22. November 2007

Wofür, wogegen wird eigentlich in Frankreich gestreikt?

Ein Generalstreik ist das noch nicht in Frankreich, auch wenn im französischen Indymedia dazu aufgerufen wird. Aber ein ziemlich generalisierter Streik ist es schon. Es rollte eine breite Streikwelle, die von den Bahnbediensteten bis zu den Lehrern, von der Presse bis zu den Kliniken, von den Post- bis zu den Bank- Bediensteten, ja bis zu den Richtern reicht.

Nein, von "den" Angehörigen dieser Berufe kann man eigentlich nicht sprechen. Es sind mehr oder weniger große Gruppierungen aus diesen Berufen, die mal hier, mal dort, mal überall in Frankreich die Arbeit niederlegen. Organisiert in den zahlreichen Gewerkschaften, die in Frankreich traditionell politisch ausgerichtet sind; zum Teil - wie die kommunistische CGT - geradezu einer politischen Partei angegliedert.

Damit sind wir bereits bei einem der Schlüssel zum Verständnis dieser Streikwelle: Ganz anders als beim Streik der GDL in Deutschland haben diese Streiks eine starke politische Komponente. So verschieden im einzelnen die Forderungen der Streikenden sind - gemeinsam ist ihnen, daß sie sich gegen geplante, in unterschiedlichen Stadien des Gesetzgebungs- Verfahrens befindliche Reformen der Regierung Fillon, also des Präsidenten Sarkozy richten. In Frankreich ist de politische Streik erlaubt.



Sarkozy ist entschlossen, Frankreich umzukrempeln. Auch wenn er sich nicht auf sie beruft - er hat sich das vorgenommen, was in England Margaret Thatcher Anfang der achtziger Jahre bewerkstelligte: Die Wirtschaft deregulieren, das Land modernisieren, die Macht der Gewerkschaften brechen oder mindestens zügeln, die heute in Frankreich der Modernisierung genauso im Wege stehen wie damals in England.

Sarkozy ist - mit einer (bisher noch) schier unerschöpflichen Tatkraft gesegnet - fest entschlossen, "alle Reformen zugleich" zu realisieren. Und mit seiner sehr komfortablen Mehrheit in der Nationalversammlung und mit der Unterstützung einer großen Mehrheit der Franzosen hat er gute Chancen, es zu schaffen.

Ja, mit der Unterstützung einer großen Mehrheit. Das mag überraschen; denn die Streikenden und ihre demonstrierenden Sympathisanten sind in den Schlagzeilen, und man sieht sie rund um die Uhr auf den Bildschirmen. Die Schweigende Mehrheit - die gerade in Frankreich traditionell sehr schweigsam ist - denkt aber ganz anders als diese so sichtbar agierenden Protagonisten.

Was "die Franzosen" in ihrer Mehrheit denken, erfährt man nicht aus Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen, sondern erst aus repräsentativen Befragungen. Eine gestern veröffentlichte Umfrage zum immer noch anhaltenden Streik der Eisenbahner erbrachte folgendes Ergebnis:

69 Prozent der Befragten wollen, daß die Regierung den Streikenden nicht nachgibt. Nur 30 Prozent sind für Nachgeben. Sogar die Arbeiter und Angestelltenin der Privatindustrie sind zu 68 Prozent der Meinung, dieser Streik sei "nicht gerechtfertigt".

Freilich nur diese Lohnabhängigen, die in der freien Wirtschaft arbeiten, sind gegen diesen Streik. Von den Angehörigen des Öffentlichen Dienstes halten ihn dagegen 57 Prozent für gerechtfertigt.



Womit wir beim Kern des Konflikts sind: Er ist weniger eine Auseinandersetzung zwischen Arbeiternehmern und Arbeitgebern, als ein Kampf um die Privilegien der Staatsbediensteten in Frankreich.

Um sie, um diese Angehörigen der services publics und ihre Privilegien nämlich geht es bei dem momentanen Eisenbahnerstreik. Man kann sich in Deutschland vom Ausmaß dieser Privilegien kaum eine Vorstellung machen. Deshalb hier einige Beispiele:
  • Mitarbeiter der (staatlichen) Elektrizitäts- und Gaswerke gehen mit 60, teilweise mit 55 Jahren in Rente. Sie erhalten die volle Rente nach 37,5 Beitragsjahren, wobei sich die Rente nicht nach ihrem Durchschnittsverdienst bemißt, sondern nach ihrem letzten Verdienst. Das gilt auch für die anderen, die im Genuß eines solchen "régime spécial" sind, wie z.B. Eisenbahner und Angestellte der Pariser Oper:

  • Eisenbahner gehen mit 55 oder 50 Jahren in Rente und erhalten die volle Rente nach 25 Beitragsjahren.

  • Angestellte der Pariser Oper erhalten ab dem Alter von 40 Jahren (Tänzer), 55 Jahren (Sänger) oder 60 Jahren (Musiker) die volle Rente.
  • Diese Privilegien will Sarkozy abbauen; vor allem soll die volle Rente erst nach 40 Beitragsjahren erreicht werden.

    Eine Selbstverständlichkeit aus deutscher Sicht. Für Frankreich eine Revolution. So, wie es eine Revolution ist, daß Sarkozy den Universitäten Freiheiten geben will, die in Deutschland zum Teil selbstverständlich sind. (Andere werden auch in Deutschland erst jetzt realisiert).

    In gewisser Weise sind also die momentanen Streiks in Frankreich und in Deutschland gegenläufig: Während die französischen Eisenbahner gegen den Abbau ihrer Privilegien streiken, dient der Streik der in der GDL organisierten deutschen Eisenbahner dazu, sich ein solches Privileg - den besonderen Tarifvertrag - erst einmal zu verschaffen.

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