Ich habe ein einziges Mal von meinem Vater eine Ohrfeige bekommen. Damals war ich sieben oder acht Jahre, und ich bekam sie dafür, daß ich zu meinem Großvater "Du Esel!" gesagt hatte.
In einer Familie, in der man gesittet miteinander umging, war das eine doppelte Entgleisung: Daß ich mich vergessen und meinen Großvater so genannt hatte. Daß mein Vater sich vergessen und mich dafür geohrfeigt hatte.
Was hatte mein Großvater getan, daß ich ihn einen Esel schimpfte? Er hatte eine Weiche falsch gestellt.
Der Vorfall trug sich in den Tagen "zwischen den Jahren" zu, also zwischen dem Heiligen Abend und Neujahr. Ich hatte eine kleine Spielzeugeisenbahn zu Weihnachten bekommen, und die hatte ich gemeinsam mit dem Opa erprobt. Wobei dieser eine Weiche falsch stellte, und der Zug entgleiste.
Das hat mich so in Rage gebracht wie nichts, was der Opa zuvor oder danach getan hatte. Und dabei war es doch nur ein Spiel gewesen.
Nur ein Spiel? Es war für den Sieben- oder Achtjährigen in diesem Augenblick so wichtig, wie es eben nur ein Spiel ist. So wichtig, daß ich mich nicht beherrschen konnte und damit verursachte, daß auch mein Vater sich unbeherrscht benahm.
An diese Episode erinnere ich mich in diesen Tagen, in denen ganz Deutschland vom Spielen ergriffen ist. Nicht nur sprießen überall nationale Fahnen, nicht nur sammeln sich Millionen zum Public Viewing - vulgo zur Gemeinschafts- übertragung - von Fußballspielen. Sondern auch am Arbeitsplatz, auf Parties, kurz, wo immer man ein paar Worte über dies und jenes zu wechseln pflegt, ist der Fußball das dominierende Thema.
Selbst Menschen, die sich bisher nie erkennbar für Sport begeistert hatten, sind mit von der Partie. Man will sich ja nicht ausschließen, nicht abseits stehen bei diesem kollektiven Ergriffensein.
Heute, bei Maybritt Illner, wurde sehr ernsthaft über Fußball diskutiert. Man hat sich, neben vielen anderen Aspekten, darüber ausgetauscht, wie man sich wohl fühlen würde, wenn unsere Elf am Ende verlieren sollte. Mit nur wenig Ironie, eigentlich mit gar keiner, haben die Gesprächsteilnehmer zu verstehen gegeben, daß sie das schon sehr treffen würde.
Mir geht es auch so. Ich fiebere dem Großen Spiel entgegen. Ich wünsche mir, sehr ernsthaft, daß wir gewinnen. Ich werde traurig, bestürzt, wenn auch nicht verzweifelt sein, wenn das Große Ziel morgen verfehlt werden sollte. Das Ziel, die Weichen für das Endspiel zu stellen.
Was ist da los? Wie kommen erwachsene, gesunde Menschen dazu, auch nur ein Quentchen, und nun gar dieses Übermaß, an Gefühl, Engagement, Hoffnung und Befürchtungen in die Frage zu investieren, ob elf Kicker ein Spiel gewinnen oder verlieren? What's Hekuba to us?
Man könnte auf eine simple, nachgerade triviale Antwort verfallen: Es geht gar nicht um den Fußball. Es geht um den nationalen Erfolg. Der Fußball, das ist die Fortsetzung des Kriegs mit anderen, mit gewiß ungleich erfreulicheren Mitteln.
Die Affekte, so könnte man dann argumentieren, sind so heftig, weil sie einem nicht nur ernsthaften, sondern auch uralten, vielleicht gar biologisch verankerten Ziel dienen: Dem Stolz, dem Ansehen, dem Sieg der eigenen Horde, Gruppe, Nation.
Mag sein. Aber diese Erklärungen stimmt weder mit meinen Beobachtungen überein, noch trifft sie mein eigenes Empfinden.
Es ist ja gerade nichts von nationaler Verbissenheit, nationaler Überheblichkeit zur verspüren. Nicht bei uns Deutschen, nicht bei den Gästen. Niederländer, kaum daß ihre Mannschaft rausgeflogen ist, erklären fröhlich, jetzt seien sie halt für die Deutschen. Deutsche Zuschauer feuern vehement mal die Elfenbeinküste an, mal Ghana, mal Trinidad und Tobago. Die Begeisterung scheint sich mal hier- mal dorthin zu wenden. Nur Begeisterung, das ist sie.
Mir scheint dieses Involviertsein, diese starke affektive Beteiligung einen hochgradig spielerischen Charakter zu haben, etwas sozusagen Uneigentliches und gerade dadurch Unbedingtes zu sein.
Anerzogener Nationalismus ist fordernd, auch belastend. Was hier aber zelebriert wird, das ist ein Nationalismus sozusagen mit Augenzwinkern. Eine affektive Beteiligung in Gestalt eines "als Ob", um Hans Vaihingers Formulierung zu verwenden. Eben Spiel.
Man kann sich dem Spiel ganz hingeben, obwohl oder gerade weil es ja "nur ein Spiel" ist. Weil die Emotion also rein und heftig sein kann. Wie eben die eines Kindes. Es ist ja folgenlos. Es ist keine Verantwortung damit verbunden. Es ist eine Engagement, das nicht mit allen den Häßlichkeiten einhergeht, die so oft ihr Haupt heben, wenn wir uns im wahren, im ernsthaften Leben engagieren.
Es gibt Sentenzen, die man als Teil unsers Bildungsguts kennengelernt hat, die abgedroschen erscheinen, und die doch unversehens ihren treffenden Sinn erweisen, wenn eine Sitution eintritt, die sie sozusagen paradigmatisch illustrieren.
Mir ist das in diesen Tagen mit dem vielzitierten Satz Schillers (aus der "Ästhetischen Erziehung des Menschen") so gegangen: Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.