18. Juni 2006

Randbemerkung: Was wir für gerecht und ungerecht halten.

Laut Spiegel Online
ergab eine Umfrage des Forsa-Instituts im Auftrag der Techniker Krankenkasse, dass 69 Prozent der Bundesbürger den geplanten Gesundheitsfonds für "eher ungerechter" als das heutige System halten. Nur 18 Prozent halten den Fonds für gerechter.


Erstaunlich. 69 Prozent dagegen, 18 Prozent dafür. 87 Prozent also haben eine Meinung zum geplanten Gesundheitsfonds.

Wie kommen sie zu ihrer Meinung? Ich habe keine, weil ich überhaupt nicht durchschaue, wie dieser Fonds denn funktionieren würde, welche Konsequenzen er für das Gesundheitswesen, für die Versichtern und auch für mich selbst hätte.

Sind die 87 von 100 Menschen, die man befragt hat, so viel besser informiert als ich, daß sie bereits ein Urteil über diesen Plan haben?



In aller Bescheidenheit bezweifle ich das. Ich vermute, daß auch sie keine Experten für Gesundheitswesen sind. Warum also antworten nicht, sagen wir, 90 Prozent der Befragten auf das Ansinnen, sich zu solch einem Plan, der noch nicht mal im einzelnen bekannt ist, zustimmend oder ablehnend zu äußern, mit "Tut mir leid, ich habe noch keine Meinung?"

Ich vermute hauptsächlich diese beiden Gründe:

  • Es gibt den "guten Befragten", ebenso wie den "guten Zeugen". Die Psychologie der Zeugenaussage hat zutage gefördert, daß viele Zeugen, obwohl sie sich eigentlich unsicher sind, eine sichere Erinnerung vorspiegeln. Weil das ihrer Zeugenrolle entspricht, so, wie sie sie sich vorstellen. Ebenso widerspräche es offenbar dem Rollenverständnis eines Menschen, den aus heiterem Himmel das Los trifft, von einem Meinungsforschungsinstitut angerufen zu werden, sich als Ignorant zu präsentieren. Also äußert er das, was ihm gerade einfällt, als Meinung.

  • Bereits Stichwörter erzeugen Meinungen. Wenn man jemanden fragt, ob er in irgendeinem Bereich für "mehr Unternehmerfreiheit" ist, dann brauchen die meisten von uns den betreffenden Bereich überhaupt nicht zu kennen. Das Stichwort genügt. Der Sozialist wird mit Überzeugung nein sagen, und der Liberale mit Überzeugung ja. Wenn gefragt wird, ob man eine x-beliebige Entscheidung von Präsident Bush gut oder schlecht findet, dann werden viele Deutsche "schlecht" antworten. Sie haben zwar möglicherweise keine Ahnung von der betreffenden Entscheidung, aber sie sind eh überzeugt, daß Bush falsche Entscheidungen trifft.



  • Das gilt für uns alle. Uns allen geht es so, daß wir ständig über Dinge urteilen, ohne eine hinreichende Entscheidungsbasis zu haben.

    Das war vermutlich schon so, als unsere Vorfahren in der Savanne entscheiden mußten, ob sie einer Gazelle nachjagen oder sie laufen lassen sollten. Entscheidungen sind nun mal meist "decisions under uncertainty". Sonst wären sie ja keine.

    Aber man muß doch nicht mutwillig herbeiführen, daß Menschen über das urteilen, wovon sie nichts verstehen.

    Die Demoskopen tun das. Oder vielmehr: Sie scheinen es zu tun. Denn die Wissenschaftler unter ihnen interessieren in der Regel weniger Meinungen (opinions) als Einstellungen (attitudes). Jemand weiß zu einem Thema nichts oder wenig. Insofern mag seine Meinung (seine konkrete Auffassung zu diesem speziellen Thema) beliebig erscheinen. Aber sie drückt halt seine allgemeine Haltung, seine Neigungen und Abneigungen, seine - wie man früher sagte, heute ist der Begriff in den Sozialwissenschaften zu Recht aus der Mode - Vorurteile aus.



    Nur kommt diese wissenschaftliche Sichtweise nicht in die Medien.

    Berichtet wird, daß soundsoviel Prozent der Befragten gegen diese und jene Entscheidung Bushs seien, statt daß man schreibt, dieser Prozentsatz sei USA-feindlich (oder vielleicht auch nur Bush-feindlich) eingestellt.

    Warum so viele gegen einen "Gesundheitsfonds" sind, wäre zu ermitteln - vielleicht hat für Viele das Wort "Fonds" eine negative Konnotation, weil sie es mit der Börse assoziieren. Wer weiß.