1. März 2014

Zu Zettels Todestag (5): Der Achtundsechziger

Im Jahre 1968 ist Zettel 30 Jahre alt gewesen. Kein Student mehr, noch nicht Professor. In einer kleinen Serie erinnerte er sich 40 Jahre später an diese Zeit. Ich habe die Artikel seiner Serie "Wir Achtundsechziger" leicht gekürzt zu einem zusammengefasst, deshalb Vorsicht: es folgt ein langer Schmöker!

Kallias

Wir Achtundsechziger

Es fing keineswegs 1968 an, auch nicht 1967. Es fing - jedenfalls in meiner Sicht - 1962 an. Nämlich mit der "Spiegel"-Affäre".

Ich habe die Adenauerzeit nicht als die "bleierne Zeit" erlebt, als die sie auch meine diskutierenden vier Generationsgenossen im "Philosophischen Quartett" wieder einmal geschildert haben.

Gewiß, es gab ein Ausmaß öffentlicher Kontrolle über das Leben des Einzelnen, wie es sich heute Sozialisten erträumen.

Man konnte "erledigt" sein, wenn man ein uneheliches Kind bekam. Homosexuelle standen mit einem Bein im Gefängnis.

Meine Mutter, die Gerichtsgutachterin war, hatte eine Frau zu begutachten, die der "Kuppelei" angeklagt war. Sie hatte es nicht verhindert, daß ihr Enkel mit einem Mädchen gemeinsam in ihrer Wohnung übernachtete. Darauf stand Gefängnis.

Von meiner Schule wurde ein Schüler verwiesen - consilium abeundi mit dem Verbot, ihn in irgendein Gymnasium des Bundeslandes aufzunehmen -, weil er Aktfotos in die Schule mitgebracht hatte.

Arno Schmidt wurde im Land Rheinland- Pfalz der "Gotteslästerei und Pornographie" angeklagt, wegen "Seelandschaft mit Pocahontas", einem seiner frühen Meisterwerke.



Aber verurteilt wurde er nicht, Arno Schmidt. Er zog nach Darmstadt, Hessen. Und er bekam ein Gutachten des Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Hermann Kasack, das nicht ehrender hätte ausfallen können. Damit war sein Freispruch klar.

So war das generell, in dieser heute so oft negativ dargestellten Adenauerzeit: Es gab ein Maß an "Gegenöffentlichkeit", von dem wir heute nur träumen können.

In Bonn herrschten die Schwarzen, das ist wahr.

Aber in vielen Ländern - im Hessen von Georg August Zinn, im Niedersachsen von Hinrich Wilhelm Kopf, im Berlin von Ernst Reuter, Luise Schröder, Willy Brandt zum Beispiel - herrschten ebenso unangefochten die Linken.

Der Geist stand links. Der "Spiegel" war das einzige Nachrichtenmagazin; mit einer Macht, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Die Verlage, die meisten Zeitungen, das gesamte Geistesleben waren fest in linker Hand.

Die "Gruppe 47", eine Vereinigung von fast ausschließlich linken Schriftstellern, hatte ein Monopol, wie es heute niemand mehr aufbauen kann.

Wer dort durchfiel, der war erledigt. Wer die Protektion von Heinz Werner Richter genoß, der hatte es geschafft; wer nicht, der hatte es schwer. Koeppen und Schmidt haben das zu spüren bekommen; Grass und Böll wurden hochgeschrieben.



Das alles war also schön im Gleichgewicht. Die Macht Adenauers in der Politik, die von Pferdmenges in der Wirtschaft. Die von Augstein (und vielen anderen Linken und Liberalen) in der Publizistik. Die von Rowohlt und Unseldt in den Verlagen. Die von Richter, bald auch Grass, Enzensberger, Böll im "Geistesleben".

Aus den Fugen geriet das 1962 mit der "Spiegel"-Affäre: Die Politik versuchte dieses Gleichgewicht zu beseitigen, indem sie das wichtigste Presseorgan zu vernichten trachtete.

Ich habe damals an meiner ersten Demonstration teilgenommen. Ich habe damals - was mir zuvor ganz ferngelegen hatte - zum ersten Mal den Verdacht gehabt, daß einige unserer Politiker keine Demokraten sein könnten.

Franz-Josef Strauß war, so sehe ich es heute, ein Demokrat. Aber ihm fehlte der Sinn für Maß und Proportionen. Er wollte den persönlichen Gegner fertigmachen, Rudolf Augstein. (Der das umgekehrt auch mit Strauß vorhatte).



Also, so schlimm war das im Grunde nicht, 1962. Aber für uns, die jungen Leute von damals, war es ein Wendepunkt.

Die "Spiegel-Affäre" war, aus meiner heutigen Sicht, das Ereignis, das zu den Verirrungen, zu den Maßlosigkeiten, zu den Dummheiten vieler Achtundsechziger führte. Damals begannen wir das Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat zu verlieren.

Wir hätten freilich aus ihr auch lernen können, wie gefestigt unsere deutsche Demokratie schon damals war. Denn Augstein obsiegte ja.

Keine einzige Nummer des "Spiegel" fiel aus. In Augsteins Auftrag hatte, als dieser im Gefängnis saß und die Bibel studierte, (Claus) Leo Brawand(t) die Redaktions- Leitung übernommen.

Brawandt war der Verhaftung entgangen, weil er zum Zeitpunkt der Razzia im Schrank gewesen war. ("Ich gehe immer in den Schrank, wenn ich nachdenken will").

Am Ende stand Strauß als der Übeltäter da, und sein Traum von der Kanzlerschaft war ausgeträumt. Die Auflage des "Spiegel" dagegen stieg und stieg.

Aber eine Bewegung war entstanden. Staatskritisch, skeptisch. Sich langsam radikalisierend. Natürlich von den DDR- Kommunisten nach Kräften gesteuert.



War es wirklich 1968, als dann diese Bewegung kulminierte? Nein, eigentlich nicht. Ich habe mich oft gefragt, wo eigentlich dieser Begriff der "Achtundsechziger" herkommt.

Ich glaube, er ist nichts als eine historische Anleihe. Es gab im 19. Jahrhundert die "Achtundvierziger", die Rebellen des Jahrs 1848. Diejenigen, über die, sofern sie alles heil überlebt hatten, gereimt wurde (das Heckerlied gibt es in vielen Versionen):
Er hängt an keinem Baume,
er hängt an keinem Strick,
er hängt an seinem Traume
von der deutschen Republik.
Daher kommen vermutlich die "Achtundsechziger".

In Deutschland war dieses Jahr kein in der Geschichte der Bewegung herausragendes.

In Frankreich vielleicht schon eher, der "Mai '68'", als auf dem Boul' Mich' die Studenten demonstrierten, und als zugleich in Nanterre die Renault- Arbeiter streikten.

Ich war damals in Paris; nicht bei den Arbeitern, aber auf dem Boul' Mich'.

Aber in Deutschland war das einschneidende Ereignis viel eher der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967.

Nur - "Siebenundsechziger", das klingt eben nicht so toll. Da fehlt halt der Anklang.



Für mich war 1967 ein wichtiges Jahr.

Ich war damals ein hoffnungsvoller Jung- Wissenschaftler, "Wissenschaftlicher Assistent, m.d.V.b."; so hieß das.

Ich ging, selbstverständlich, im Anzug und mit Schlips in die Uni; nein, die Universität. Die Studenten siezten sich untereinander, ich sie natürlich - und sie mich - auch.

Die Prüfungskandidaten erschienen im dunklen Anzug; die Kandidatinnen im Kleinen Schwarzen. Bei den Prüfungsterminen waren die Gänge voll dieser schwarzen Gestalten, die nervös auf- und ab gingen.

Nach der Prüfung erfuhr man nicht das Ergebnis; das wurde erst bei der Überreichung des Zeugnisses feierlich verkündet.

Ich hätte es nie gewagt, von mir aus am Zimmer meines Chefs anzuklopfen. Wenn ich mit ihm reden wollte, dann bat ich um einen Termin. Wenn er mich zu sich bat, dann fürchtete ich, daß es ein Problem gab.



Dann brach sozusagen die Studentenbewegung über mich herein.

Studenten hatten - ungewöhnlich, aber nicht gänzlich abwegig - eine Diskussionsveranstaltung organisiert. Es waren verschiedene Prominente für das Podium eingeladen worden, alles Professoren. Die Studenten fragten mich, ob ich nicht den "Werner Höfer" abgeben wollte, den neutralen Diskussionsleiter.

Das machte ich, schlecht und recht. Die Diskussion verlief ungewöhnlich turbulent, weil sich - ganz unüblich - Redner aus dem Publikum meldeten; teilweise recht rüde. Ich war froh, als ich das halbwegs bewältigt hatte.

Danach luden die Studenten, die das organisiert hatten, die Podiumsteilnehmer zu einer "Nachbesprechung" in ein Studentenwohnheim ein.



Und da saßen wir nun alle auf dem Boden, die Professoren und ich. Auf gleicher - geringer - Höhe wie die Studenten.

Seltsam genug.

Und diese Studenten, diese Studentinnen waren "unheimlich" (ein Wort, das ich in dieser Bedeutung auch gar nicht gekannt hatte) nett zu uns. Ich erinnere mich an eine fast blinde Studentin, die aus den USA gekommen war. Gut möglich, daß sie von dort vieles mitgebracht hatte,

Nett waren sie, diese Studenten. Aber auch in einer Weise "distanzlos", wie man damals sagte, die mich nachgerade fassungslos machte.

Eine Studentin fragte einen Professor, was er sich eigentlich von seiner Forschung erwarte. Ob er überhaupt glücklich sei.

Mich fragte jemand, wie ich denn meine Zukunft sehen würde. Welche Träume ich denn hätte.

Es wurde gefragt, wozu denn Wissenschaft überhaupt gut sei. Ob wir eigentlich "reflektieren" (auch so ein Wort) würden, was mit den Ergebnissen unserer Forschung angerichtet werden könnte.

Es wurde eine lange Nacht. Ich fing an, auf diese Fragen einzugehen, auch Professoren taten es (andere verschwanden sehr schnell).

Es war eindrucksvoll. Es hat mich sehr zum Nachdenken gebracht.



Ich weiß nicht, wie repräsentativ das ist für die Art, wie man damals mit der "Bewegung" in Kontakt kam. Mich jedenfalls hat es geprägt.

Ich habe danach den Kontakt zu diesen Studenten gesucht, ich bin in die einschlägigen Kneipen gegangen. Ich habe an vielen Diskussionen teilgenommen - über Marx natürlich, über Freud, über Mao dann, über Reich, über Marcuse. Alte Texte wurden als Raubdrucke wieder verfügbar gemacht; das habe ich alles gekauft und gelesen.



Es war befreiend.

Ich habe bald in der Uni keinen Anzug mehr getragen, sondern eine Lederjacke.

Ich habe linke Literatur gelesen; mich durch das "Kapital" hindurch gearbeitet, die vier oder fünf Bände der Werke von Rosa Luxemburg.

Mit den Kommunisten konnte ich mich nie anfreunden; aber ich bin in die SPD eingetreten.

Und damit in eine Welt gekommen, die ich nicht gekannt hatte: Ein Ortsverein in einem Arbeiter- Vorort. Die Genossen waren fast alle Stahlarbeiter oder Gewerkschaftsfunktionäre. Menschen, mit denen ich - außer vielleicht in einer Kneipe - nie Kontakt gehabt hätte.

Sie haben mich beeindruckt; ich habe zum ersten Mal gemerkt, daß ich auf vielen Gebieten dem "einfachen Mann" weit unterlegen war.

Natürlich war ich in gewisser Weise ein besonderer Vogel unter diesen Arbeitern; aber die abgehärteten und trickreichen SPDler, von denen die Älteren ja die Nazi- Zeit überstanden hatten, ließen sich von akademischen Graden nicht sonderlich blenden. Sie wählten mich zum "Bildungsobmann", und das war's denn auch.


Es war die Zeit zwischen dem Auftreten der sympathischen, unbefangenen, neugierigen Studenten, die mir - in der Provinz mit Zeitverzögerung zu Berlin - 1967 zuerst begegnet waren, und der Zeit, in der ganz andere "Typen" (dieses Wort begann damals populär zu werden) in den Vordergrund traten.

Mein Schlüsselerlebnis war eine der sich damals - es mag im Sommer 1967 gewesen sein - häufenden "Versammlungen". Professoren waren eingeladen worden. Einer versuchte seine Position zu erläutern (es ging, glaube ich, um eine "Institutsverfassung"; irgend so etwas jedenfalls). Dabei schritt er auf und ab, vor dem Publikum.

Und ein Student - ich kannte ihn gut, er war Kommunist geworden und ging später konsequenterweise ans Fließband, um die Arbeiter zu agitieren - setzte sich sozusagen auf seine Fersen. Lief hinter ihm her, schnitt Faxen, versuchte ihm etwas anzuheften.

Das Publikum johlte. Der Mann war der Held des Tages.

Natürlich hatte er sich von Fritz Teufel und Rainer Langhans inspirieren lassen, die damals in Berlin vor Gericht standen und dort die Clowns spielten.



Es war auch die Zeit der "Wandzeitungen". Ich habe damals eine solche Wandzeitung verfaßt, in der stand, daß ich mit diesen Leuten nichts zu tun haben wollte; daß ich ihre Kindereien für inakzeptabel hielt.

Es war das Ende meines Flirts mit den "Antiautoritären". Mit diesen Leuten, von denen nicht wenige seelische Probleme hatten ("Orgasmus- Schwierigkeiten" hatte Kunzelmann stolz der Welt mitgeteilt), die sie nun auf "die Gesellschaft" projizierten.

Derjenige, der die Faxen hinter dem Professor aufgeführt hatte, war ein Stotterer; einer, der in den Seminaren rot wurde, wenn er etwas zu sagen versuchte.

Aber als Mitglied der "Bewegung" fühlte er sich offenbar gut. Sich zu "engagieren" war für viele gleichbedeutend damit, sich ein Korsett anzulegen, das ihnen Halt gab.

Mir kam das alles - das Wort war damals noch nicht so geläufig wie heute - peinlich vor. Ich hatte eine tiefe Abneigung gegen diese Leute, die sich gehenließen, die andere mit ihren Problemen behelligten.



Ihre Nachfolger wurden sehr bald die Kiffer und LSD- Schlucker, die Heroinsüchtigen. Diese sich ständig gegenseitig "analysierenden" und bedrängenden "kaputten Typen". Die "umherschweifenden Hasch- Rebellen"; das "sozialistische Patienten- Kollektiv".

Mir war klar, daß aus diesem ganzen Psycho- Sumpf das hervorgehen würde, was immer aus solchen Phasen einer brodelnden Aufgeregtheit hervorgeht: Terror. Damals war es glücklicherweise, anders als bei richtigen Revolutionen, nur Psycho- Terror. Und er war auf diejenigen beschränkt, die sich ihm freiwiilig überantworteten.

Denn es dauerte nur ein paar Jahre, und aus den Libertären waren Stalinisten geworden. Aus den Clowns wurden Kommissare.



Aus den fröhlichen Anarchisten wurden Leute, die sich widerspruchslos der Herrschaft von selbsternannten Führern unterordneten. Die ihrer "K-Partei" nicht nur einen großen Teil ihres Lohns zufließen ließen, wie das viele Sektenmitglieder tun. Sondern die sogar, falls sie ein ererbtes Vermögen hatten, es ihren Führern überantworteten.

Es konnte diesen Leuten, die ja gerade erst für größtmögliche Freiheit eingetreten waren, nun gar nicht mehr autoritär genug zugehen. Ihre Häuptlinge, wie Christian Semler und Joscha Schmierer, hatten nun ihre Kaderparteien. Sie reisten nach Nordkorea und nach Albanien und ließen sich von den dortigen Diktatoren Geld zustecken. Verbrecher und Tyrannen wie wie Mao, Ho Tschi Minh, Enver Hodscha, selbst Pol Pot waren ihre Vorbilder.

Ich fand das widerlich. Meine heutige ausgeprägte Abneigung gegen jede Variante des Sozialismus ist damals entstanden.
Auch in diesen ersten Jahren gab es natürlich verschiedene Strömungen und Tendenzen; von den mehr oder weniger anarchistischen Bohémiens, den Schwabinger Krawallen entsprungen, unter denen Andreas Baader sich herumgetrieben hatte, bevor er die Knarre schicker fand, über die schon zuvor kommunistisch unterwanderten Atomgegner bis zum christlichen Sozialismus, dem Rudi Dutschke entstammte.

Aber damals, bis zum Ende der Sechziger, überwog doch das Gemeinsame aller dieser Tendenzen. Es hatte diese Gemeinsamkeit in der Oppostion gegen den Adenauer- Staat gegeben, gegen die "atomare Gefahr" (die man damals als die eines Atomkriegs sah; nicht als Super- Gau eines AKW), überhaupt gegen die Gesellschaft der fünfziger Jahre. Als es dann 1967 begann mit der Aufmüpfigkeit, war man nur gemeinsam stark. Das Verbindende war mehr der Stil als das Ziel.

Zumal das Ziel ja unklar war und im Lauf der "Bewegung" in den ersten Jahren keineswegs klarer wurde. Man wollte "irgendwie" - das Wort kam bald darauf in Mode - das Ganz Andere. Raus aus dem alten Stiebel, das war das gemeinsame Lebensgefühl. Wo hinein man stattdessen die Füße stecken wollte, das blieb im Vagen. Irgendwie halt ganz frei und ganz, ganz gerecht sollte es zugehen.

High sein, frei sein, überall dabeisein. Das war ein Spruch im Geist der Sprüche des Mai 1968 in Paris. Es brodelte; es war die Zeit einer zuerst fröhlichen, dann zunehmend ins Hektische umschlagenden diffusen Aufbruchstimmung. Dergleichen schafft Gemeinsamkeit. Seid umschlungen, Millionen!

Dann kam die Ernüchterung. Erst hatte es den Tod Benno Ohnesorgs im Juni 1967 gegeben, dann den Anschlag auf Rudi Dutschke im April 1968. Das hatte die "Bewegung" zunächst noch nicht behindert, sie im Gegenteil angefacht. Aber dann, ungefähr ab 1970, wurde immer deutlicher, daß diese Ereignisse symbolisch für etwas Generelles gestanden hatten: Es war Schluß mit lustig.

Die Zeit, in der man sich sozusagen über die Realität lustig gemacht hatte, war vorbei. Jetzt mußte man sich ihr stellen, der Realität.



Und indem sie das tat, zerbrach die "Bewegung". Das passierte nicht plötzlich. Sie krachte nicht zusammen, sondern es war eher ein Zerbröseln. Das Zurück in die Realität ging nicht nur auf verschiedenen Wegen, sondern in verschiedene Richtungen.

Vier Hauptrichtungen lassen sich unterscheiden; in jeder fand sich eine der Komponenten der "Bewegung". Und jede verwies zugleich zurück auf eine viel weiter in die Vergangenheit reichende deutsche Tradition:
  • Aus Seminarmarxisten wurden Stalinisten und Maoisten.

    Nirgends sonst, auch nicht in Italien und Frankreich, hatten Teile der "Bewegung" sich derart verbissen in die Schriften von Marx und Engels vertieft wie in Deutschland, waren sie dann mit einer solchen Gründlichkeit nicht nur zu Lenin fortgeschritten, sondern auch zu Hegel zurückgegangen.

    Das unglückselige Erbe dieser spekulativen deutschen Philosophie schlug wieder einmal durch. Es hub ein Streit um die wahre Lehre an wie im 19. Jahrhundert zwischen den diversen Hegelianern und später zwischen all den Richtungen des Sozialismus.

    Am Ende hatte jede dieser Diskussionsrunden ihre eigene "Partei", die die anderen in kommunistischer Radikalität zu übertrumpfen trachtete. Die blassen, bebrillten Studenten aus den Seminaren gebärdeten sich nun wie die leibhaftigen Kommissare. Diejenigen, die noch einige Jahre zuvor gar nicht genug nach Freiheit rufen konnten, orientierten sich jetzt an so großen Freiheitsfreunden wie Mao Tse Tung und dem Albaner Enver Hodscha, wenn nicht gar Pol Pot.

  • Aus kulturrevolutionären Anarchisten und Spontis wurden Terroristen.

    Neben den Seminarmarxisten hatte es von Anfang an diejenigen gegeben, die sich mehr um ihr Outfit, ihr Sexualleben und das Provozieren der Spießer kümmerten als um die "Kritik der Hegel'schen Rechtsphilosophie". Praktischere, kreativere, witzigere, aber auch aggressivere, destruktivere Leute als die Seminarmarxisten.

    Anfangs stießen sie mit der Staatsgewalt zusammen, weil sie "begrenzte Regelverletzung" übten. Dann sollte es mehr sein und Demonstrativeres, wie die Kaufhaus- Brandstiftung in Frankfurt im April 1968. Man glitt ab ins Verbrechen und erhob schließlich das Verbrechen zu seiner "Politik".

    Auch das stand in einer deutschen Tradition: Derjenigen der Fememorde in der Weimarerer Republik, der Brutalität der SA, mehr noch der SS. Die RAF war eine Organisation im Geist der SS - erbarmungslos, elitär, ihre Morde aus hehren Idealen herleitend und sie mit einem Auftrag der Geschichte rechtfertigend.

    Auch hier also ein Umschlagen: So, wie die freiheitlichen Seminarmarxisten am Ende im Totalitarismus ankamen, kippte der fröhliche Anarchismus der "Kommune 1" um in kaltblütige politische Kriminalität.

  • Aus Freizeit-Revoluzzern wurden linksliberale Akademiker.

    Das ist die sicherlich zahlenmäßig größte Entwicklung aus der Gemeinsamkeit der Achtundsechziger heraus. Für viele - vermutlich die meisten -, die in Berlin, die in Frankfurt und auch in Tübingen oder Freiburg sich in "Sit Ins" und "Besetzungen" übten, war das ja nicht ein Schritt hin zum Revolutionär.

    Es war, pointiert gesagt, die übliche studentische Aufmüpfigkeit, dem Geist der Zeit angepaßt. Studenten schlagen immer gern einmal über die Stränge. Auch das hat eine Tradition in Deutschland, bis hin zu gelegentlichen derben Übergriffen gegen "Philister". Gott, man ist doch jung und genießt seine akademische Freiheit.

    Diejenigen, die in dieser Weise bei der "Bewegung" mitmachten, ließen sich dadurch nicht daran hindern, ihr Studium, wenn auch vielleicht ein wenig verbummelt, hinter sich zu bringen. Sie wurden Professoren, Rechtsanwälte. Viele wurden Journalisten, die uns heute die Welt zu erklären versuchen. Auch unter den Politikern der demokratischen Parteien finden wir sie.

  • Aus Hippies wurden Grüne.

    Neben der seminarmarxistischen Verschrobenheit war ein zweiter Zug der Achtundsechziger spezifisch deutsch gewesen: Ihre Neigung zur Romantik. Man suchte zwar nicht die Blaue Blume, sondern das Rote Paradies. Aber die Neigung zum Negieren der Wirklichkeit, dieses Pathos des "Ganz Anderen" war eine Haltung, die ihre Wurzeln (auch) in der deutschen Romantik hatte.

    Eine unbedarftere Version war das, was sich aus der Hippie- Kultur in die "Bewegung" hinübergerettet hatte: Erdiges, ein gewisser Traditionalismus, die Wiederentdeckung des Einfachen Lebens.

    Sanfter, auch stärker weiblich geprägt als die anderen Strömungen und Tendenzen in der "Bewegung", wandten sich die so Denkenden und vor allem Fühlenden immer mehr der Natur zu, wie alle Romantiker. Am Ende fanden sie ihre Heimat in der Partei "Die Grünen".


  • Soweit der Versuch, ein wenig Struktur in die "Bewegung" zu bringen und in das, was in den siebziger Jahren aus ihr wurde. Natürlich läßt sich nicht jeder einzelne Beteiligte in ein solches Schema einsortieren; manche mögen vom Seminarmarxisten zum Grünen oder vom Hippie zum Terroristen geworden sein. Daß sie vereinfacht, liegt im Wesen jeder Kategorisierung und macht ihren Sinn aus.
    Bisher habe ich die Perspektive eines Erzählers eingenommen; desjenigen, der diese Zeit der Achtundsechziger erlebt hat und der nun darauf zurückblickt. Jetzt will ich mich damit befassen, warum das eigentlich so war.

    Warum was eigentlich wie war?

    Erstens, warum es um die Wende zu den siebziger Jahren eine weltweite Welle von Unruhen gab, deren Träger junge Menschen waren (sagen wir, zwischen 15 und 25 Jahren).

    Zweitens, warum diese Jugendbewegung in Deutschland gerade diejenigen Formen annahm, die ich in den früheren Folgen skizziert habe - vom fröhlichen Aufbruch über das Abgleiten in Lächerlichkeit und Autoritätswahn bis hin zu der Entmischung in den Siebzigern, die aus den ehemaligen Genossen wohlbestallte linksliberale Akademiker hat werden lassen, verbohrte Kommunisten, grüne Erretter der Welt, zynische Mörder und Terroristen.



    Daß es manchmal dem Verständnis für geschichtliche Bewegungen auf die Beine hilft, wenn man in Generationen denkt, habe ich das erste Mal verstanden, als ich eine Bemerkung von Arno Schmidt über die Romantiker gelesen habe: Das sei eine von Revolutionen, Krieg und ständigen Unruhen geschüttelte Generation gewesen, die sich ihre Welt der Märchen, des Mittelalters, der reinen Poesie als Gegenentwurf zu der üblen Realität geschaffen hatte, in der sie hatte aufwachsen müssen. (Aktuell und mit vielen Einzelheiten kann man das in Rüdiger Safranskis schönem Buch über die Romantik lesen).

    Seither habe ich es immer einmal wieder nützlich gefunden, mir solche kollektiven Erfahrungen einer Generation vor Augen zu führen und mich zu fragen, was sie für die Ereignisse einer Epoche bedeutet haben könnten; kürzlich zum Beispiel in Bezug auf die Frage, warum jüngere Amerikaner Barack Obama und ältere Hillary Clinton bevorzugen.

    Wie war das bei den Achtundsechzigern? Nehmen wir das Jahr 1970 als Bezugsjahr. Nehmen wir an, daß diese Unruhigen damals im Schnitt zwanzig Jahre waren. Dann waren das die Geburtsjahrgänge um 1950 herum, plus minus vielleicht fünf Jahre.

    Eine Generation mit der prägenden Erfahrung - nicht nur in Deutschland, sondern in den meisten Weltgegenden - eines unaufhörlichen Friedens. Mit der Erfahrung, daß alles immer besser wurde.

    Im freien Teil Europas entstand die friedliche, ökonomisch ungemein erfolgreiche "Nachkriegsordnung", die sich auf Kapitalismus, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gründete. In den USA erholte man sich, wie auch in Europa, von den Lasten des Zweiten Weltkriegs; nach 1953 auch denen des Korea-Kriegs, der dessen letzter Ausläufer gewesen war.

    Wer das Pech hatte, in einem der von den Kommunisten eroberten Länder oder Landesteile zu leben, hatte daran nur wenig Anteil. Aber immerhin, wenn man auch nicht frei war, so herrschte doch nicht mehr der nackte Terror, wie unter Stalin. Wenn man auch den Wohlstand, der sich in den kapitalistischen Ländern entwickelte, nur mit neidischem Staunen sehen konnte, so ging es doch auch unter den Kommunisten zumindest nicht ökonomisch bergab.

    Und selbst im armen China, das durch den Bürgerkrieg ausgepowert war, setzte nach der Flucht der legalen Regierung Tschiang Kai Tscheks, nach der Machtübernahme Maos so etwas wie eine Zeit des Wiederaufbaus ein. Das Niveau war im Machtbereich des Kommunismus nicht mit dem in der freien Welt zu vergleichen; aber die Richtung war dieselbe: Es wurde besser, mit der Aussicht auf sich immer weiter verbessernde Lebensverhältnisse.



    So wuchsen wir Achtundsechziger auf. In einer Zeit des ständigen Fortschritts, der in allen Lebensbereichen mit Händen zu greifen war.

    Ich habe das sehr intensiv erlebt. In den ersten Nachkriegsjahren lebte die ganze Familie in einem einzigen Raum, notdürftig durch Bretterwände unterteilt. Meine Eltern gingen "Ähren lesen", nachdem die Felder abgeerntet waren, und wir Kinder sammelten im Herbst Bucheckern, weil die nahrhaft waren. Aber schon 1950 hatten wir wieder ein Auto, natürlich einen VW, dann eine Wohnung, dann ein ganzes Haus. Meine Großmutter kam eines Tages begeistert nach Hause: Sie hatte beim Bäcker den ersten "Blätterteig" seit dem Krieg gesehen. Das war für sie das Zeichen, daß es jetzt wieder voran ging.

    So ging das immer weiter für diese Generation. Als man erwachsen geworden war, hatte man eine Kindheit und Jugend hinter sich, die nur eine Richtung gekannt hatte: Alles war immer besser, immer reicher, immer bequemer geworden. Der Frieden war eine selbstverständliche Konstante, die Freiheit war eine Konstante. Der Wohlstand war es gerade nicht. Er war ständig gewachsen, und dieses Wachstum war freilich eine Konstante gewesen; die erste Ableitung sozusagen war stabil geblieben.

    Ja, hätte eine solche Generation denn nicht allen Grund gehabt, zufrieden zu sein, ihren Eltern dankbar für das, was sie geleistet hatten, dem Kapitalismus dankbar für den Wohlstand, den er ermöglicht hatte, dem demokratischen Rechtsstaat für die Freiheit, die er garantierte? Auf den ersten Blick scheint es, daß die Kindheits- und Jugenderfahrungen dieser Generation eine Aufruhr gerade nicht rechtfertigten, daß also das generationsbezogene Erklärungsmodell sich als untauglich erweist.

    Warum waren die Achtundsechziger so undankbar, das von ihren Eltern und Großeltern Geleistete nicht anzuerkennen? Warum waren sie so realitätsblind, von einem sozialistischen Wolkenkuckucksheim zu träumen, statt sich an der realen Freiheit und dem realen Wohlstand zu erfreuen, in denen sie leben durften?



    Karl Marx erklärte revolutionäre Situationen daraus, daß sich ein Widerspruch zwischen Produktivkräften und den Verhältnissen in der Gesellschaft entwickelt hätte: "Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein", schreibt er in der "Kritik der politischen Ökonomie".

    Wie vieles, was sich Marx ausdachte, war das an der Französischen Revolution orientiert, wo in der Tat die Herrschaft des Adels zu einer Fessel für die Industrialisierung geworden war; wo die Befreiung des Bürgertums in der Tat große Produktivkräfte freigesetzt hatte.

    Für die Situation um 1970 herum ist dieses Erklärungsmodell offensichtlich ganz und gar ungeeignet.

    Denn erstens waren die revolutionären Tendenzen nicht gegen eine herrschende Klasse gerichtet, sondern ihre Träger waren die Kinder der Wohlhabenden, während die Arbeiter ihnen (mit wenigen Ausnahmen, wie kurzzeitig in Frankreich) ablehnend gegenüberstanden.

    Zweitens war damals der Kapitalismus nicht nur keine Fessel der Produktivkräfte, sondern gerade im damaligen Kapitalismus entwickelten diese sich bestens; das Kommunikations- und Computerzeitalter stand ja vor der Tür.

    Und drittens waren die revolutionären Tendenzen, die es damals zweifellos gab, nicht auf eine Befreiung der Produktivkräfte von Fesseln gerichtet, sondern ganz im Gegenteil auf deren Fesselung. Die "Grenzen des Wachstums" war der Titel des vermutlich einflußreichsten Buchs der siebziger Jahre, des "Berichts des Club of Rome". Wenn man damals von "Nullwachstum" sprach, dann meinte man nicht eine Stagnation des BSP, sondern einen erstrebenswerten Zustand, in dem die Wirtschaft allenfalls noch "qualitativ" wachsen sollte.

    Kurz - es ging 1968 nicht, wie 1789, um mehr Brot und weniger Steuern, sondern man wollte mehr Steuern, damit der Staat dieses Geld umverteilen konnte, und man wollte die Menschen davon überzeugen, daß Brot nicht alles ist. Vom "Konsumterror" wollte man sie befreien, die Mitmenschen.

    Diese (versuchte, freilich steckengebliebene und letztlich gescheiterte) Revolution war in der Tat eine "Kulturrevolution", keine Revoiution mit materiellen Zielen. Sie war die Revolution nicht einer Klasse, sondern einer Generation. Ihr Ziel war es nicht, das Los der Menschen zu verbessern, sondern diese selbst zu besseren Menschen zu machen.



    Und doch paßt Marx' Revolutionstheorie in gewisser Weise auf diese revolutionäre Stimmung der Achtundsechziger. Zwar hatten sich Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte nicht auseinanderentwickelt. Aber in anderer Hinsicht gab es doch so etwas wie eine Ungleichzeitigkeit, und es gab auch eine Fesselung aufgrund dieser Ungleichzeitigkeit.

    Was sich auseinanderentwickelt hatte, das waren die Lebensverhältnisse und die herrschende Moral. Diese Moral - die Moral der Väter, der Großväter - entsprach nicht mehr den Verhältnissen, in denen die Nachkriegsgeneration aufgewachsen war. Sie wurde deshalb von dieser als eine Fessel empfunden.

    Wie 1789 erzeugte das dieses Lebensgefühl: Werft die Fesseln ab! Erstreitet euch eure Freiheit! Nur war es nicht eine Klasse, die dieses Lebensgefühl hatte, sondern eine Generation; nur war die erstrebte Freiheit nicht die, seine Träume von dem Weg aus der Armut in den Wohlstand zu verwirklichen, sondern es war die Freiheit, "sich selbst zu verwirklichen".



    Die herrschende Moral ist nicht, wie Marx meinte, die Moral der Herrschenden (die halten sich oft gerade nicht an die herrschende Moral). Sondern es ist die Moral der Generation der Väter, der Großväter. Von ihnen lernt die junge Generation, was gut ist und was böse, was man darf und was nicht, was anständig ist und was unanständig.

    In relativ stabilen Zeiten funktioniert diese Weitergabe der Moral ohne Probleme; auch wenn ein wenig Aufmüpfigkeit zum Erwachsenwerden gehört. Aber wenn die Zeiten, in denen die ältere Generation lebte und sich behaupten mußte, sich radikal von denen unterscheiden, in denen die jüngere aufwächst, dann erscheint diese überkommene Moral als nicht mehr legitimiert.

    Das war um 1970 herum weltweit der Fall; und hier liegt die Wurzel dieser weltweiten Jugendrevolte.

    Die Generationen der Väter und der Großväter hatten fast vierzig Jahre lang - von 1914 bis zum Anfang der fünfziger Jahre - in Zeiten des Kriegs, der Wirren, der Armut, der Unterdrückung zurechtkommen müssen. Das konnte man nur mit "Sekundärtugenden", die damals eben alles andere als sekundär gewesen sind - Fleiß, Disziplin, Gehorsam, vor allem auch Anpassung.

    Diese Tugenden waren es auch, die den schnellen Aufstieg nach 1950 ermöglichten. Ein solches "Goldenes Zeitalter" findet man oft nach dem Ende von Kriegswirren, weil dann alle diese Tugenden in den Dienst friedlicher Zwecke gestellt werden können.

    Es war, mit Freud gesprochen, eine Zeit, in der das Realitätsprinzip eisern geherrscht hatte; in der dem Lustprinzip, angesichts einer harten Realität, nur wenig Spielraum gelassen werden konnte. Eine "skeptische Generation" hat der Soziologe Helmut Schelsky diese Generation der Väter und Mütter der Achtundsechziger genannt - desillusioniert, realitätsnah, ohne Flausen im Kopf.

    Der Frieden, der wachsende Wohlstand, die Freiheit in der Epoche, in der die Achtundsechziger aufwuchsen, ermöglichten aber just solche Flausen. Sie ermöglichten ein lustvolleres Leben, ein weniger von Mühsal geprägtes Leben als das der Eltern und Großeltern. Und sie ermöglichte zugleich den Luxus einer sozusagen höheren, einer altruistischeren, einer gewissermaßen edleren Moral als die der Sekundärtugenden.

    Für die Eltern und Großeltern hatte die moralische Anforderung gelautet, die eigene Familie durch schwere Zeiten zu bringen, dafür fleißig, diszipliniert und genügsam zu sein. Die Achtundsechziger konnten sich eine Moral leisten, die das Glück der Menschen in Vietnam und überhaupt weltweit, die ein "entfremdetes Leben" für alle, die "Freiheit von Ausbeutung" zum Inhalt hatte.

    Es war eine infantile Moral, eine zugleich hedonistische und überstrenge Moral; eine Moral, die alles forderte und alles beanspruchte. Aus ihr leitete sich das ab, was an der Oberfläche die Zeit der Achtundsechziger so widerspruchsvoll machte - der Traum vom einfachen Leben ebenso wie das Engagement für die "Befreiungskämpfe in der Dritten Welt", die versponnen Lehren der Kathedersozialisten ebenso wie die blutige Praxis der RAF.
    Aber vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit einer Generation gab es große nationale Unterschiede. Überall zeigte sich nationale Prägung, wurden nationale Traditionen aufgegriffen.

    Der Mai 1968 in Frankreich war eine Inszenierung nach dem Vorbild der Grande Révolution. Die Hippies an der amerikanischen Westküste waren Nachfahren der Pioniere, die einst diesen Westen erobert hatten; das war eine Grass Root Revolution, ein Zurück zu den Wurzeln.

    In Prag versuchte man, leise und mit List dem Kommunismus zu entkommen, so wie es in der Tradition eines kleinen Volks lag, das sich traditionell auf diesem Weg gegen die Großen ringsum zu behaupten versucht hatte. In Italien agierten die Brigate Rosse in der Tradition der sehr italienischen Verquickung von Politik und Verbrechen, die sich bis in die Zeit der Borgias zurückverfolgen läßt; halb Garibaldi, halb Rinaldo Rinaldini.



    Auch in Deutschland war die Jugendrevolte durch solche nationalen Besonderheiten geprägt; sie trug die Spuren der Romantik ebenso wie diejenige der Hegel- Marx'schen Tradition, die Politik philosophisch zu überhöhen.

    Aber dann gab es auch noch Aktuelleres, Zeitgeschichtlicheres. Es gab die Prägung, die diese Generation durch die vorausgehenden Jahrzehnte deutscher Geschichte erfahren hatte.

    Es war eine widersprüchliche Prägung. Einerseits waren diese jungen Leute, wie man zu sagen pflegt, "die Kinder ihrer Eltern". Sie waren von diesen viel mehr beeinflußt, als sie dachten. Sie waren ihren Eltern viel ähnlicher, als sie es wahrhaben wollten.

    Andererseits rebellierten sie gegen diese Eltern, erbitterter als irgendwo sonst, außer in China. Beides zusammen machte das Spezifische dieser deutschen Variante der globalen Jugendbewegung aus. Zu beiden Aspekten nun ein paar Erläuterungen.



    Seine eigene Ähnlichkeit mit anderen merkt man selten; man sieht stets eher die Unterschiede. Daß Kinder ihren Eltern ähnlich sehen, bemerken Außenstehende sofort, die Kinder selbst selten. So ist es auch mit Charakterzügen, mit Einstellungen und Anschauungen.

    1968 war die Bonner Republik so alt, wie jetzt die Berliner Republik ist: Knapp zwanzig Jahre. Die Nazi- Zeit lag kaum länger zurück als heute die Zeit der DDR. Die Achtundsechziger waren so wenig in einer Umgebung mit einer stabilen, selbstverständlichen freiheitlich- demokratischen Tradition aufgewachsen wie ihre heutigen Altersgenossen, die in Rostock oder Cottbus groß wurden.

    Und auch die Weimarer Republik, die heute nur noch Stoff von Geschichtsbüchern ist, war noch gegenwärtig. Wer um 1950 herum geboren war, dessen Eltern hatten sie noch als Kinder oder Jugendliche, dessen Großeltern hatten sie als Erwachsene erlebt. Mein Großvater hatte Geld aus der Inflationszeit aufbewahrt und erzählte mir, wie er später in der Weltwirtschaftskrise arbeitslos wurde und was das für die Familie bedeutete.

    Auch das Politikverständnis nicht nur der Nazizeit, sondern eben auch noch der Weimarer Zeit war für die Achtundsechziger lebendige Vergangenheit. Ein Verständnis von Politik, das im Andersdenkenden den Feind sah, den man bekämpfte, oft buchstäblich bis aufs Messer. Die Weimarer Republik war durchzogen gewesen von politischer Gewalt; von den Bluttaten der Freicorps und der Roten Ruhrarmee, von den Morden an Rosa Luxemburg und Walter Rathenau, vom Terror der SA und der Rotfront in den Jahren ihres Untergangs.

    Daß die Achtundsechziger Bewegung in Deutschland in einem Ausmaß in politischer Kriminalität endete, wie das außer in China nirgendwo auf der Welt der Fall war, muß meines Erachtens in diesem Zusammenhang gesehen werden. So sehr die Achtundsechziger gegen ihre Eltern und Großeltern aufbegehrten - in vielem dachten sie wie diese.

    Daß Politik nicht darin besteht, die Welt zu verändern, sondern Interessen auszugleichen; daß dem Andersdenkenden derselbe Respekt zusteht, den man für die eigene Meinung in Anspruch nimmt; daß Politik nicht auf der Straße gemacht wird, sondern in Wahlkabinen und in den Parlamenten - diese demokratischen Selbstverständlichkeiten waren den meisten deutschen Achtundsechzigern keineswegs selbstverständlich.

    Die Reeducation, so nötig und so erfolgreich sie gewesen war, hatte noch nicht wirklich zu einer tiefgreifenden Änderung der Mentalität vieler Deutscher geführt; auch nicht in der Generation der in der Nachkriegszeit Geborenen. Der demokratische Firniß war noch dünn.

    Und bei einer Minderheit war er so dünn, daß sie sich sogar das Recht nahm, Menschen zu ermorden, nur weil sie nicht dieselbe politische Gesinnung hatten wie sie selbst.



    Insofern also waren die Achtundsechziger "Kinder ihrer Eltern". Andererseits wollten sie das eben nicht wahrhaben. Wie die Anderen weltweit rebellierten sie gegen die Eltern. Aber es war eine sehr spezielle Rebellion, eine viel problembeladenere.

    Die Woodstock-Generation in den USA fand die Eltern spießig und angepaßt. Die Generation des Mai '68 in Frankreich fand sie unentschlossen und mutlos, weil sie nicht die Revolution machen wollte. Die deutschen Achtundsechziger aber sahen in ihren Eltern sehr oft moralische Versager, wenn nicht Handlanger des Verbrechens.

    Je mehr meine Generation sich mit den Verbrechen der Nazis befaßte - und das geschah in den fünfziger, den sechziger Jahren durchaus, auch in der Schule -, umso drängender wurde die Frage, wie die Generation der Eltern so etwas hatte zulassen können, wieso die meisten sogar in irgendeiner Form mitgemacht hatten.

    Einen Dialog darüber gab es kaum. Die Eltern - Menschen, die es ihr Leben lang schwer genug gehabt hatten - verstummten vor den Anklagen, dem selbstgerechten Moralisieren ihrer Kinder. Es war, was das Politische anging, eine Nicht- Kommunikation zwischen den Generationen, wie man sie sich heute als Jüngerer vermutlich kaum vorstellen kann.

    Viele der Achtundsechziger wußten noch nicht einmal, was ihre Eltern eigentlich zwischen 1933 und 1945 gemacht, welche Funktionen und Ämter sie gehabt, was sie im Krieg erlebt hatten. Es war ein allgemeines Schweigen.

    Wie lebt man als junger Mensch mit einer solchen Belastung? Es gab verschiedene Auswege. Man konnte sie einfach ignorieren, es sich im Konsum gut gehen lassen. Das taten sehr viele. Aber die Engagierteren, die Sensibleren suchten einen anderen Weg.



    Was ich jetzt beschreibe, das ist eine Vermutung. Ich kann es nicht beweisen, aber es kommt mir plausibel vor: Mir scheint, daß viele der Achtundsechziger diesen, sagen wir, Schweige- Konflikt mit den Eltern zu bewältigen versuchten, indem sie das taten, was sie an ihren Eltern vermißten: Sie zogen in den Widerstand. Stellvertretend für die Eltern. Sie wollten das nachholen, was diese ihrer Ansicht nach versäumt hatten.

    Die deutsche Achtundsechziger Bewegung bekam dadurch etwas Gespenstisches, Unwirkliches. Sie war ein Kampf gegen den Faschismus. Nur gab es diesen ja nicht mehr.

    Also mußte man ihn erfinden. Die kommunistische Propaganda aus der DDR lieferte dazu viel an Grundlegung. Eine Kampagne nach der anderen rollte mit dem Ziel, einen führenden Politiker der Bundesrepublik als Nazi zu verunglimpfen; von dem "SA-Mann Schröder" (langjähriger Außen- und Innenminister; 1969 Heinemann als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten unterlegen) über den "NS-Propagandisten Kiesinger" bis zu dem "KZ-Baumeister Lübke" und dem "Kommentator der NS-Gesetze Globke".

    Schon diese formelhafte Wiederholung der jeweiligen herabsetzenden Bezeichnung zeigt, wie hier Propaganda am Werk war. Aber wir Achtundsechziger glaubten dieser Propaganda nur allzu bereitwillig, die, aus der DDR gesteuert, über Medien wie "Konkret" verbreitet wurde und Mainstream- Medien wie den "Spiegel" und den "Stern" nicht unerheblich beeinflußte. Sie bewies für viele von uns, daß der Adenauer- Staat nur eine Fortsetzung des NS-Staats war; daß die "herrschenden Kreise", die den Nazis an die Macht verholfen hatten, weiter an den Schalthebeln saßen.

    Wir glaubten das so sehr, daß der unglückliche Schuß eines überforderten Polizisten, der Benno Ohnesorg tötete, als Fanal eines neuen Faschismus gesehen, daß die Schüsse eines verwirrten Sonderlings auf Rudi Dutschke der "Springer- Presse" in die Schuhe geschoben wurden.

    Es paßte ja alles ins Bild. Der Faschismus stand wieder vor der Tür; so bildete man es sich ein.

    Aber diesmal, so dachten viele, würde man es nicht machen wie die Eltern. Man würde sich wehren. Das war der Nährboden dafür, daß die RAF-Mörder auf so viel heimliche, teils auch gar nicht so heimliche Zustimmung, ja auf Unterstützung rechnen konnten. Denn die hatten sie; die "klammheimliche Freude" des "Tupamaro" war kein Einzelfall.



    Die Wahnvorstellung vom neuen Faschismus, den es zu bekämpfen gelte, stand in einem fast absurden Gegensatz zu einer Realität, die den Rebellierenden so viel Freiheiten ließ, wie sie sich nur wünschen konnten.

    Jedenfalls war das in den ersten Jahren so.

    Man "besetzte" an den Universitäten Dekanate und Rektorate; und die Rektoren und Dekane holten nicht etwa die Polizei, um dem Recht zur Geltung zu verhelfen, sondern sie verzogen sich in irgendwelche andere Räume, in denen der Betrieb notdürftig weiterging. Das "Sprengen" von ungeliebten Lehrveranstaltungen und Klausuren (in Statistik zum Beispiel) war an der Tagesordnung; und keiner der Täter wurde der Universität verwiesen.

    Es war also einerseits eine Bereitschaft da, Gewalt anzuwenden; man kämpfte ja gegen den "Faschismus". ("Faschistoid" wurde zur beliebten Vokabel; so nannte man alles, das man bekämpfte und was so offensichtlich nicht faschistisch war, daß man dafür einen Ersatznamen brauchte). Und andererseits hatte man in den ersten Jahren der "Bewegung" die Erfahrung gemacht, wie leicht man "die Herrschenden" ins Bockshorn jagen konnte.

    Beides zusammen führte ebenso zur Arroganz und maßlosen Selbstüberschätzung der K-Gruppen wie zum Terror der RAF.

    Man führte, davon war man überzeugt, einen gerechten Kampf. Und der Gegner war schwach, ein "Papiertiger". So hatte man es bei Mao gelesen, und die "Praxis" der Aktionen, mit denen mißliebige Professoren fertiggemacht, mit denen Häuser widerrechtlich besetzt und Andersdenkende eingeschüchtert wurden, schien ihm Recht zu geben.

    Diese "Herrschenden" waren sogar so dumm und naiv, daß sie im Mai 1970 einer "Ausführung" von Andreas Baader zustimmten und diesen so miserabel bewachen ließen, daß ihn mutige Revolutionäre befreien konnten. Was stand da dem "Bewaffneten Kampf in Westeuropa" noch im Weg?

    Es war ein in seiner fürchterlichen Logik durchaus konsequenter Weg, der von dem kommunistisch gesteuerten linken "Widerstand" in der Adenauer- Zeit über die Rebellion der Jahre 1967 bis 1969 in die Kriminalität führte. Man kann das an der Lebensgeschichte von Ulrike Meinhof beispielhaft ablesen, der ich hier in ZR einmal eine kleine Serie gewidmet habe.



    Viel mehr noch als in Deutschland wird in diesen Tagen in Frankreich auf die Achtundsechziger Zeit - dort als "Mai '68" firmierend - zurückgeblickt. Der Nouvel Observateur bietet im Web sogar eine tägliche Auswahl von Meldungen des jeweiligen Tags vor vierzig Jahren an.

    Dort, in Frankreich kann man ganz überwiegend mit Stolz, die Jüngeren wohl auch ein wenig mit Neid, auf diese bewegte Zeit zurückblicken. Wir Deutsche können das nicht. Was als fröhliche Befreiung vom Muff der tausend Jahre begonnen hatte, endete bei uns mit der Bewunderung von Pol Pot, mit Entführungen und Morden.

    Mir scheint im Rückblick, daß die Nachkriegszeit nicht 1967 oder 1968 zu Ende ging, als diese Bewegung begann, sondern erst im Herbst 1977, als sie so blutig endete, daß danach alle ihre Träume ausgeträumt waren.
    Zettel

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