9. Dezember 2009

Wie zynisch ist die Afghanistan-Politik von Präsident Obama? Eine Analyse von George Friedman und die Perspektive der Dschihadisten

Zu den Stärken von George Friedman, auf dessen Aufsätze zur Sicherheitspolitik in Stratfor ich schon oft aufmerksam gemacht habe, gehört der Wechsel der Perspektive. Er analysiert ein weltpolitisches Problem, indem er die Lage aus der Sicht der einzelnen Beteiligten untersucht. Das ist oft spekulativ, aber doch immer lesenswert.

In Stratfor vom 7. 12. 2009 analysiert er die Weltlage aus der Sicht der Dschihadisten, also der islamistischen Terroristen, deren wichtigste Organisation die Kaida ist. Ich fasse im folgenden die Argumentation Friedmans zusammen, ohne sie mir unbedingt zu eigen zu machen:

Das Ziel ist die Eroberung der Macht in den sunnitischen Ländern, mit dem schließlichen Ergebnis der Errichtung des neuen Kalifats. Die Dschihadisten wollen das durch Erhebungen der Massen erreichen, die zum Sturz der jetzigen Regierungen führen.

Diese Regierungen werden überwiegend von den USA gestützt. Die Anschläge des 11. September sollten den Massen in diesen Ländern beweisen, wie verwundbar die USA sind, und folglich auch diese Regierungen.

Man rechnete mit Gegenschlägen der USA, von denen man aber annahm, daß sie eher zu einer verstärkten Ablehnung der USA durch die islamischen Massen führen würden.

In den acht Jahren seit 9/11 ist aber etwas anderes eingetreten: Die Regierungen dieser Staaten haben sich den USA weiter angenähert und beteiligen sich jetzt aktiv am Kampf gegen die Dschihadisten. In keinem einzigen der sunnitischen Länder ist es zu Aufständen der Massen gekommen.

Zugleich war die Kaida gezwungen, die Struktur ihrer Organisation zu ändern:
The United States can strike the center of gravity of any jihadist force. It naturally cannot strike what doesn't exist, so the jihadist movement has been organized to deny the United States that center of gravity, or command structure which, if destroyed, would leave the movement wrecked.

Die Vereinigten Staaten können gegen das Gravitationszentrum jeder beliebigen dschihadistischen Streitmacht zuschlagen. Sie können natürlich nicht gegen etwas zuschlagen, das nicht existiert. Also wurde die dschihadistische Bewegung so organisiert, daß sie den USA das Gravitationszentrum, die Kommandostruktur verweigert, mit deren Zerstörung sie die Bewegung hätten in Ruinen legen können.
Diese, wie Friedman es nennt, "Fragmentierung" der Kaida bedeutet nun aber auch, daß sie im wesentlichen nur noch lokal agieren kann. Sie kämpft gegen einzelne Regierungen und versucht dabei, die USA möglichst in den Kampf zu ziehen.

Das aber, meint Friedman, spielt den USA in die Hände. Das Ziel der USA ist es, das eigene Land vor Anschlägen wie dem von 9/11 zu schützen und zweitens zu verhindern, daß die Dschihadisten irgendwo an die Macht gelangen. Das Ziel der USA ist es - so Friedman - aber nicht unbedingt, diese Länder zu stabilisieren.

Das sei zwar das ideale Ziel, aber in den meisten Ländern nicht erreichbar:
The second-best outcome for the United States involves a conflict in which the primary forces battling — and neutralizing — each other are Muslim, with the American forces in a secondary role.

Das zweitbeste Ergebnis für die USA besteht in einem Konflikt, in dem die hauptsächlichen Streitkräfte, die sich bekämpfen - und die einander neutralisieren -, Moslems sind, wobei die Streitmacht der USA eine sekundäre Rolle spielt.



Soweit Friedman. Das klingt zynisch. Friedman meint, daß es auch Obamas Strategie in Afghanistan sei.

Man muß zugeben, daß das, was ohne diesen Zynismus unvernünftig erscheint, dann Sinn macht:

Nehmen wir an, Friedman hat Recht und Obama strebt nicht mehr an, als daß in Afghanistan auf unbestimmte Zeit Moslems gegen Moslems kämpfen. Solange sie das aushalten, kann ein solcher Krieg den USA egal sein; nur dürfen die Dschihadisten und die Taliban nie siegen.

Also veranstaltet Obama jetzt einen Surge, der das bedrohte Gleichgewicht wieder herstellt; der also die Zentralregierung gerade genug stärkt, damit sie sich in einen endlosen Kampf gegen die Taliban und die Kaida begeben kann.

Wenn dies das Ziel Obamas sein sollte, dann allerdings macht es Sinn, daß er nach einem kurzen Surge aus Afghanistan abzieht.

Sein - nach dieser Hypothese - Ziel, daß danach ein endloser Kampf zwischen Moslems, mit allenfalls minimaler Beteiligung der USA, stattfindet, in dem die Dschihadisten aber nicht mehr siegen können, wäre wahrscheinlich erreicht.

Ich hätte mich dann mit meiner Kritik an Obamas Entscheidung (Obama zu Afghanistan; ZR vom 2. 12. 2009) geirrt. Sie wäre dann nicht, wie ich dachte, in sich inkonsistent, sondern sie wäre nur zynisch.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: NSF. Als Werk der US-Regierung in der Public Domain.