Fast muss die Wirtschaft der Krim-Krise dankbar sein. Die unerwartete Machtprobe, in die der russische Präsident die Europäer zwingt, führt der Koalition vor Augen, wie schnell die Wirklichkeit einen anderen Verlauf nimmt als geplant.
Heike Göbel in einem auf FAZ.net
abrufbaren Artikel.
Kommentar: Heike Göbels lesenswerter Beitrag zieht eine
wenig schmeichelhafte 100-Tage-Bilanz der Großen Koalition. Man wird den
dortigen Ausführungen kaum widersprechen können. Treffend wird darin die
Positionierungsstrategie des Regierungsjuniorpartners charakterisiert:
Die SPD hat sich die Schlüsselressorts für Wirtschaft und Soziales gesichert, um wieder als Schutzmacht des (kleinen) Bürgers sichtbar zu werden. Und zwar ganz handfest. Immer geht es ums Geld: höhere Niedriglöhne, abschlagsfreie Frührente, gedeckelte Mieten, günstiger Grünstrom – im Subtext jedes Gesetzentwurfs findet sich Umverteilung, wie auch immer verbrämt.
Mit Frank-Walter Steinmeier besetzt die SPD auch das
Auswärtige Amt. Handfestigkeit in der Ressortführung kann man ihm wohl
schwerlich vorwerfen, ebenso wenig rhetorische Bestimmtheit, wie folgende
Passage aus einem Interview mit der WELT
nahelegt:
Die Welt: Verfügen die Europäer über Mittel, die Russland davon abhalten, sich weitere Gebiete der früheren Sowjetunion einzuverleiben?
Steinmeier: Da sind wir ja nicht, und ich hoffe, dass es dazu nicht kommen wird. Aber eines ist klar: Sollte Russland über die Krim hinausgreifen, werden wir in Europa einschneidende Maßnahmen beschließen, selbst wenn wir hierfür wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen müssen.
Ob sich die EU- und NATO-Partner Estland, Lettland und
Litauen bei dem Gedanken wohlfühlen, dass Deutschland im Falle einer
Putin’schen Aggression immerhin zu „einschneidende[n] Maßnahmen“ bereit wäre,
„selbst wenn wir hierfür wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen müssen“, mag
dahingestellt sein.
Schwerer wiegt im Moment, dass die deutsche Außenpolitik
wieder einmal eine Gelegenheit verstreichen ließ, eine den Interessen der
Bundesrepublik völlig konträre Entwicklungsperspektive zu vereiteln: nämlich
den möglichen EU-Beitritt der Türkei.
Wie in der Presse vor wenigen Tagen zu lesen war, hat der
türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan den Mikroblogdienst Twitter sperren lassen und die betreffenden Entscheidungswege vor der Öffentlichkeit zunächst nicht ganz korrekt dargestellt. Die deutsche Politik hat
diesen Schachzug mit pflichtschuldigen Lippenbekenntnissen kritisiert,
wobei der Sprecher des Außenministeriums, Martin Schäfer, dem Handelsblatt die Fortsetzung der
EU-Beitrittsverhandlungen bestätigte.
Es ist unverständlich – und dieser Vorwurf geht freilich auch
an die Adresse der Kanzlerin –, warum sich Deutschland angesichts der Steilvorlage aus Ankara nicht für eine Aussetzung der Bewerbungsgespräche mit der Türkei verwendet hat. Dass Erdoğan mit einer Aufnahme in die okzidentale Staatengemeinschaft
unlautere Absichten verbindet, war bereits vor rund vier Jahren in Zettels Raum
zu lesen. Abgesehen davon kann Deutschland in Anbetracht der EU-Schuldenkrise
kein Interesse daran haben, Unionspartner eines Landes zu werden, dessen
politisch-soziale Kultur ihm noch ferner steht als etwa jene Griechenlands oder
Spaniens.
Schließlich gibt es auch gewichtige demographische Gründe,
warum die Bundesrepublik einer Mitgliedschaft der Türkei im europäischen
Staatenverbund ablehnend gegenüberstehen sollte: Derzeit ist Deutschland mit
rund 80 Millionen Einwohnern unangefochten der bevölkerungsreichste Staat der
EU, gefolgt von Frankreich mit lediglich circa 65 Millionen Menschen. Die
Türkei mit ihren etwa 75 Millionen Bewohnern und einer zwar auch schlechten,
im Vergleich zur Bundesrepublik aber immer noch besseren Reproduktionsrate
würde unser Land als kopfstärkste Nation der Union in absehbarer Zeit
überholen. (Die Zahlen finden Sie in dieser Tabelle.) Dass der
Bevölkerungsreichtum eines Staates für dessen Abstimmungsmacht im Rat der
Europäischen Union und die Abgeordnetenzahl im Europäischen Parlament von
Bedeutung ist, wurde vom Verfasser dieser Zeilen bereits in einem anderen Artikel mit weiteren Nachweisen dargetan.
Noricus
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