28. Februar 2011

Erdoğan in Düsseldorf und das Verbrechen der Assimilation. Der Hund bellt nicht mehr

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan war gestern in Deutschland. Teils, um zusammen mit der Kanzlerin in Hannover die CeBit zu eröffnen, deren Partnerland dieses Jahr die Türkei ist. Vor allem aber auch, um in Düsseldorf eine Rede zu halten. Diese Rede ist einen Kommentar wert. Weniger wegen ihres Inhalts als vielmehr deswegen, weil der Hund nicht bellte.

In Arthur Conan Doyles "Silver Blaze" (die Geschichte handelt vom Verschwinden eines wertvollen Rennpferds mit diesem Namen) gibt es den folgenden Dialog zwischen dem Inspektor Gregory von Scotland Yard und Sherlock Holmes:
Gregory: "Is there any other point to which you would wish to draw my attention?"
Holmes: "To the curious incident of the dog in the night-time."
Gregory: "The dog did nothing in the night-time."
Holmes: "That was the curious incident."

Gregory: "Gibt es noch einen anderen Punkt, auf den Sie mich aufmerksam machen möchten?"
Holmes: "Auf den seltsamen nächtlichen Vorfall mit dem Hund".
Gregory: "Der Hund hat sich in der Nacht nicht gerührt".
Holmes: "Das war der seltsame Vorfall".
Manchmal besteht ein Ereignis darin, daß etwas nicht passiert. Im Fall des entführten Pferds Silver Blaze bellte der Hund nicht, weil das Pferd nicht von einem Fremden entführt worden war, sondern von jemandem, den der Hund kannte. Für Sherlock Holmes war das ein entscheidendes Indiz zur Lösung des Falls. Auch bei Erdoğan bellte der Hund nicht; und auch das ist ein Indiz.



Erdoğan also hat gestern vor Landsleuten in Düsseldorf gesprochen.

Nein, es waren zu einem erheblichen Teil nicht seine Landsleute, sondern es waren Deutsche, deren Vorfahren einmal aus der Türkei nach Deutschland eingewandert sind.

Sie sind so wenig Erdoğans Landsleute, wie Barack Obama, dessen Vater aus Kenia in die USA gekommen war, deshalb ein Kenianer ist. Er ist ein Amerikaner, auf Hawaii geboren. Man würde sich wundern, wenn Obama bei einem Besuch in Kenia von jubelnden Menschen begrüßt werden würde, und die Zeitungen schrieben dazu: "Obama von seinen Landsleuten begeistert gefeiert".

Wer in Deutschland geboren ist und die deutsche Staatsbürgerschaft hat, der ist in genau derselben Weise Deutscher, wie Obama Amerikaner ist. Er hat ausländische Wurzeln, aber er ist Deutscher.

Man sollte meinen, daß diese Erkenntnis trivial ist. Aber sehen Sie sich einmal diesen heutigen Artikel in "Welt-Online" an. Am Anfang ist ein Bild von Erdoğan in Düsseldorf mit der Überschrift "10.000 Türken feiern Erdogan in Düsseldorf"; und unter dem Bild steht "Der Ministerpräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, wird bei seinem Auftritt in Düsseldorf von 10.000 in Deutschland lebenden Landsleuten frenetisch gefeiert".

Es mag sein, daß es im Düsseldorfer Publikum auch Landsleute von Erdoğan gab. Eine Mehrheit dürfte das nicht gewesen sein, denn Erdoğan wandte sich ausdrücklich nicht an sie, sondern an die Deutschen in seinem Publikum; die er freilich Türken nannte. FAZ.Net berichtet dazu:
Erdogan kündigte an, die "Blaue Karte", die türkische Staatsbürger nach der Aufgabe ihrer Staatsbürgerschaft erhalten, zu einer Art Personalausweis aufzuwerten. Bisher müssen Türken, die die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, die türkische abgeben. Mit der "Blauen Karte" sollen die Nachteile, die ihnen daraus in der Türkei erwachsen können, abgemildert werden. In ihrer neuen Form begründete die "Blaue Karte" eine Art Ersatz-Staatsbürgerschaft, der nur das Wahlrecht in der Türkei fehlt.
Erdoğan unterläuft damit das deutsche Recht, das seit 2000 eine doppelte Staatsbürgerschaft in der Regel verbietet. Wer die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben möchte, der muß zuvor die türkische ablegen. Wer danach erneut die türkische Staatsbürgerschaft erwirbt, verliert damit automatisch wieder die deutsche.

Es gab vor Jahren in Deutschland eine intensive Debatte zum Thema der doppelten Staatsbürgerschaft. Ihr Ergebnis war bekanntlich das Optionsmodell: Wer in Deutschland geboren ist, der hat zunächst die deutsche Staatsangehörigkeit zusätzlich zu der Staatsangehörigkeit seiner Eltern. Zwischen dem 18. und dem 23. Lebensjahr muß er sich dann aber entscheiden, ob er Deutscher sein will oder aber Türke, Ukrainer oder was immer. Entweder behält er seine deutsche Staatsangehörigkeit oder diejenige seiner Eltern. Beides geht nicht, jedenfalls in der Regel nicht.

Die Logik hinter dieser Bestimmung ist kristallklar: Wer dauerhaft in Deutschland leben will, der muß sich entscheiden, ob er Deutscher sein will oder ein Ausländer, der in Deutschland lebt. Beides zugleich kann er nicht sein. Man kann nicht deutscher Staatsbürger sein, ohne daß man Deutscher ist. Obama ist Amerikaner und nicht Kenianer; auch nicht mit Hilfe einer blauen Karte, die ihn weitgehend den Kenianern gleichstellt.

Erdoğan aber ignoriert diese deutsche Politik einfach. Einseitig gibt er Deutschen mit türkischen Vorfahren Rechte, die auf eine faktische türkische Staatsbürgerschaft hinauslaufen; mit kleinen Einschränkungen.



Und der Hund bellt nicht. Keinen deutschen Politiker scheint das sonderlich aufzuregen. Daß die Kanzlerin in Hannover ihren Amtskollegen wegen dieser unverfrorenen Einmischung in deutsche Angelegenheiten gerügt hätte, ist nicht bekannt.

Was Erdoğan will, liegt auf der Hand: Eine türkische Kolonialisierung Deutschlands. Nicht in dem Sinn natürlich, daß Deutschland formal eine Kolonie der Türkei werden würde; wohl aber in der Weise, daß es in Deutschland neben den Deutschen künftig das Volk der Türken geben soll.

Erdoğan will ein Deutschland mit zwei Staatsvölkern, einem deutschen und einem türkischen; so, wie es im alten Osmanischen Reich, im Habsburger Reich und im zaristischen (wie dann auch im kommunistischen) Rußland verschiedene Nationalitäten gab.

Erdoğans "Landsleute" sollen, Generation nach Generation, nicht Deutsche werden - so, wie Einwanderer in die USA Amerikaner werden -, sondern sie sollen Türken bleiben, die in Deutschland siedeln. Er läßt daran überhaupt keinen Zweifel. sueddeutsche.de:
Erdogan erneuerte seine vor drei Jahren bei einem ähnlichen Auftritt in Köln ausgesprochene Warnung an seine Landsleute in Deutschland, Assimilation sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. "Ihr sollt euch natürlich in die deutsche Gesellschaft integrieren. Aber ich sage Nein zu Assimilation", betonte Erdogan.
Erdoğan hatte das vor drei Jahren erst in Berlin und dann in Köln gesagt; er hat es letztes Jahr noch einmal bekräftigt; siehe Nein. Schande. Verbrechen. Starke Worte des Ministerpräsidenten Erdogan; ZR vom 11. 2. 2008, "Türken in Deutschland werden wegen ihrer Religionsausübung kriminalisiert"; ZR vom 16. 2. 2008, sowie Erdogan, die EU und das Verbrechen der Assimilation; ZR vom 18. 3. 2010.

2008 hat es noch Reaktionen von deutschen Politikern gegen Erdoğans Politik einer türkischen Kolonialisierung Deutschlands gegeben, wenn auch vorsichtig formuliert; beispielsweise von der Kanzlerin, von Wolfgang Bosbach und vom damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble.

Damals hat der Hund noch gebellt. Oder sagen wir: Er hat leise gewufft. Inzwischen haben sich offenbar in Deutschland die Verantwortlichen damit abgefunden, daß Erdoğan ein binationales Deutschland ansteuert. Und daß er dabei von seinen "Landsleuten" viel Zustimmung erfährt. Henryk M. Broder hat sich bei Erdoğans Düsseldorfer Auftritt das Publikum angesehen:
An diesem Heimatabend sind die Migranten aus der Türkei nicht nur unter sich, sie müssen sich auch für nichts rechtfertigen. Hier sind sie Türken, hier dürfen sie's sein. In solchen Momenten ahnt man, wie wenig hilfreich die Integrationsdebatten sind, weil sie einen Zustand problematisieren, den die Menschen, über die geredet wird, für selbstverständlich halten.

Erdogan spricht zu ihnen, nicht zu den Deutschen da draußen, und deswegen muss seine Rede nicht ins Deutsche übertragen werden. "Warum gibt es keine deutsche Übersetzung?", frage ich einen türkischen Kollegen auf der Pressetribüne. "Integration ist keine Einbahnstraße", antwortet der Kollege. "Heißt das, ich soll Türkisch lernen?" Der Kollege nickt und lacht. "Sie haben mich verstanden!"
Der Traum von Multikulti nimmt Gestalt an. Freilich nicht in der Form, daß Deutsche mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund glücklich zusammenleben. Dasjenige, was Erdoğan will und was kein Hund mehr verbellt, ist die türkische Besiedlung Deutschlands.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an john j., der mich auf einen Irrtum aufmerksam gemacht hat. Titelvignette: Veranstaltung von Erdoğans Partei AKP im Juli 2007; vom Autor Randam unter GNU Free Documentation License, Version 1.2 oder später, freigegeben. Ausschnitt.