8. November 2011

Europas Krise (2): Gute und schlechte Bundesstaaten


Im ersten Teil unserer Reihe stellte Zettel die berechtigte Frage, was eigentlich das Ziel des europäischen Einigungsprozesses sein soll. Darüber wird selten diskutiert, eine offiziell beschlossene Vorgabe gibt es nicht.

De facto ist die EU aber über den Staatenbund schon deutlich hinaus, unausgesprochen scheint es einen gewissen Konsens zu geben, daß am Ende ein Bundesstaat stehen sollte. Ein Bundesstaat, für den es in der Weltgeschichte kein Vorbild gäbe. Aber gut, einmal ist immer das erste Mal - das alleine wäre kein Grund, es nicht zu versuchen.

Aber es lohnt sich vielleicht einmal anzuschauen, was es an positiven und negativen Erfahrungen mit Bundesstaaten so gibt ...

Erst einmal: Geographisch ist die EU kompakt genug, um einen Staat zu bilden. Im wesentlichen liegt sie in nur einer Zeitzone und fast in nur einer Klimazone, mit hervorragenden internen Verkehrsverbindungen - es gibt einige funktionierende Nationalstaaten, die sind geographisch deutlich heterogener.

Auch wirtschaftlich spricht nichts gegen eine Staatsbildung, der gemeinsame Wirtschaftsraum hat hervorragend floriert. Die Unterschiede zwischen wirtschaftlich starken und schwachen Regionen innerhalb der Einzelstaaten sind teilweise größer als zwischen den EU-Staaten. Wenn man das Bruttosozialprodukt pro Kopf von London mit dem von Yorkshire vergleicht, sind sich Deutschland und Griechenland vergleichsweise ähnlich. Und auch der gemeinsame Währungsraum ist eine Erfolgsstory - auch wenn derzeit die Politik ihn als Sündenbock für verfehlte Staatsfinanzpolitik hinstellen will.

Auch die Größenunterschiede zwischen den EU-Staaten sind verkraftbar. Texas und Rhode Island, Zürich und Uri stellen die Bundesstaaten USA und Schweiz vor keine Probleme - dies sei auch den Bundesbürgern in Erinnerung gerufen, die meinen die Existenz eines Saarlands nicht aushalten zu können. Und wenn Zettel von "dieses Monstrum der 27" spricht, dann kann er nicht wirklich die reine Anzahl der Staaten meinen. Denn anderswo funktioniert das ja auch mit 50 durchaus selbstbewußten und auf ihre Eigenart bedachten Staaten.

Nein, die Frage ist natürlich eine andere: Wie geht ein Staat mit unterschiedlichen Nationalitäten um?

Das Erfolgsbeispiel dafür ist wohl die Schweiz. Wobei es hier letztlich "nur" darum geht, daß sich "Deutsche" und "Franzosen" vertragen. Denn das italienische Tessin spielt nur eine Nebenrolle und das Rätoromanische ist eigentlich nur eine Stück Folklore, um die Szene etwas bunter zu gestalten. Wenige Schweizer können Italienisch, fast niemand Rätoromanisch. Aber die offizielle Viersprachigkeit hilft davon abzulenken, daß eigentlich die zwei großen Sprachgruppen gegeneinander stehen. Oder besser gesagt: Gegeneinander stehen könnten - wenn nicht eben der Schweizer Bundesstaat so raffiniert konstruiert wäre.

Denn man merkt zwar den "Röschtigraben", also die Sprachgrenze, immer wieder bei manchen Abstimmungen. Aber der Zuschnitt der Kantone sorgt dafür, daß dieser potentielle Hauptkonflikt immer wieder überlagert wird von anderen Gegensätzen: Reiche gegen arme Kantone, große gegen kleine, katholische gegen evangelische, städtische gegen ländliche, globalisiert wirtschaftende gegen agrarisch binnen-orientierte.
Bei jeder politischen Frage, bei jeder Volksabstimmung gibt es andere Koalitionen, andere Gegner und Verbündete. Es hat sich eine politische Kultur ausgebildet, die zum Kompromiß und Konsens neigt. Und zwar nicht, um den Sprachgegensatz auszugleichen, sondern weil man dauernd in neuen Konstellationen zusammenarbeiten muß und besser niemand außen vor läßt. Sonst ist man bei der nächsten Entscheidung selber außen vor. Und als Nebenwirkung spielt der Sprachgegensatz keine große Rolle.

Im Gegensatz dazu Belgien. Man könnte fast sagen: Die haben gezeigt, wie man es nicht macht!
Auch da gibt es Provinzen mit unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen etc., wenn auch nicht ganz so heterogen wie die Schweizer Kantone. Aber diese Provinzen können sich gar nicht in wechselnden Koalitionen zusammen finden, weil sie zwei übergeordnete Strukturen gepreßt wurden - eine für die Flamen, eine für die Wallonen. Und dann noch das "neutrale" Brüssel, damit die beiden Gegner auch immer ein Streitobjekt haben. Wahrscheinlich wird Belgien scheitern.

Wie das auch beim anderen Gegenbeispiel der Fall war: Der Tschechoslowakei.
Auch dort waren zwei Gruppen organisiert nebeneinander aufgestellt. Und daraus wurde dann schnell ein gegeneinander, bis eben zur Trennung in zwei eigenständige Nationalstaaten.

Ein Erfolgsbeispiel ist dagegen Indien. Und zwar ein Beispiel von einer Größe und einer Vielfalt, die die Europas noch übertrifft. Und auch in Indien scheinen die verschiedenen Nationalitäten und Sprachgruppen deswegen miteinander auszukommen, weil die Struktur der Bundesstaaten heterogen genug ist, um einerseits lokal auf die Besonderheiten jeder Gruppe eingehen zu können und andererseits auf Bundesebene nationale/sprachliche Fragen nicht zu Konflikthemen werden zu lassen.

Ist Deutschland in diesem Kontext ein gutes oder ein schlechtes Beispiel? Ich würde mal sagen: Sie ist nicht mehr wirklich ein Bundesstaat. Sie ist im wesentlichen ein Zentralstaat mit föderalen Folkloreresten. Was nicht direkt vom Bund geregelt wird (und das ist das Meiste!), das wird von den Bundesländern selber in eine gemeinsame zentrale Regelung gegossen. Da nenne ich mal unselige Sachen wie die Kultusministerkonferenz oder den Rundfunkstaatsvertrag. Deutschland ist kein wirklich föderaler Staat mehr, weil erst die preußische Übermacht und dann die Nazis die Bundesländer marginalisiert haben. Und weil im Grundgesetz der fatale Satz von der "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" stand mit unter anderem dem grotesken Länderfinanzausgleich als Folge.

Wenn wir nun die EU betrachten: Eigentlich glaube ich, daß sie ein ziemlich guter Bundesstaat werden könnte. Die nationalen Gegensätze sind nicht so groß, daß sie nicht über eine heterogene Länderstruktur konfliktarm organisiert werden könnten. Die Vielfalt von 27 Staaten und 23 Sprachen ist da eher hilfreich, weil - wie in der Schweiz - immer wieder andere Konstellationen entstehen, sich normalerweise keine Konfliktlinien einfräsen können.

Aber die akute Gefahr besteht darin, daß diverse Kräfte gar nicht mehr auf einen Bundesstaat hinarbeiten, sondern auf einen Zentralstaat französischer oder deutscher Prägung, mit einem einheitlichen Wirtschaft- und Finanzregime, mit Detailnormen europaweit, mit Unterdrückung des Subsidiaritätsprinzips. Das kann nicht funktionieren. Wenn man nicht die Unterschiede zwischen den Nationen zuläßt und den Bundesstaaten entsprechende Kompetenzen und Eigenverantwortung zubilligt, bringt man die ganze europäische Einigung zum Platzen.
R.A.



© R.A.. Für Kommentare bitte hier klicken. Abbildung: "Europa auf dem Stier" von Hendrik van Balen (1573 - 1632). Gemeinfrei, da das Copyright erloschen ist.