb leicht als schwach. Stratfor hat das vor vier Wochen ausgezeichnet analysiert. Das Fazit:
Putin is quite likely to resolve Russia's political problems, though he will have to restructure his inner circle and account for groups that are not under his control (but do not seriously threaten his power).

However, the longer it takes Putin to do all this, the weaker the rest of the world will believe he is. Of course, perception is not necessarily reality, and this is particularly true of Russia -- as Winston Churchill famously said, "I cannot forecast you the action of Russia. It is a riddle wrapped in a mystery inside an enigma." Russia is still a relatively powerful country, and its perceived weakness will not keep it from continuing to act assertively as it reclaims its place as a strong and steady country overseeing its former Soviet sphere.

Putin wird sehr wahrscheinlich die politischen Probleme Rußlands lösen; allerdings wird er dazu seinen engeren Kreis neu strukturieren müssen, um Gruppen einzubeziehen, die nicht unter seiner Kontrolle sind (seine Macht aber nicht ernsthaft bedrohen).

Je länger allerdings Putin braucht, um das alles hinzubekommen, als umso schwächer wird er der übrigen Welt erscheinen. Natürlich ist Wahrnehmung nicht notwendigerweise Realität - und wie Winston Churchills berühmtes Wort lautet: "Ich kann Ihnen das Handeln Rußlands nicht vorhersagen. Es ist ein Rätsel, eingewickelt in ein Geheimnis innerhalb eines Mysteriums". Rußland ist noch immer ein Land mit relativ großer Macht; und wenn man es auch als schwach wahrnimmt, wird es das nicht daran hindern, weiter entschlossen seinen Platz als ein starkes und stabiles Land zu zurückzufordern, das in seiner früheren sowjetischen Sphäre das Sagen hat.
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Zettel



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