21. Mai 2019

Kurz’ Kalkül – Kurz’ gefährliches Spiel

Die Koalition aus ÖVP und FPÖ wird nicht einmal mehr bis zu den voraussichtlich im September 2019 stattfindenden Nationalratsneuwahlen fortgesetzt. Den von Bundeskanzler Sebastian Kurz vorgeschlagenen Deal, wonach im Gegenzug zu Innenminister Herbert Kickls Demission das derzeitige Regierungsbündnis wenigstens noch bis zum nächsten Urnengang Bestand haben sollte, wurde von dem Kärntner abgelehnt. Vielmehr kündigten seine in Ministerpositionen befindlichen Parteifreunde ihr Ausscheiden aus dem Amt an, sollte Kurz dem Bundespräsidenten die Entlassung Kickls vorschlagen.

Verfassungsrechtlicher Hintergrund: Gemäß Artikel 70 Absatz 1 Satz 1 Halbsatz 2 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) erfolgt die Entlassung einzelner Mitglieder der Bundesregierung auf Vorschlag des Bundeskanzlers. Den Bundeskanzler oder die gesamte Bundesregierung kann der Bundespräsident hingegen aus Eigenem (also ohne Vorschlag) ihrer Funktion entheben.
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Kurz hat daraufhin dem Staatsoberhaupt die Freisetzung nicht nur des Innenministers, sondern offenbar aller FPÖ-Regierungsmitglieder anempfohlen. Außenministerin Karin Kneissl, die zwar von den Blauen nominiert wurde, aber parteilos ist, wird auf ihrem Posten verbleiben. Dem Bundeskanzler droht nun ein Misstrauensvotum.

Verfassungsrechtlicher Hintergrund: Gemäß Artikel 74 Absatz 1 B-VG ist die Bundesregierung oder der betreffende Bundesminister des Amtes zu entheben, wenn der Nationalrat der Bundesregierung oder einzelnen ihrer Mitglieder durch ausdrückliche Entschließung das Vertrauen versagt. Gemäß Artikel 74 Absatz 2 B-VG ist zu einem Beschluss des Nationalrates, mit dem das Vertrauen versagt wird, die Anwesenheit der Hälfte der Mitglieder des Nationalrates erforderlich. Doch ist, wenn es die im Bundesgesetz über die Geschäftsordnung des Nationalrates festgesetzte Anzahl der Mitglieder verlangt [gemäß § 67 Absatz 1 Ziffer 1 Geschäftsordnungsgesetz 1975: ein Fünftel der Abgeordneten], die Abstimmung auf den zweitnächsten Werktag zu vertagen.

Ich vermute, dass Kurz von vornherein nicht damit gerechnet hat, dass Kickl sein Ministeramt hergeben würde. Doch immerhin hat er einen Preis genannt, zu dem er bereit gewesen wäre, die Koalition mit der FPÖ fortzusetzen. Das war taktisch nicht ganz ungeschickt: Denn durch dieses Angebot, das der Regierungspartner nach seiner Logik vielleicht nur ablehnen konnte, hat der Bundeskanzler Kompromissbereitschaft beziehungsweise guten Willen signalisiert.

Wahrscheinlich argwöhnt oder weiß Kurz, dass es in der Causa Ibiza noch zu weiteren Enthüllungen kommt. Die Befürchtung von Johann Gudenus, dass noch nicht veröffentlichtes ihn kompromittierendes Material existiert, mag die Beunruhigung des Regierungschefs untermauern. Je mehr zusätzliche Belastungsmomente auftauchen, umso mehr wird sich auch in FPÖ-affinen Kreisen die Empörung über die illegalen Methoden der Informationsbeschaffung zugunsten eines Ekels vor den dokumentierten Inhalten verflüchtigen.

Der Bundeskanzler nimmt die Gefahr eines erfolgreichen Misstrauensvotums auf sich und ebenso die Bürde, jedenfalls bis zur Nationalratswahl politisch paralysiert zu sein, weil ihm keine Parlamentsmehrheit zur Durchsetzung seiner Reformprojekte zur Verfügung steht. Dafür hat er sich frühzeitig aus einer Mithaftung für die Ibiza-Affäre und deren allfällige Weiterungen herausgezogen. Das mag eine kluge Vorausschau oder eine Fehleinschätzung sein. So viel Mut zum Risiko wirkt auf den bundesdeutschen, von Merkel eingeschläferten Beobachter jedenfalls verstörend.

Noricus

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