24. März 2014

Zitat des Tages: Mit Dank an die Krim-Krise


Fast muss die Wirtschaft der Krim-Krise dankbar sein. Die unerwartete Machtprobe, in die der russische Präsident die Europäer zwingt, führt der Koalition vor Augen, wie schnell die Wirklichkeit einen anderen Verlauf nimmt als geplant.

Heike Göbel in einem auf FAZ.net abrufbaren Artikel.


Kommentar: Heike Göbels lesenswerter Beitrag zieht eine wenig schmeichelhafte 100-Tage-Bilanz der Großen Koalition. Man wird den dortigen Ausführungen kaum widersprechen können. Treffend wird darin die Positionierungsstrategie des Regierungsjuniorpartners charakterisiert:

Die SPD hat sich die Schlüsselressorts für Wirtschaft und Soziales gesichert, um wieder als Schutzmacht des (kleinen) Bürgers sichtbar zu werden. Und zwar ganz handfest. Immer geht es ums Geld: höhere Niedriglöhne, abschlagsfreie Frührente, gedeckelte Mieten, günstiger Grünstrom – im Subtext jedes Gesetzentwurfs findet sich Umverteilung, wie auch immer verbrämt.

Mit Frank-Walter Steinmeier besetzt die SPD auch das Auswärtige Amt. Handfestigkeit in der Ressortführung kann man ihm wohl schwerlich vorwerfen, ebenso wenig rhetorische Bestimmtheit, wie folgende Passage aus einem Interview mit der WELT nahelegt:
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Die Welt: Verfügen die Europäer über Mittel, die Russland davon abhalten, sich weitere Gebiete der früheren Sowjetunion einzuverleiben?

Steinmeier: Da sind wir ja nicht, und ich hoffe, dass es dazu nicht kommen wird. Aber eines ist klar: Sollte Russland über die Krim hinausgreifen, werden wir in Europa einschneidende Maßnahmen beschließen, selbst wenn wir hierfür wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen müssen.

Ob sich die EU- und NATO-Partner Estland, Lettland und Litauen bei dem Gedanken wohlfühlen, dass Deutschland im Falle einer Putin’schen Aggression immerhin zu „einschneidende[n] Maßnahmen“ bereit wäre, „selbst wenn wir hierfür wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen müssen“, mag dahingestellt sein.


Schwerer wiegt im Moment, dass die deutsche Außenpolitik wieder einmal eine Gelegenheit verstreichen ließ, eine den Interessen der Bundesrepublik völlig konträre Entwicklungsperspektive zu vereiteln: nämlich den möglichen EU-Beitritt der Türkei.


Wie in der Presse vor wenigen Tagen zu lesen war, hat der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan den Mikroblogdienst Twitter sperren lassen und die betreffenden Entscheidungswege vor der Öffentlichkeit zunächst nicht ganz korrekt dargestellt. Die deutsche Politik hat diesen Schachzug mit pflichtschuldigen Lippenbekenntnissen kritisiert, wobei der Sprecher des Außenministeriums, Martin Schäfer, dem Handelsblatt die Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen bestätigte.


Es ist unverständlich – und dieser Vorwurf geht freilich auch an die Adresse der Kanzlerin –, warum sich Deutschland angesichts der Steilvorlage aus Ankara nicht für eine Aussetzung der Bewerbungsgespräche mit der Türkei verwendet hat. Dass Erdoğan mit einer Aufnahme in die okzidentale Staatengemeinschaft unlautere Absichten verbindet, war bereits vor rund vier Jahren in Zettels Raum zu lesen. Abgesehen davon kann Deutschland in Anbetracht der EU-Schuldenkrise kein Interesse daran haben, Unionspartner eines Landes zu werden, dessen politisch-soziale Kultur ihm noch ferner steht als etwa jene Griechenlands oder Spaniens.


Schließlich gibt es auch gewichtige demographische Gründe, warum die Bundesrepublik einer Mitgliedschaft der Türkei im europäischen Staatenverbund ablehnend gegenüberstehen sollte: Derzeit ist Deutschland mit rund 80 Millionen Einwohnern unangefochten der bevölkerungsreichste Staat der EU, gefolgt von Frankreich mit lediglich circa 65 Millionen Menschen. Die Türkei mit ihren etwa 75 Millionen Bewohnern und einer zwar auch schlechten, im Vergleich zur Bundesrepublik aber immer noch besseren Reproduktionsrate würde unser Land als kopfstärkste Nation der Union in absehbarer Zeit überholen. (Die Zahlen finden Sie in dieser Tabelle.) Dass der Bevölkerungsreichtum eines Staates für dessen Abstimmungsmacht im Rat der Europäischen Union und die Abgeordnetenzahl im Europäischen Parlament von Bedeutung ist, wurde vom Verfasser dieser Zeilen bereits in einem anderen Artikel mit weiteren Nachweisen dargetan.

Die SPD und die seltsam sprachlose Union ziehen es offenbar vor, das Geld des Steuerzahlers zu verfrühstücken, und sich erst dann durch die große, weite Welt vom Küchentisch aufschrecken zu lassen, wenn die Realität es einmal wieder unleugbar wagt, nicht der kurzsichtigen Theorie der deutschen Politik zu folgen. Wir dürfen uns auf vier Jahre des außenpolitischen Schlafes und der innenpolitischen Hyperaktivität gefasst machen.
Noricus


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