24. Januar 2008

Wie wird der Sozialismus mit venezolanischem Antlitz aussehen?

Man könnte es fast rührend nennen, wenn es nicht so gefährlich wäre: Wie jetzt die Hoffnung aller, die unverdrossen an den "wahren Sozialismus" glauben, sich auf Hugo Chávez und seinen für Venezuela und ganz Lateinamerika geplanten "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" richten.

So, wie in den sechziger und siebziger Jahren erst die Machtergreifung Castros, dann der "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" des Prager Frühlings und schließlich, besonders heftig, die "Kulturrevolution" in China derartige Phantasien weckte, so ist jetzt Venezuela die Projektionsfläche derer, die immer noch überzeugt sind, der Sozialismus sei eine prima Sache, eine unausweichliche Sache dazu, die bisher nur irgendwie falsch angepackt wurde.

Besonders bekannt geworden ist von diesen Träumern an südamerikanischen Gestaden der deutsche Professor Heinz Dieterich oder auch Dieterich Steffan. Aber er ist bei weitem nicht der einzige.

Gemeinsam mit dem Namen von Heinz Dieterich finden wir hier den von Paul Cockshott. Wie Dieterich ist Cockshott ein kommunistischer Theoretiker, der seine Theorien gern in Venezuela in die Tat umgesetzt sehen würde. Er ist eigentlich Informatiker, sieht sich als Kommunist aber auch als für Ökonomie zuständig und vertritt - man kann es hier (PDF) in seinen Kommentaren zu Dieterich nachlesen - eine "wertbasierte Wirtschaft" als Modell für den Übergang zum Kommunismus. Das "wert" in dieser Bezeichnung bezieht sich auf die Arbeitswert- Theorie, die Marx von Ricardo übernommen hat.

Wie das im einzelnen in Venezuela aussehen soll, das konnte man vorgestern und gestern in der "Jungen Welt" lesen.

Wer sich das "Dschungelkamp" angetan hat und danach immer noch nach Horror verlangt, dem empfehle ich dringend die Lektüre dieser Artikel. Oder, falls die Zeit dazu nicht reicht, die Lektüre der folgenden Zusammenfassung:
  • Zuerst stellt Cockshott fest, welche Mängel der venezolanische Sozialismus noch hat: "Die venezolanische Wirtschaft beruht immer noch auf Geld. (...) In Venezuela wird, im Unterschied etwa zur UdSSR, die Versorgung mit den meisten Gütern und Diensten über den Markt reguliert. (...) Der größte Teil der venezolanischen Wirtschaft ist ... immer noch privat". An diesen Mängeln also gilt es nach Cockshott anzusetzen:

  • Erstens verlangt er eine Währungsreform. In Venezuela gebe es eine beträchtliche Inflation, was an sich nicht schlimm sei, denn am "härtesten von einer Inflation getroffen ist die Klasse der Rentiers (...). Da diese Leute in der großen Mehrheit Gegner des Sozialismus sind, bräuchte sich eine sozialistische Regierung um deren wie auch immer geartete finanzielle Verluste nicht zu sorgen". Allerdings sei die Inflation aus anderen Gründen von Nachteil, denn die "Ungewißheit über künftige Preise führt auch zu psychischer Instabilität in der Bevölkerung und oft zu einem Vertrauensverlust gegenüber der Regierung. Diese Ungewißheit spielte eine Rolle beim Untergang der UdSSR."

    Also soll etwas gegen die Inflation getan werden. Wie? Nun, ganz einfach. Es wird ein "an Arbeitsstunden gebundener Bolívar" eingeführt (wir erinnern uns: "wertbasierte Wirtschaft"). Statt ein Geldwert soll, so stellt es sich Cockshott vor, auf dem Geldschein stehen, wieviel Arbeitsstunden oder - minuten er wert ist. "Dieser Schritt wäre ein Akt revolutionärer Pädagogik. Den Unterdrückten würde eindeutig dargelegt, wie das bestehende kapitalistische System in Venezuela sie betrügt".

  • Als Nächstes werden Arbeitszeitkonten eingerichtet. "Sobald ein System der Arbeitszeitkonten existiert, könnte ein rationales Planungssystem entwickelt werden."

  • Sodann werden Zinsen abgeschafft. Denn es ist "... klar, daß eine Regierung, die ernsthaft auf einen Sozialismus orientiert, irgendwann in eine Situation kommt, das Verleihen von Geld gegen Zinsen durch ein Gesetz zu verbieten."

  • Aber wo kommen Investitionsmittel her, wenn man keinen Kredit mehr aufnehmen kann? Ganz einfach - aus Steuern! "Borgen hat ... keine Funktion für eine sozialistische Regierung. Ihre Ökonomie muß sich deshalb zur Finanzierung von Investitionen hauptsächlich auf Steuereinnahmen stützen".

  • Wie sieht es mit der Verstaatlichung von Grund und Boden aus? Unser Autor denkt politisch: "In der gegenwärtigen Situation ist in Venezuela die Verstaatlichung des Bodens politisch vielleicht nicht opportun, weil es die kleinen Bauern in eine Allianz mit den Großgrundbesitzern treiben könnte". Ja, das könnte sein; denn die kleinen Bauern erhoffen sich naiverweise von Chávez ja gerade Unterstützung.

    Was tun? Ja, natürlich, man macht es über konfiskatorische Steuern: "... für umfangreichere und fruchtbarere Ländereien könnte ein Steuerniveau angesetzt werden, das den größeren Teil der Renteneinnahmen des Großgrundbesitzers konfisziert. Die Wirkung ... käme einer Verstaatlichung gleich."

  • Und weiter geht's mit der Entmachtung der Kapitalistenklasse: Wenn konfiskatorische Steuern noch nicht reichen, nimmt man den Reichen einfach ihr Vermögen via Währungsreform: "Gäbe es eine begrenzte Summe der alten Währung, die jeder Staatsbürger in neue Bolívar wechseln könnte ..., dann ... würde die gesellschaftliche Macht der Kapitalistenklasse sehr reduziert."
  • Klingt gut, nicht wahr? Paul Cockshott jedenfalls ist zufrieden mit seinen Ideen: "Mit der hier entwickelten Politik wäre ein gutes Stück des Weges der Umwandlung der Wirtschaft in eine sozialistische zurückgelegt."



    Lohnt es sich, einen solchen Stuß überhaupt zur Kenntnis zu nehmen? Sollte man dem Mann nicht raten, sich erst mal mit Nationalökonomie zu befassen und sich dann wieder zu melden?

    Nein, ich fürchte, der Fall ist ernster. Leute wie Dieterich und Cockshott sind ja keine Dummköpfe. So wenig, wie Hohlwelt- Theoretiker oder andere versponnene Sektierer.

    Nur haben sie, anders als diese, die reale Chance auf einen Zugang zur Macht.

    Dieterich hat offenbar das Ohr von Chávez. Auch Cockshott hat, wie er schreibt, im Juni letzten Jahres an einem Workshop über den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela teilgenommen und wurde dort aufgefordert, seine Ideen für Venezuela zu Papier zu bringen.

    Es besteht also die Gefahr, daß die Pläne solcher Leute tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden. Genauer: Daß die Machthaber Venezuelas das versuchen. Da es natürlich nicht funktionieren wird, ist das absehbare Ergebnis eine ganz normale totalitäre Diktatur, ein weiterer Fall von real existierendem Sozialismus.

    Also, ich empfehle, Texte wie den von Cockshott zur Kenntnis zu nehmen; darum dieser Artikel. Wir werden dann nicht mehr allzu überrascht sein von den Meldungen, die in nächster Zeit aus Venezuela zu erwarten sind.




    Nachtrag am 24.1.: Wie diese Meldungen aussehen könnten, das hat ausgerechnet Heinz Dieterich in einer - aus kommunistischer Sicht - schonungslos pessimistischen Analyse dargelegt, auf die mich ein Besucher von "Zettels kleinem Zimmer" aufmerksam gemacht hat. Eine Zusammenfassung dieses, wie mir scheint, wirklich sehr interessanten Texts eines Insiders findet man hier.

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