10. März 2014

Gute Ressentiments, böse Ressentiments


In Rainer Werner Fassbinders skandalumwittertem Stück Der Müll, die Stadt und der Tod beteuert der Spekulant Hans von Gluck, nachdem er seiner Abneigung gegen einen jüdischen Konkurrenten in drastischen Worten Ausdruck verliehen hat:
Das ist kein Witz. So denkt es in mir.
Henryk M. Broder schrieb zu dieser Passage einmal im SPIEGEL:
Kein Antisemit reflektiert seine Ressentiments, grübelt, wie "es" in ihm denkt.
Dies dürfte zwar auf die allermeisten Fälle zutreffen. Doch ein Ding der Unmöglichkeit ist das reflektierte Ressentiment keineswegs. Bisweilen wird ein Mensch des Umstands gewahr, dass es in ihm denkt, dass er gewisse Einstellungen und Vorurteile hegt, die sich der Ratio und dem Verstand widersetzen.
Ein Beispiel für ein reflektiertes Ressentiment hat die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff jüngst in einer Rede im Dresdner Schauspielhaus geliefert. In ihrem Vortrag mit dem Titel Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod sprach sie sich gegen die künstliche Befruchtung (und die in Deutschland für den eingreifenden Dritten ohnehin strafbare Leihmutterschaft) aus und bekannte, dass ihr
das gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse derart widerwärtig erscheint, dass ich sogar  geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas. Das ist gewiss ungerecht, weil es den Kindern etwas anlastet, wofür sie rein gar nichts können. Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft (Seite 12 f).

Es mag kaum überraschen, dass ein Sturm der Entrüstung über die Autorin hereingebrochen ist. (Links auf einige der empörten Reaktionen findet man in einem Beitrag Sophie Dannenbergs für die Achse des Guten.) Sogar der Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden, Robert Koall, meldete sich mit einem offenen Brief zu Wort (Zitate auf Seite 3), in dem er „einen schleichenden Klimawandel in der Gesellschaft“ diagnostiziert und Lewitscharoff vorwirft, sie bemühe sich „nicht um Toleranz und Solidarität, um Gemeinschaft und Gemeinwohl.“ Mit ihrer Klimax schließt die Erwiderung:
Ihre Worte sind nicht harmlos, Frau Lewitscharoff. Aus falschen Worten wird falsches Denken. Und dem folgen Taten. Deshalb sind es gefährliche Worte.
Abgesehen davon, dass in Deutschland angesichts des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung niemand dazu verpflichtet ist, in seinen Äußerungen für Toleranz, Solidarität, Gemeinschaft und Gemeinwohl einzutreten, ist nicht recht ersichtlich, was an Lewitscharoffs Äußerungen gefährlich sein soll: Die Vortragende lässt ja keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Projektion ihres Ekels um ein Ressentiment handelt, das eingestandenermaßen völlig irrational ist. Wie es in ihr denkt, wird zur Nachahmung ja gerade nicht empfohlen.
Gefährlich werden Ressentiments erst dann, wenn sie sich den Anschein des Vernünftigen, des Belegten, des Objektivierbaren geben. Und auch hier wird man – worauf Gideon Böss in seinem Blog hinweist – bei Sibylle Lewitscharoff fündig: In ihrer Eröffnungsrede zur Messe „Buch Wien“ anno 2013 erging sich die Schriftstellerin nämlich in einer Tirade gegen das Online-Versandhaus Amazon:
Wenn ich eine Firma hasse, dann diese! Amazon bezahlt keine Steuern in den Ländern, in denen dieser widerliche Klub eine Menge Geld verdient, er bezahlt seine Angestellten empörend schlecht, ruiniert die Buchhändler und zunehmend auch die Verlage. Mit zusammengebissenen Zähnen musste ich neulich in Rom bei Amazon ein Buch bestellen – einfach, weil es in dem Viertel, in dem ich wohne, überhaupt keine Buchhandlungen mehr gibt und Feltrinelli in der Innenstadt das Buch nicht besorgen konnte.
[…]
Das, mit Verlaub, ist eine ziemlich scheußliche neue Welt. Sollte es mir vergönnt sein, den Tod dieser verhassten Firma noch zu erleben – was leider nicht sehr wahrscheinlich ist –, werde ich mit einem Jubelruf auf den Lippen ins Grab sinken.
Man mag die von Lewitscharoff angeführten Argumente unschwer als Strohmänner identifizieren, die ein tief sitzendes Ressentiment gegen den „Monopolkapitalismus“ nur unschwer verdecken können. Ironischerweise hätte die Schriftstellerin angesichts ihrer römischen Erfahrungen ohne weiteres zumindest auf eine Ursache von Amazons geschäftlichem Erfolg kommen können.
Reaktionen auf dieses holzschnittartige Unternehmensbashing blieben weitgehend aus, wie Gideon Böss anmerkt. Jedenfalls enthielt sich die federführende Elite dieses Landes einer negativen Stellungnahme. Es scheint also zu gelten: Alle Ressentiments sind gleich, doch manche sind gleicher als andere. Wer an dieser Feststellung noch Zweifel hat, möge einen Blick in die aktuelle SPIEGEL-Online-Kolumne von Sibylle Berg werfen. Dort heißt es im Vorspann:
Was bringt gutsituierte, weiße, heterosexuelle Menschen wie Sibylle Lewitscharoff dazu, über Dinge zu schwafeln, die sie nicht betreffen?
Quod erat demonstrandum.
 
Noricus


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