Eine Konzentration der Macht bei einem inter-gouvernementalen Ausschuss der Regierungschefs, die ihre Vereinbarungen den nationalen Parlamenten aufs Auge drücken, ist der falsche Weg. Ein demokratisches Europa, das keineswegs die Gestalt eines europäischen Bundesstaates annehmen muss, muss anders aussehen.
Dieses Projekt verlangt nicht nur institutionelle Phantasie. Die überfällige Kontroverse über Notwendigkeit und Nutzen eines solchen Projekts muss in der breiten Öffentlichkeit ausgetragen werden.
Kommentar: Ich stimme Habermas zu. Wenn die jetzige Krise Europas etwas Positives haben kann, dann dies: Daß endlich die seit Jahrzehnten nicht geführte Debatte darüber einsetzt, was für ein Europa wir eigentlich wollen.
Diese Debatte blieb uns bisher verwehrt. Aus dem Europa der Sechs wurde gewissermaßen naturwüchsig die heutige EU (siehe Europas Krise (1): Zerfällt Europa?; ZR vom 3. 11. 2011).
Ein einziges Mal hat es Ansätze zu einer breiten Diskussion gegeben. Das war Anfang und Mitte des vergangenen Jahrzehnts.
2002 war unter der Leitung des früheren französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing der Europäische Verfassungskonvent zusammengetreten, der den Entwurf für einen Europäischen Verfassungsvertrag erarbeitete. Dieser wurde am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet.
Er bedeutete nichts anderes, als daß die Staaten der EU auf einen erheblichen Teil ihrer Souveränitätsrechte verzichten würden. Es war folglich eigentlich selbstverständlich, daß diese Verfassung - wie jede neue Verfassung - der Zustimmung der betroffenen Völker bedürfen würde; also der Genehmigung durch Volksabstimmungen.
Aber nur ein Teil der Staaten der EU hielt solche Referenden ab oder beabsichtigte sie. Bereits die ersten scheiterten: Am 29. Mai 2005 lehnten die Franzosen diese Europäische Verfassung ab; am 1. Juni 2005 die Niederländer. Damit war das Projekt am Ende; weitere Referenden und Ratifikationsverfahren wurden gestoppt.
Welche Lehre wurde aus diesem Scheitern gezogen? Fand jetzt endlich die europaweite Debatte darüber statt, wohin denn die Reise gehen sollte?
Wurde nun in den Ländern der EU diskutiert, was für ein Europa eigentlich das Ziel sein sollte - eine Wirtschaftsunion, ein Staatenbund, ein europäischer Bundesstaat nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Nordamerika? (Siehe zu diesen Alternativen die Auseinandersetzungen zwischen "Intergouvernementalisten" und "Föderalisten", wie ich sie in diesem Artikel erläutert habe: Das im Irrgarten der Einigung herumtaumelnde Europa; ZR vom 15. 1. 2007).
Nichts fand statt. Das Veto der Franzosen, der Niederländer, wurde als ein Betriebsunfall gewertet. Man reagierte auf ihn mit juristischen Tricks: Die gescheiterte Verfassung wurde in ihre Bestandteile zerlegt, und diese wurden, ohne jede Mitsprache der Völker Europas, als Vertrag von Lissabon verabschiedet. Da es nun keine Verfassung mehr war, sondern ein Vertragswerk, entfielen Volksabstimmungen.
In dem Artikel, dem ich das Zitat entnommen habe, unterstützt Habermas Frank Schirrmacher, der sich kräftig für Papandreous inzwischen gestorbenen Plan eines griechischen Referendums ins Zeug gelegt und die negative Reaktion der europäischen Regierungen kritisiert hatte. Wie es bei Schirrmacher Art des Hauses ist, geschah das mit apokalyptischen Untertönen:
Für ein Referendum gab es nicht den geringsten sachlichen Grund; es ging ja nicht um eine neue Verfassung, noch nicht einmal um einen bedeutenden internationalen Vertrag. Es ging - und geht - schlicht darum, ob Griechenland bereit ist, als Gegenleistungen für die Hilfen, die ihm gewährt werden, künftig seine Politik des Schuldenmachens sein zu lassen; sie zumindest auf ein erträgliches Maß zurückzuführen.
Der alte Fuchs Papandreau hat mit dem Etikett "Demokratie" gewedelt; in der richtigen Erwartung, daß doch niemand gegen Demokratie sein könne. Autoren wie Schirrmacher und Habermas haben sich das zuwedeln lassen. Profis wie Merkel und Sarkozy haben den Fuchs sofort durchschaut.
Ja, die Völker Europas müssen endlich selbst debattieren und am Ende entscheiden, wie es mit Europa weitergehen soll. Aber mit dem Trick des Georgios Papandreou sollte man das nicht in Zusammenhang bringen.
Dieses Projekt verlangt nicht nur institutionelle Phantasie. Die überfällige Kontroverse über Notwendigkeit und Nutzen eines solchen Projekts muss in der breiten Öffentlichkeit ausgetragen werden.
Jürgen Habermas heute in der FAZ.
Kommentar: Ich stimme Habermas zu. Wenn die jetzige Krise Europas etwas Positives haben kann, dann dies: Daß endlich die seit Jahrzehnten nicht geführte Debatte darüber einsetzt, was für ein Europa wir eigentlich wollen.
Diese Debatte blieb uns bisher verwehrt. Aus dem Europa der Sechs wurde gewissermaßen naturwüchsig die heutige EU (siehe Europas Krise (1): Zerfällt Europa?; ZR vom 3. 11. 2011).
Ein einziges Mal hat es Ansätze zu einer breiten Diskussion gegeben. Das war Anfang und Mitte des vergangenen Jahrzehnts.
2002 war unter der Leitung des früheren französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing der Europäische Verfassungskonvent zusammengetreten, der den Entwurf für einen Europäischen Verfassungsvertrag erarbeitete. Dieser wurde am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet.
Er bedeutete nichts anderes, als daß die Staaten der EU auf einen erheblichen Teil ihrer Souveränitätsrechte verzichten würden. Es war folglich eigentlich selbstverständlich, daß diese Verfassung - wie jede neue Verfassung - der Zustimmung der betroffenen Völker bedürfen würde; also der Genehmigung durch Volksabstimmungen.
Aber nur ein Teil der Staaten der EU hielt solche Referenden ab oder beabsichtigte sie. Bereits die ersten scheiterten: Am 29. Mai 2005 lehnten die Franzosen diese Europäische Verfassung ab; am 1. Juni 2005 die Niederländer. Damit war das Projekt am Ende; weitere Referenden und Ratifikationsverfahren wurden gestoppt.
Welche Lehre wurde aus diesem Scheitern gezogen? Fand jetzt endlich die europaweite Debatte darüber statt, wohin denn die Reise gehen sollte?
Wurde nun in den Ländern der EU diskutiert, was für ein Europa eigentlich das Ziel sein sollte - eine Wirtschaftsunion, ein Staatenbund, ein europäischer Bundesstaat nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Nordamerika? (Siehe zu diesen Alternativen die Auseinandersetzungen zwischen "Intergouvernementalisten" und "Föderalisten", wie ich sie in diesem Artikel erläutert habe: Das im Irrgarten der Einigung herumtaumelnde Europa; ZR vom 15. 1. 2007).
Nichts fand statt. Das Veto der Franzosen, der Niederländer, wurde als ein Betriebsunfall gewertet. Man reagierte auf ihn mit juristischen Tricks: Die gescheiterte Verfassung wurde in ihre Bestandteile zerlegt, und diese wurden, ohne jede Mitsprache der Völker Europas, als Vertrag von Lissabon verabschiedet. Da es nun keine Verfassung mehr war, sondern ein Vertragswerk, entfielen Volksabstimmungen.
In dem Artikel, dem ich das Zitat entnommen habe, unterstützt Habermas Frank Schirrmacher, der sich kräftig für Papandreous inzwischen gestorbenen Plan eines griechischen Referendums ins Zeug gelegt und die negative Reaktion der europäischen Regierungen kritisiert hatte. Wie es bei Schirrmacher Art des Hauses ist, geschah das mit apokalyptischen Untertönen:
Es ist das Schauspiel einer Degeneration jener Werte und Überzeugungen, die einst in der Idee Europas verkörpert schienen. (...)Ach nein. Papandreou, dessen Partei in den Umfragen inzwischen bei 15 Prozent liegt, hatte seine Haut zu retten versucht, indem er die Verantwortung von Regierung und Parlament abwälzen wollte.
... wie massiv gerade moralische Übereinkünfte der Nachkriegszeit im Namen einer höheren, einer finanzökonomischen Vernunft zerstört werden. (...)
Es wird immer klarer, dass das, was Europa im Augenblick erlebt, keine Episode ist, sondern ein Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen. Schon hat das Politische massiv an Boden verloren ...
Für ein Referendum gab es nicht den geringsten sachlichen Grund; es ging ja nicht um eine neue Verfassung, noch nicht einmal um einen bedeutenden internationalen Vertrag. Es ging - und geht - schlicht darum, ob Griechenland bereit ist, als Gegenleistungen für die Hilfen, die ihm gewährt werden, künftig seine Politik des Schuldenmachens sein zu lassen; sie zumindest auf ein erträgliches Maß zurückzuführen.
Der alte Fuchs Papandreau hat mit dem Etikett "Demokratie" gewedelt; in der richtigen Erwartung, daß doch niemand gegen Demokratie sein könne. Autoren wie Schirrmacher und Habermas haben sich das zuwedeln lassen. Profis wie Merkel und Sarkozy haben den Fuchs sofort durchschaut.
Ja, die Völker Europas müssen endlich selbst debattieren und am Ende entscheiden, wie es mit Europa weitergehen soll. Aber mit dem Trick des Georgios Papandreou sollte man das nicht in Zusammenhang bringen.
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