30. Juni 2006

Robert Gernhardt ist tot

In den ersten Jahrgängen von "Pardon", Anfang der sechziger Jahre, schrieb ein Autor namens "Lützel Jeman". Genauer: Er schrieb und zeichnete. Noch genauer: Er tat das vor allem in einer "Beilage" von Pardon, der "WimS" - "Welt im Spiegel".

"Pardon" war im September 1962 auf den Markt gekommen. Ich erinnere mich noch an das erste Heft mit dem lustigen Teufelchen, das durch das höfliche Lüften seines Huts seine Hörner entblößte. Damals jobbte ich als Student auf dem Land, und das Heft verschönerte mir den Feierabend.

Es war eine ganz neuartige Zeitschrift. Ein bißchen an "Mad" erinnernd, aber intellektueller, auch politischer. Und herausragend war für mich sehr bald Lützel Jeman, der ab Ende 1964 zusammen mit F.W. Bernstein und F.K. Waechter dieses "WimS" gestaltete.



Alle drei waren sehr lustig, aber Lützel Jeman, der ab 1971 unter seinem bürgerlichen Namen Robert Gernhardt schrieb und strichelte, war bei weitem der witzigste. Er hatte einen ungeheuren Witz - nicht nur im Sinn von Humor, sondern auch im Sinn von Geist.

Von Anfang an hat mir bei ihm etwas besonders gefallen, was das ganze, so vielfältige und vielschichtige Werk von Robert Gernhardt kennzeichnet: Die Doppelbödigkeit, das Spiel mit den Realitätsebenen und den Stilformen.

Zu den festen Bestandteilen von WimS gehörte der "Schnuffi"- Cartoon von Gernhardt.

In einem der ersten - im Januarheft 1965 - ist Schnuffi ein Bergsteiger. Der Berg wird immer steiler, bis Schnuffi schließlich fast senkrecht klimmt. Und in seiner Sprechblase also spricht: "Ich schaff's nicht. Vielleicht ist der Leser so freundlich, das Blatt um 90 Grad nach rechts zu drehen?"

Das war typisch Schnuffi. Im nächsten Heft versuchte er, den Rahmen des Cartoons zu durchbrechen, weil er sich darin eingesperrt fühlte. Im September 1965 saß er mit seiner unvermeidlichen kleinen Gefährtin gestrandet auf einer Insel. Am Horizont erschien ein Schiff, natürlich noch winzig klein, kam näher und näher - und war, am Strand angekommen, immer noch genauso klein, ein Spielzeugschifflein.

Spiel mit Dargestelltem und Darstellung, Spiel mit der Perspektive - das war schon damals Gernhardts Stil, als er noch keine dreißig war.




Ich habe danach alles von ihm gekauft und gelesen, was ich bekommen konnte; zwei Regalböden von Büchern, zum Teil opulenten Wälzern, sind es im Lauf der Jahrzehnte geworden.
Lange war mir aber entgangen, daß Gernhardt vom Geheimtip, der er gewesen war, allmählich zum populären Autor wurde. Vor ein paar Monaten habe ich ihn auf einer Lesung erlebt; es war vermutlich seine letzte Lesereise. Da wurde er von den Kultur-Honoratioren gefeiert und gelobt wie ein lebender Klassiker.

Was er in gewisser Weise auch wirklich geworden ist. Einer, der dieses Spiel mit den Realitätsebenen, mit den Stilen souverän und artistisch beherrschte, aber mit einem immer unterhaltsamen Ergebnis. Ein Volksdichter war er geworden, der einstige Lützel Jeman (mittelhochdeutsch für "kaum jemand").



Freilich will mir scheinen, daß dieses Populäre, dieses leicht Zugängliche am Werk Gernhardts leicht dazu verführt, ihn zu unterschätzen. Seine Prosa ist so ausgefeilt wie die Tucholskys und in seinen besten Stücken wie die von Kafka. Seine Gedichte sind oft Sprachspiele von höchster Durchtriebenheit. In den letzten Jahren auch immer mehr Gedankenlyrik. Philosophisches im Gewand des Humors.



Vor allem aber schätze ich Gernhardt als Maler. Nein, nicht als Karikaturist, wie es in den heutigen Nachrufen zu lesen ist. Natürlich war er das, zumal in den ersten Jahrzehnten. Aber er hat zeitlebens auch "ernsthaft" gemalt, und zwar - aus meiner Sicht - ganz hervorragend.

Seine Bilder sind in einigen kleinen, schönen Bildbänden erschienen; hier sind zwei:



Spiel mit der Perspektive. Spiel mit Konturen und Texturen. Licht und Schatten vor allem. Die Realitäten und Täuschungen, die das in seinem Zusammenwirken hervorbringt. Das war sein Thema, wie schon in den ersten Schnuffi-Cartoons.

Ähnliches habe ich in solcher Perfektion eigentlich nur in den Bildern von Max Liebermann gesehen, der zB in der Bildserie aus seinem Garten diese Ebenen des direkten und des reflektiverten n Lichts, des Schattens und der Textur, der Objekte und Räume meisterhaft variiert hat.

Hier ist eine Seite aus einem dieser Bildbände. Ich habe sie vorhin auf unserer Terrasse fotografiert; absichtlich so, daß dabei Schatten und Lichtreflexe dazugekommen sind - sozusagen weitere Realitäts- und Irrealitätsebenen: