28. Januar 2015

(357439) 2004 BL86




Computerlogbuch, Sonnensystem, Orbis Tertius. Sternzeit 2457072,6:
 
Wenn Sie, lieber Leser, am gestrigen späten Nachmittag es verabsäumt haben sollten, einen Blick gen Himmel zu werfen, um wenigstens einen flüchtigen Blick auf den himmlischen Besucher zu erhaschen, der der Erde im Fall einer Kollision gefährlich hätte werden können, wie die Medien (wie in solchen Fällen üblich) warnten - was die Webseite der Welt zu der hübschen Fehlleistung
        "Heute verfehlte der Asteroid "2004 BL86" unsere Erde. Das ist
       gut so, er wäre sonst gefährlich gewesen"
 veranlaßte - oder wenn Sie all dies nicht einmal zur Kenntnis genommen haben sollten, dann sind Sie aus drei Gründen entschuldigt.
 
Zum einen war es der Beschluß der Olympischen, daß der Bereich der ehemaligen *Germania transalpina* ganztägig unter die Schirmherrschaft des *Jupiter pluvius* gestellt sei, so daß ein Blick nach oben dazu angetan war, den Titel des späten Fernsehmonologs von Samuel Beckett zu evozieren: "Nur noch Gewölk..."

Zum Zweiten fand die nächste Annäherung des Asteroiden, dessen Durchmesser zwischen 400 und 1000 Metern geschätzt wird, weniger als eine Viertelstunde nach Sonnenuntergang statt, zu einem Zeitpunkt also, zu dem die Helligkeit des Taghimmels immer noch alle Gestirne überdeckte. Erst nach dem Ende der sogenannten "bürgerlichen Dämmerung" und dem Beginn der "astronomischen Dämmerung" (sobald die Sonne mehr als 10 Grad unter dem Horizont steht) werden die hellsten Sterne und Planeten sichtbar. In Flensburg begann diese Phase gestern um 18 Uhr 12; um 18 Uhr 55 war die volle Dunkelheit erreicht (für München lauteten die entspechenden Zahlen 18:15 und 18:52. An der kürzeren Dämmerungsdauer merkt man, daß Bayern näher an den Tropen, mithin auch den beiden Wendekreisen der Sonne, liegt und der scheinbare Lauf des Tagesgestirns über den Himmel einen steileren Bogen beschreibt.)
 
Zum Dritten wäre ein solcher Blick selbst bei dunkelstem und klarstem Himmel (die Astronomen sprechen hier selbst im Deutschen vom "Seeing", wobei auch die Abwesenheit störend aufgehellter Stadthimmel und die Luftunruhe der Atmosphäre mitgemeint sind) mit dem bloßen Auge ohne Erfolg gewesen. Zum Zeitpunkt seiner größten Annäherung erreichte 2004 BL86 gerade einmal eine visuelle Größenordnung der 9. Größenklasse, Diese "Magnituden", das Eichmaß der Helligkeit, sind logarithmisch gehalten: ein Objekt der 2. Größenklasse ist um 2,58 Mal lichtschwächer als eines der ersten; bei fünf Größenklassen beträgt der Helligkeitsunterschied zwischen zwei Objekten genau 1:100. Zum Vergleich: die hellsten Sterne haben eine Magnitude von 0 bis 1; die beiden hellsten Planeten, Venus und Jupiter, können in ihen strahlendsten Phasen -0,5mag erreichen; die leuchtschwächeren Sterne, die noch auf den Sternkarten in die Verbindungslinien der klassischen Sternbilder eingezogen werden, leuchten mit 3-4mag; und alle Sterne unterhalb der 6. Größenklassen bleiben dem "unbewaffneten" Auge stets unsichtbar.  
 
Anders als beim Meteoriteneinschlag im russischen Tscheljabinsk vor zwei Jahren bestand diesmal kein Risiko für die Erde und ihre Bewohner - der Abstand des vor elf Jahren im Rahmen des Projekts LINEAR (das Kürzel steht für "LIncoln Near Earth Astroid Research") des Massachusetts Institute of Technology (MIT) entdeckten Asteroiden betrug selbst bei seiner größen Annäherung noch gut 1,2 Millionen Kilometer, also gut das Dreifache der Mondentfernung.In aller Regel geht von einem Asteroiden auch dann keine Gefahr aus, wenn seine Bahn die der Erde kreuzt (man spricht dann von einem "Apollo"-Asteroiden), wie in Fall von 2004 BL26. Der sonnennächste Punkt seiner Umlaufbahn beträgt 0,8967 Astronomische Einheiten (mit denen die Entfernung Erde-Sonne, rund 150 Millionen km, bezeichnet wird); der sonnenfernste, das Aphelion, beträgt 2,1 AU, und seine Umlaufzeit von 672,5 Tagen entspricht fast genau der des Mars mit 687 Tagen. Da sein Orbit um fast 9 Grad gegenüber der Ekliptik, der Umlaufbahn der Erde um die Sonne, gekippt ist, befindet er sich die meiste Zeit, salopp gesprochen, "über" oder "unter" ihr. (Natürlich gibt es im Weltraum kein Unten oder Oben; aber das Bild ist anschaulich.)

Die genauen Angaben zu Größe des Asteroiden und den Daten der Umlaufbahn finden sich unter anderem auf dieser Website der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA (NEODys-2, "Near Earth Objects - Dynamic Site"). Bis gestern wurden noch zwei Schätzwerte für die Größe gelistet - 477 sowie 1067 Meter. Der erste beruhte auf der Annahme, daß es sich um einen Asteroiden von Typ S handelte, also aus Stein und Metallverbindungen, die in der Regel eine Albedo von 0,2 aufweisen (also ein Fünftel des Sonnenlichts reflektieren); wohingegen Asteroiden des Typs C (für "carbon", Kohlenstoff), die rund drei Viertel aller Asteroiden ausmachen und zu den dunkelsten Himmelsobjekten überhaupt zählen und nur eine Albedo von 0,04 besitzen. Somit müßte, um die gleiche Helligkeit für einen Betrachter die erlangen, der Durchmesser größer ausfallen. Mittlerweile ist durch die Auswertung der Beobachtungsdaten der Durchmesser als 325 Meter (plus/minus 70 Metern) korrigiert worden; dafür hat sich herausgestellt, daß 2004 BL26 von einem Trabanten begleitet wird.
Hier finden Sie einen Zusammenschnitt von 20 Radarbildern des Radarobservatoriums der NASA in Goldstone, Kalifornien; hier einen Videomittschnitt durch ein Liebhaberteleskop der größeren Bauart.

Die sechsstellige Zahl an Anfang der Bezeichnung stellt übrigens eine fortlaufende Kennziffer dar, wie sie jeder Asteroid erhält, sobald seine Bahndaten hinreichend genau bestimmt worden sind. Mit der Ära der automatischen Himmelsüberwachung, wie sie unter anderem LINEAR darstellt, ist die Anzahl der entdeckten Gesteinsbrocken natürlich um ein Vielfaches gestiegen; davor lag sie bei knapp 8000. Aber schon der deutsch-amerikanische Astronom Walter Baade (1893-1960) prägte dafür den wenig schmeichelhaften, aber prägnanten Ausdruck "vermin of the sky", Himmelsungeziefer; weil die Spur eines solchen Brummers leicht über Stunden belichtete Aufnahmen filigraner, lichtschwacher Objekte ruinieren kann.
 
Bahnelemente, dürre Zahlen, Elemente einer Statistik, chemische Zusammensetzung. Das ist natürlich nicht der Stoff, aus dem die romantische frisson der Himmelskunde besteht, der "Hauch des Unendlichen", die Ausweitung der irdischen Perspektive in Abgründe des Raum und der Zeit, die den primären Reiz der Astronomie ausmacht - und die auch in der Literatur, die dies als Spielwiese nimmt, so oft das entscheidende Moment ist, das den Leser gefangennimmt. Aber es ist das tägliche Brot dieses Berufsstands: 99,9 Prozent der Arbeit eines Astronomen macht solches Erbsen- und Himmelsinsektenbeinzählen aus. (Und das sind nur 10 oder 5 Prozent der gesamten Arbeitszeit: der Rest entfällt auf Vorlesungen, Aufbereitung von Messdaten, das Schreiben von Papers, das Ausfüllen von Anträgen und auf Tagungen und Arbeitsgruppen.) Das unterscheidet sich in nichts vom Alltag eines jeden anderen Wissenschaftlers. 
 
Dieser ernüchternde Kontrast zwischen der dürren, staubtrocken abstrakten Statistik und der namenlosen Staunen, das der Sternenhimmel in allen anderen Betrachtern zu erwecken vermag, ist kein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Walt Whitman hat das in einem der Gedichte der "Leaves of Grass", seiner seit 1855 über dreissig Jahre immer wieder erweiterten Sammlung, in Worte gefasst:

When I heard the learn’d astronomer,
When the proofs, the figures, were ranged in columns before me,
When I was shown the charts and diagrams, to add, divide, and measure them,
When I sitting heard the astronomer where he lectured
               with much applause in the lecture-room,
How soon unaccountable I became tired and sick,
Till rising and gliding out I wander’d off by myself,
In the mystical moist night-air, and from time to time,
Look’d up in perfect silence at the stars.

(1865)

Als ich den gelehrten Astronomen hörte,
Als die Beweise, die Zahlen in Reihen geordnet vor mir lagen,
Als man mir die Karten und Diagramme zeigte,
             daß ich sie addiere, dividiere und messe,
Als ich sitzend den Astronomen hörte, wo er
            unter reichem Beifall im Hörsaale las —
Wie bald wurde ich da unerklärlich müde und krank:

Bis ich mich erhob und hinausschlich und von selbst davonwanderte
In die mystische, feuchte Nachtluft und von Zeit zu Zeit
Im vollkommenen Schweigen emporsah zu den Sternen.

(Ü: Max Hayek, 1919)

Hier finden Sie eine graphische Umsetzung dieser Ermahnung, den "sense of wonder" nicht außen vor zu lassen, hier eine erstaunlich effektive Rezitation.


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Ulrich Elkmann


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