22. Juni 2006

In welchem Zeitalter leben wir?

Wir leben im Känozoikum, früher Neozoikum genannt. Genauer: Im Quartär. Noch genauer: Im Holozän.

Der Mensch, so sagt es der Titel kleinen Büchleins von Max Frisch - meines Lieblingsbuchs von Frisch -, erscheint im Holozän. Dieses Zeitalter hat jetzt so ungefähr zehntausend Jahre hinter sich gebracht.



Wir leben im Holozän. Noch genauer: In einer Epoche, die seltsamerweise keinen "Zeitalter"-Namen zu haben scheint; man könnte sie die "Staatenzeit" nennen. Sie begann damit, daß im Industal, im Zweistromland, in Ägypten, in China die ersten städteartigen Siedlungen entstanden, dann Stadtstaaten, dann Reiche. Viertausend, fünftausend Jahre ist das jetzt her.



Wir leben in dieser Staatenzeit, und noch genauer gesagt leben wir in der "Neuzeit".

Natürlich lebten alle Menschen immer in der Neuzeit. Jede Zeit ist neu. Die Bezeichnung "Neuzeit" ist nicht viel gescheiter als dieses gesamte Geschichtsschema, das den Geschichts-Schulbüchern zugrundeliegt.

Jedenfalls denen, die in meiner Gymnasialzeit verwendet wurden. Da gliederte sich "die Geschichte" in Vorgeschichte (ohne schriftliche Zeugnisse), Frühgeschichte (mit wenigen schriftlichen Zeugnissen) und die eigentliche Geschichte - Altertum, Mittelalter, Neuzeit. Dreimal wurde auf dem Gymnasium dieses Schema durchlaufen - in der Unter- , der Mittel- und der Oberstufe. Ein Stück mit drei Akten, dreimal aufgeführt, sozusagen.



Wenn wir die Zwiebel weiter abschälen, dann gelangen wir in die einzelnen Zeitalter innerhalb der "Neuzeit". Die Renaissance, den Humanismus, das Zeitalter der Reformation, das Zeitalter des Absolutismus, der Aufklärung, das napoléonische Zeitalter und das der Freiheitskriege, das Zeitalter der Industrialisierung und das des Kolonialismus, dann des Imperialismus, und so weiter, und so fort.

Und so fort? Nein. Denn je mehr wir uns der Gegenwart nähern, umso unbestimmter werden die Zeitalter. Das gegenwärtige zumal scheint im Nebel zu verschwimmen.



Wenn man in in den fünfziger und sechziger Jahren jemanden fragte, in welchem Zeitalter wir lebten, dann lautete die vermutlich häufigste Anwort: Im Atomzeitalter.

Dahinter steckte die Idee, daß Zeitalter sich durch die jeweils dominierende Technik kennzeichnen lassen. Also Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit usw. Bis hinein ins Zeitalter der Dampfmaschine, der Eisenbahn zumal, und das Elektrizitätszeitalter. Gefolgt eben vom Atomzeitalter, von dem man sich die Lösung aller Energieprobleme versprach.



Das sagt heute kaum noch jemand. Die Atomkraft hat die Zeit hinter sich, in der sich viele Hoffnungen an sie hefteten. Ja, inzwischen wird sie von vielen gar als Bedrohug angesehen, so wie die "Lokomobile", die bewegliche Dampfmaschine, deren erschreckendes Auftreten in Ostpreußen Herrmann Sudermann Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben hat.

In den siebziger und achtziger Jahren hätten vermutlich viele, zumal unter den Gebildeten, auf die Frage nach dem gegenwärtigen Zeitalter geantwortet: Wir leben im Spätkapitalismus.

Denn inzwischen war an die Stelle des überkommenen Schemas von Altertum, Mittelalter, Neuzeit ein anderes, marxistisches Schema getreten: Antike Sklavengesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus; dieser letzere unterteilt in Früh-, Hoch- und Spätkapitalismus. Der Spätkapitalismus als die "höchste Stufe" und damit, der Dialektiker weiß es, die End- und Untergangsphase des Kapitalismus.



Es ist offensichtlich, daß das alter Wein in neuen Schläuchen war: Das Schema, wie es im Gymnasium seit Jahrhunderten gelehrt worden war, blieb erhalten, nur wurden neue Wörter eingeführt.

Auch das an Zeitaltern, was sich sozusagen darum herumrankte, war altbekannt: Vor der antiken Sklavengesellschaft sah Marx (und vor allem Engels, der ja in dieser Produktionsgemeinschaft für das Ressort "Historischer Materialismus" zuständig war) die "Urgesellschaft" - die glückliche Zeit, wie sie in der Paradies-Erzählung der Bibel ebenso vorkommt wie in Rousseaus Geschichtsmythologie. Und am Ende der Geschichte stand bei Marx/Engels das Goldene Zeitalter, die Wiederkunft des Messias, das Paradies auf Erden; kurz: der Kommunismus.



Auch das ging vorbei. Marxisten muß man heute wieder so mit der Lupe suchen wie vor der Achtundsechziger Kulturrevolution.

Was also ist die sozusagen brandaktuelle, die allerneueste, die top-moderne Antwort auf die Frage, in welchem Zeitalter wir leben?

Hm, hm. Es scheint keine zu geben. Das Zeitalter der Globalisierung? Das Ende der Geschichte? Der Zusammenprall der Kulturen?

Oder vielleicht das Computerzeitalter? Das asiatische Zeitalter? Das Zeitalter der Freizeitgesellschaft, der Dienstleistungsgesellschaft? Der Emanzipation der Frau? Das Zeitalter der erneuerbaren Energien? Oder doch eher das Zeitalter der Klimakatastrophe?

Vielleicht auch das biologische Zeitalter? Das Zeitalter des Islamismus? Das Zeitalter der multikulturellen Gesellschaft?



Wir wissen es nicht, offenkundig. Wir können, so scheint es, das Wesen unseres Zeitalters so wenig erkennen, wie Fabrice, der durch die Schlacht von Waterloo taperte, deren Wesen erkennen konnte, ja überhaupt den Umstand, daß er mitten in einer Schlacht war. Zum Erkennen braucht man Distanz.



Aber gerade der Zustand des Unwissens verleitet natürlich zum Spekulieren. Irgendwie hat jeder von uns doch eine Vorstellung davon, in welchem Zeitalter wir leben.

Welches man sieht, das hängt vermutlich auch davon ab, wie optimistisch oder pessimistisch man ist.

Ich bin optimistisch. Also glaube ich, daß wir im Zeitalter der Durchsetzung der Aufklärung leben. Ich glaube, daß wir in einem Zeitalter leben, in dem der Totalitarismus zu Ende geht und in dem sich der demokratische Rechtsstaat weltweit durchsetzt.



Vielleicht ist das irrig. Aber ich finde, es ist eine erfreuliche Deutung unserer Zeit - und eine, die bestimmt mehr Körnchen Wahrheit enthält als der marxistische, und generell der linke, Traum vom Sozialismus.