Für künftige geschichtliche Entwicklungen fehlt uns meist die Phantasie.
Die Juristen sprechen von der "normativen Kraft des Faktischen" und meinen damit, daß etwas allein dadurch, daß es besteht, Recht schafft. Es gibt auch eine Kraft des Faktischen, die das Denken, die unser Vorstellungsvermögen bindet. Allein dadurch, daß etwas der Fall ist, daß es besteht, erscheint es uns, als müsse es so sein.
Aber Europa muß nicht sein. Natürlich hat es Bestand als eine geographische Bezeichnung; eine Halbinsel Asiens, die schon zur Zeit Herodots als einer der (damals drei) Kontinent gesehen wurde. Aber als politische Einheit muß Europa nicht existieren.
Australien, eigentlich nur eine größere Insel im Pazifik mit weniger Einwohnern als die Benelux-Staaten, war nie in souveräne Staaten aufgeteilt. Alle anderen Kontinente waren und sind es. Es gibt keine Amerikanische Union, die mit der EU vergleichbar wäre; keine ihr vergleichbare überstaatliche Organisation in Afrika oder Asien.
Wir leben nach wir vor im Zeitalter der Nationalstaaten; bisweilen zusammengeschlossen in lockeren Vereinigungen wie der Organisation Amerikanischer Staaten und der Afrikanischen Union. Nur Europa hat seit den Römischen Verträgen von 1958 einen anderen Weg eingeschlagen.
Einen Weg freilich ohne Ziel. Wohin eigentlich die Einigung Europas führen soll, ist nie in der erforderlichen Breite und Intensität erörtert, geschweige denn beschlossen worden. Es gibt keine Debatte, es gibt schon gar nicht eine Einigung darüber, ob das Ziel ein Europa der Vaterländer, ob es ein Staatenbund oder gar ein Bundesstaat ("Vereinigte Staaten von Europa") sein soll (siehe Das im Irrgarten der Einigung herumtaumelnde Europa; ZR vom 15. 1. 2007).
Die Römischen Verträge, die am 1. Januar 1958 in Kraft traten, sahen einen Bund aus sechs Nationalstaaten vor; ungefähr in den Grenzen des Reichs Karls des Großen. Miteinander verbunden waren sie durch die gemeinsame Geschichte im Kernbereich des christlichen Abendlands; des Abendlands auch der Renaissance und der Aufklärung. Aktuell hatten sie damals darüber hinaus die Gemeinsamkeit, daß überall christliche Demokraten eine führende politische Kraft bildeten.
Konrad Adenauer führte eine christdemokratische Partei. In Italien regierte die Democrazia Cristiana des (1958 allerdings bereits verstorbenen) Christdemokraten Alcide de Gasperi. In den Benelux-Staaten gab es starke christdemokratische Parteien, die meist die Regierungen stellten. In Frankreich war es der Christdemokrat Robert Schuman, der wesentlich für die Entwicklung hin zu den Römischen Verträgen verantwortlich gewesen war.
Diesem Europa der Sechs lag ein dreifaches Konzept zugrunde: Die gemeinsame Entschlossenheit, künftige Katastrophen wie den Ersten und den Zweiten Weltkrieg in Europa zu verhindern; das gemeinsame christlich-abendländische Weltbild; und nicht zuletzt der Antikommunismus.
Dieser zeigte sich in doppelter Gestalt: Im Inneren kämpfte man gegen Kommunistische Parteien, die vor allem in Italien und Frankreich eine konkrete Gefahr für die Demokratie bedeuteten; in der Außenpolitik trat man dafür ein, der sowjetischen Bedrohung gemeinsam mit den USA einen entschlossenen Widerstand entgegenzusetzen.
Das war die vernünftige, die durchdachte, die mit den Forderungen der Zeit im Einklang stehende Konzeption des Europas der Sechs. Wäre es dabei geblieben, dann hätte aus der EWG ein europäischer Bundesstaat werden können, die Vereinigten Staaten von Europa - mit einer gemeinsamen Geschichte seit der Zeit der Karolinger, mit gemeinsamen Werten und gemeinsamen Zielen; und mit übrigens nicht mehr Sprachen als die Schweiz, nämlich vier (deutsch, französisch, italienisch und holländisch/flämisch).
Es hätte eine europäische nationale Identität entstehen können; so ungefähr, wie sie in den USA die Kalifornier mit den New Yorkern, die Texaner mit den Einwohnern von Michigan verbindet. Mit der gemeinsamen Identität hätte sich die Bereitschaft entwickeln können, füreinander einzustehen: Also im Zweifelsfall die Interessen dieser europäischen Nation höher zu stellen als die Deutschlands, Frankreichs oder, sagen wir, Luxemburgs. Das ist es, was letztlich die Identität ausmacht: Füreinander Opfer zu bringen (siehe Die Krise Europas und der europäische Nationalismus; ZR vom 17. 9. 2011).
Aber die Entwicklung verlief bekanntlich anders. Eine Welle der Erweiterung folgte der nächsten. Heute umfaßt die Europäische Union 27 Staaten mit 23 Amtssprachen. Gemeinsame Werte gibt es allenfalls noch im Materiellen; das zeigt in diesen Tagen die Griechenland-Krise. Seine Geldanlagen möchte man gemeinsam gern schützen und retten. Das ist heute die "Europäische Idee".
Die Vorstellung, daß dieses Monstrum der 27 zu einem Staat zusammenwachsen könnte, ist absurd. Einen Staat mit so vielen Völkern, Kulturen und Sprachen kann es, wie die Geschichte lehrt, allenfalls in einer einzigen Form geben: Als ein Imperium, in dem - wie im Rom der Kaiserzeit, wie im Zarenreich und wie im Osmanischen Reich - eine Zentralgewalt existiert, die mittels Bürokratie und Militär die auseinanderstrebenden Kräfte zu bändigen versucht.
Wie im Leben des Einzelnen ist es auch in der internationalen Politik: Man kann Probleme und Konflikte lange übertünchen; man kann Entscheidungen und Klärungen verschieben. Aber irgendwann gibt es eine Krise, und dann kommt das auf den Tisch, was beiseitegeschoben, geleugnet, verdrängt worden war.
Das ist es, was wir jetzt, angestoßen durch die Griechenland-Krise, in Europa erleben. Und wie so oft werden die Probleme von außen klarer gesehen als von denen, die mitten in den Konflikten stehen.
Bei Stratfor ist heute eine Analyse zum Gipfel der G-20 in Cannes erschienen, die an Pessimismus schwerlich zu überbieten ist ("The G-20 summit amid escalation of the European crisis" - "Der G-20-Gipfel inmitten einer Eskalation der europäischen Krise"; nur Abonnenten zugänglich). Dort wird folgendes Bild entworfen:
Die bisherigen Rettungsmaßnahmen für Griechenland waren wenig erfolgreich. Der "Hebel" hat sich als ein Bumerang erwiesen: Die asiatischen Investoren, auf die man gehofft hatte, wenden sich ab, seit die Garantie auf 25 Prozent beschränkt werden soll. Das ist das Ergebnis der Asienreise von Klaus Regling, dem Verantwortlichen für den EFSF. Jetzt besorgt Papandreou mit seinem Plan eines Referendums ein Übriges. Scheitert es, dann wird - so Stratfor - Griechenland unweigerlich die Eurozone verlassen. Als die nächsten Krisenländer werden dann Länder wie Italien in den Fokus geraten.
Stratfor hält es für wahrscheinlich, daß wir damit das Ende des "europäischen Projekts" erleben werden. Und ähnlich dem, was ich oben dargelegt habe, sieht man das im Kontext der historischen Umstände, unter denen dieses "Projekt" entstanden war: Als ein Kind des Kalten Kriegs, als die "wirtschaftlichen Muskeln, die dem militärischen Skelett der Nato hinzugefügt wurden".
Europa wurde wesentlich durch die kommunistische Bedrohung zusammengehalten; als der Partner der USA. Die Bedrohung gibt es nicht mehr, die Partnerschaft kaum noch. Die Faktoren, die auf eine politische Organisation Europas hinwirkten, sind entfallen.
Die Krise Europas, schreibt Stratfor, hat einen Grad erreicht, daß seine Strukturen auseinanderzufallen drohen. Man müsse beginnen, sich vorzustellen, wie eine Welt aussieht, in der es das Europa, das wir heute kennen, nicht mehr geben wird.
Die Juristen sprechen von der "normativen Kraft des Faktischen" und meinen damit, daß etwas allein dadurch, daß es besteht, Recht schafft. Es gibt auch eine Kraft des Faktischen, die das Denken, die unser Vorstellungsvermögen bindet. Allein dadurch, daß etwas der Fall ist, daß es besteht, erscheint es uns, als müsse es so sein.
Aber Europa muß nicht sein. Natürlich hat es Bestand als eine geographische Bezeichnung; eine Halbinsel Asiens, die schon zur Zeit Herodots als einer der (damals drei) Kontinent gesehen wurde. Aber als politische Einheit muß Europa nicht existieren.
Australien, eigentlich nur eine größere Insel im Pazifik mit weniger Einwohnern als die Benelux-Staaten, war nie in souveräne Staaten aufgeteilt. Alle anderen Kontinente waren und sind es. Es gibt keine Amerikanische Union, die mit der EU vergleichbar wäre; keine ihr vergleichbare überstaatliche Organisation in Afrika oder Asien.
Wir leben nach wir vor im Zeitalter der Nationalstaaten; bisweilen zusammengeschlossen in lockeren Vereinigungen wie der Organisation Amerikanischer Staaten und der Afrikanischen Union. Nur Europa hat seit den Römischen Verträgen von 1958 einen anderen Weg eingeschlagen.
Einen Weg freilich ohne Ziel. Wohin eigentlich die Einigung Europas führen soll, ist nie in der erforderlichen Breite und Intensität erörtert, geschweige denn beschlossen worden. Es gibt keine Debatte, es gibt schon gar nicht eine Einigung darüber, ob das Ziel ein Europa der Vaterländer, ob es ein Staatenbund oder gar ein Bundesstaat ("Vereinigte Staaten von Europa") sein soll (siehe Das im Irrgarten der Einigung herumtaumelnde Europa; ZR vom 15. 1. 2007).
Die Römischen Verträge, die am 1. Januar 1958 in Kraft traten, sahen einen Bund aus sechs Nationalstaaten vor; ungefähr in den Grenzen des Reichs Karls des Großen. Miteinander verbunden waren sie durch die gemeinsame Geschichte im Kernbereich des christlichen Abendlands; des Abendlands auch der Renaissance und der Aufklärung. Aktuell hatten sie damals darüber hinaus die Gemeinsamkeit, daß überall christliche Demokraten eine führende politische Kraft bildeten.
Konrad Adenauer führte eine christdemokratische Partei. In Italien regierte die Democrazia Cristiana des (1958 allerdings bereits verstorbenen) Christdemokraten Alcide de Gasperi. In den Benelux-Staaten gab es starke christdemokratische Parteien, die meist die Regierungen stellten. In Frankreich war es der Christdemokrat Robert Schuman, der wesentlich für die Entwicklung hin zu den Römischen Verträgen verantwortlich gewesen war.
Diesem Europa der Sechs lag ein dreifaches Konzept zugrunde: Die gemeinsame Entschlossenheit, künftige Katastrophen wie den Ersten und den Zweiten Weltkrieg in Europa zu verhindern; das gemeinsame christlich-abendländische Weltbild; und nicht zuletzt der Antikommunismus.
Dieser zeigte sich in doppelter Gestalt: Im Inneren kämpfte man gegen Kommunistische Parteien, die vor allem in Italien und Frankreich eine konkrete Gefahr für die Demokratie bedeuteten; in der Außenpolitik trat man dafür ein, der sowjetischen Bedrohung gemeinsam mit den USA einen entschlossenen Widerstand entgegenzusetzen.
Das war die vernünftige, die durchdachte, die mit den Forderungen der Zeit im Einklang stehende Konzeption des Europas der Sechs. Wäre es dabei geblieben, dann hätte aus der EWG ein europäischer Bundesstaat werden können, die Vereinigten Staaten von Europa - mit einer gemeinsamen Geschichte seit der Zeit der Karolinger, mit gemeinsamen Werten und gemeinsamen Zielen; und mit übrigens nicht mehr Sprachen als die Schweiz, nämlich vier (deutsch, französisch, italienisch und holländisch/flämisch).
Es hätte eine europäische nationale Identität entstehen können; so ungefähr, wie sie in den USA die Kalifornier mit den New Yorkern, die Texaner mit den Einwohnern von Michigan verbindet. Mit der gemeinsamen Identität hätte sich die Bereitschaft entwickeln können, füreinander einzustehen: Also im Zweifelsfall die Interessen dieser europäischen Nation höher zu stellen als die Deutschlands, Frankreichs oder, sagen wir, Luxemburgs. Das ist es, was letztlich die Identität ausmacht: Füreinander Opfer zu bringen (siehe Die Krise Europas und der europäische Nationalismus; ZR vom 17. 9. 2011).
Aber die Entwicklung verlief bekanntlich anders. Eine Welle der Erweiterung folgte der nächsten. Heute umfaßt die Europäische Union 27 Staaten mit 23 Amtssprachen. Gemeinsame Werte gibt es allenfalls noch im Materiellen; das zeigt in diesen Tagen die Griechenland-Krise. Seine Geldanlagen möchte man gemeinsam gern schützen und retten. Das ist heute die "Europäische Idee".
Die Vorstellung, daß dieses Monstrum der 27 zu einem Staat zusammenwachsen könnte, ist absurd. Einen Staat mit so vielen Völkern, Kulturen und Sprachen kann es, wie die Geschichte lehrt, allenfalls in einer einzigen Form geben: Als ein Imperium, in dem - wie im Rom der Kaiserzeit, wie im Zarenreich und wie im Osmanischen Reich - eine Zentralgewalt existiert, die mittels Bürokratie und Militär die auseinanderstrebenden Kräfte zu bändigen versucht.
Wie im Leben des Einzelnen ist es auch in der internationalen Politik: Man kann Probleme und Konflikte lange übertünchen; man kann Entscheidungen und Klärungen verschieben. Aber irgendwann gibt es eine Krise, und dann kommt das auf den Tisch, was beiseitegeschoben, geleugnet, verdrängt worden war.
Das ist es, was wir jetzt, angestoßen durch die Griechenland-Krise, in Europa erleben. Und wie so oft werden die Probleme von außen klarer gesehen als von denen, die mitten in den Konflikten stehen.
Bei Stratfor ist heute eine Analyse zum Gipfel der G-20 in Cannes erschienen, die an Pessimismus schwerlich zu überbieten ist ("The G-20 summit amid escalation of the European crisis" - "Der G-20-Gipfel inmitten einer Eskalation der europäischen Krise"; nur Abonnenten zugänglich). Dort wird folgendes Bild entworfen:
Die bisherigen Rettungsmaßnahmen für Griechenland waren wenig erfolgreich. Der "Hebel" hat sich als ein Bumerang erwiesen: Die asiatischen Investoren, auf die man gehofft hatte, wenden sich ab, seit die Garantie auf 25 Prozent beschränkt werden soll. Das ist das Ergebnis der Asienreise von Klaus Regling, dem Verantwortlichen für den EFSF. Jetzt besorgt Papandreou mit seinem Plan eines Referendums ein Übriges. Scheitert es, dann wird - so Stratfor - Griechenland unweigerlich die Eurozone verlassen. Als die nächsten Krisenländer werden dann Länder wie Italien in den Fokus geraten.
Stratfor hält es für wahrscheinlich, daß wir damit das Ende des "europäischen Projekts" erleben werden. Und ähnlich dem, was ich oben dargelegt habe, sieht man das im Kontext der historischen Umstände, unter denen dieses "Projekt" entstanden war: Als ein Kind des Kalten Kriegs, als die "wirtschaftlichen Muskeln, die dem militärischen Skelett der Nato hinzugefügt wurden".
Europa wurde wesentlich durch die kommunistische Bedrohung zusammengehalten; als der Partner der USA. Die Bedrohung gibt es nicht mehr, die Partnerschaft kaum noch. Die Faktoren, die auf eine politische Organisation Europas hinwirkten, sind entfallen.
Die Krise Europas, schreibt Stratfor, hat einen Grad erreicht, daß seine Strukturen auseinanderzufallen drohen. Man müsse beginnen, sich vorzustellen, wie eine Welt aussieht, in der es das Europa, das wir heute kennen, nicht mehr geben wird.
Zettel
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Abbildung: "Europa auf dem Stier" von Hendrik van Balen (1573 - 1632). Gemeinfrei, da das Copyright erloschen ist.