1. Januar 2022

Ray Bradbury, "Der Spaziergänger" (1951)





In die Stille hinauszutreten, die die Stadt an einem nebelverhangenen Abend um acht Uhr im November ausfüllte, die Füße auf den unebenen Gehsteig zu setzen, über die grasbewachsenen Seitenstreifen zu gehen und mit den Händen in den Taschen durch das Schweigen zu gehen: das war es, was Leonard Mead über alles genoss. Manchmal blieb er an einer Straßenkreuzung stehen und blickte nach allen vier Richtungen die langen Straßenzüge hinab, wie sie im Mondlicht dalagen, bevor er sich für eine Straße entschied. Es war egal, wohin er sich wandte. Er war allein in dieser Welt, in diesem Jahr 2053 – oder so gut wie allein. Und sobald er seine Entscheidung getroffen hatte, setzte er sich in Bewegung, während sein Atem vor ihm wie Zigarrenrauch in die kalte Luft stieg.

Manchmal war er stundenlang unterwegs und kehrte erst um Mitternacht nach Hause zurück. Auf seinen Spaziergängen sah er die Häuser und Bungalows mit ihren dunklen Fenstern; es war fast, als ob er über einen Friedhof spazierte. Nur schwache Lichtschimmer blinkten wie Glühwürmchen hinter den Fenstern auf. Ab und zu erschienen graue Gespenster an Zimmerwänden, vor denen noch keine Vorhänge zugezogen waren, oder Flüstern und leise Stimmen waren zu hören, wo noch ein Fenster in einem der wie Grabsteine anmutenden Gebäude offenstand.

Dann blieb Leonard Mead stehen, neigte den Kopf, lauschte, sah genau hin und ging dann weiter, ohne ein Geräusch auf dem unebenen Gehsteig zu machen. Er hatte sich schon lange angewöhnt, bei seinen Gängen weiche Halbschuhe zu tragen, damit ihn nicht unverhofft das Gebell von Hunden begleitete, wenn er auf harten Sohlen unterwegs war, und die Außenlichter angingen und eine ganze Straße über die einsame Gestalt aufgeschreckt wurde, die da an einem frühen Novemberabend vorbeikam.

An diesem Abend hielt er sich zuerst in westlicher Richtung, dort, wo in der Ferne das Meer verborgen lag. Es lag eine gute, kristallklare Kälte in der Luft, die ihm in die Nase schnitt und ihn wie fast wie eine Weihnachtsbaumbeleuchtung in die Lungen fuhr: es fühlte sich an, als ob er das eisige Licht in sich aufleuchten und ausgehen fühlen könnte, als wenn sich seine Lungen mit unsichtbarem Schnee füllen würden. Das leise Rascheln, das seine Schuhe verursachten, als er auf das gefallene Herbstlaub trat, gefiel ihm, und er pfiff leise und kalt vor sich hin, hob ab und zu ein Blatt auf, besah sich das Muster der Blattskelette im Licht der wenigen Straßenlaternen und roch den an Rost erinnernden Geruch.

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„Hallo, da drinnen,“ flüsterte er den Häusern zu, an denen er vorbeikam. „Was gibt’s heute abend im vierten Programm? Im siebten? Im neunten? Sind die Cowboys mal wieder unterwegs? Ist die US-Kavallerie schon zur Rettung ausgerückt?“

Die Straße war still und lang und verlassen; nur sein Schatten bewegte sich wie der Schatten eines Raubvogels, der über dem freien Land dahinzieht. Wenn er stehenblieb und die Augen fest schloß, konnte er sich fast einreden, daß er sich gerade mitten in der Wüste in Arizona befand, im Winter, bei Windstille, wo das nächste Haus tausend Meilen entfernt war und wo ihn nichts als die ausgetrockneten Flußbetten als umgab.

„Wie spät ists jetzt?“ fragte er die Häuser und schaute auf die Armbanduhr. „Halb Neun? Die passende Zeit für ein halbes Dutzend Morde? Für ein Quiz? Eine Musikshow? Ein Komiker, der von der Studiobühne fällt?“

Klang da ein leises Gelächter aus einem der mondhellen Gebäude? Er zögerte und ging dann weiter, als nichts weiter erfolgt. Er stolperte an einer besonders unebenen Stelle des Gehsteigs. Die Betonplatten wurden von Gras und Blumen überwuchert. Während der zehn Jahre, die er jetzt unterwegs war, sowohl tagsüber wie auch nachts, war er nie einem anderen Spaziergänger begegnet, nicht ein einziges Mal.

Er kam zu der Stelle, an der sich die beiden Hauptstraßen der Stadt kreuzten und die Zufahrten still dalagen. Tagsüber donnerten die Autos darüber, die Tankstellen waren geöffnet, die Autos zogen dahin wie ein nie endender Zug Insekten aus Metall, die um die Vorfahrt kämpften und die Abgase aus dem Auspuff strömten, um ihre Insassen nach Hause zu bringen. Aber jetzt waren diese Straßen so leer und verlassen wie ein Flußbett in der Trockenzeit, reglose steinerne Rinnen im Mondschein.

Er bog in eine Nebenstraße ab, und machte sich auf den Rückweg. Er war nur noch einen Block von seiner Wohnung entfernt, als plötzlich das Auto um die Straßenecke bog und ihn ein greller weißer Lichtstrahl erfaßte. Er blieb festgebannt stehen, gelähmt von dem blendenden Licht, und dann davon angezogen, wie eine Motte.

Eine metallische Stimme ertönte:

„Stehenbleiben! Bleiben Sie da, wo Sie sind! Keine Bewegung!“

Er blieb stehen.

„Hände hoch!“

„Aber-" sagte er.

„Hände hoch! Oder ich schieße!“

Natürlich: die Polizei. Aber was für eine Überraschung: in einer Stadt mit drei Millionen Einwohnern, war nur noch ein Streifenwagen im Einsatz, wenn er sich richtig erinnerte. Seit dem vorigen Jahr, seit 2052, dem Wahljahr, war die Einsatzstärke von drei Wagen auf einen reduziert worden. Es gab kaum noch Verbrechen, die Polizei wurde jetzt nicht mehr gebraucht – außer diesem einen Fahrzeug, das durch die verlassenen Straßen patroullierte.

„Ihr Name?“ fragte der Streifenwagen mit seinem metallischen Flüstern. Im grellen Licht, das ihn blendete, konnte er die Insassen nicht erkennen.

„Leonard Mead,“ sagte er.

„Lauter!“

„Leonard Mead!“

„Beruf oder Beschäftigung?“

„Sie könnten mich einen Schriftsteller nennen.“

„Keinen Beruf,“ sagte der Streifenwagen, als wenn er ein Selbstgespräch führen würde. Das Licht bannte ihn an seinen Platz, wie ein Ausstellungsstück in einem Museum, das mit einer Nadel durch die Brust fixiert ist.

„So könnte man es auch ausdrücken,“ sagte Mr. Mead.

Er hatte seit Jahren nichts mehr geschrieben. Magazine und Bücher verkauften sich heutzutage nicht mehr. Alles passierte nur noch in diesen Häusern, die wie Gräber wirkten, dachte er, an seinen Gedanken anknüpfend. Gruften, von dem flackernden Licht der Bildschirm erhellt, vor denen die Menschen wie Tote dasaßen, über deren Gesichter das graue oder bunte Licht spielte, ohne sie jemals wirklich zu berühren.

„Kein Beruf,“ sagte die mechanische Stimme. „Was machen Sie hier draußen?“

„Ich gehe spazieren,“ sagte Leonard Mead.

„Sie gehen spazieren!“

„Ich gehe nur spazieren,“ sagte er schlicht, aber ihm wurde kalt.

„Sie gehen nur spazieren, nichts sonst?“

„Ja, Sir.“

„Einfach nur spazieren? Zu welchem Zweck?“

„Um frische Luft zu schnappen. Um mich umzuschauen.“

„Ihre Addresse!“

„South Saint James Street, Nummer 11.”

“Und Sie haben doch frische Luft? Sie haben doch bestimmt bei sich zuhause eine Klimaanlage?“

„Ja.“

„Und Sie haben doch bestimmt einen Sichtschirm zuhause?“

„Nein.“

„Nein?“ In der Stimme nach ein Knistern, das wie eine Anschuldigung wirkte.

„Sind Sie verheiratet, Mr. Mead?“

„Nein.“

„Nicht verheiratet,“ sagte die Polizeistimme hinter dem grellen Lichtstrahl. Der Mond stand hoch oben am Himmel unter den Sternen und die Häuser waren grau und still.

„Mich wollte keine haben,“ sagte Mr. Mead und lächelte.

„Reden Sie nicht, wenn Sie nicht gefragt sind!“

Mr. Mead wartete in der kalten Nacht.

„Nur ein Spaziergang, Mr. Mead?“

„Ja.“

„Aber Sie haben nicht erklärt, zu welchem Zweck.“

„Doch, das habe ich. Um frische Luft zu schnappen, und um mich umzuschauen.“

„Haben Sie das schon öfters getan?“

„Jede Nacht, seit Jahren.“

Der Streifenwagen stand mitten auf der Fahrbahn, seine elektrische Kehle summte leise vor sich hin.

„Also gut, Mr. Mead,“ sagte er.

„Ist das alles?“ fragte er in höflichem Ton.

„Ja,“ sagte die Stimme. „Hier.“ Ein seufzendes Geräusch ertönte, ein Klicken. Die schwarze Seitentür des Streifenwagens sprang auf. „Einsteigen!“

„Moment mal. Ich habe doch nichts getan!“

„Einsteigen!“

„Ich prostiere!“

„Mr. Mead.“

Er trat schwankend auf den Wagen zu, wie ein Betrunkener. Als er nahe genug gekommen war, sah er durch die Seitenscheiben. Wie er erwartet hatte, saß niemand auf dem Fahrersitz. Niemand saß im Auto.

„Einsteigen!“

Er legte seine Hand auf die Hintertür und sah die Rückbank an, die eine kleine Zelle war, eine kleine schwarze Zelle mit Gitterstäben vor der Scheibe. Sie roch nach Stahl, nach scharfem Desinfektionsmittel, sie roch zu sauber und hart und nach Metall. Es gab nichts, was die Härte und Schärfe abmilderte.

„Wenn Sie eine Frau hätten, die ihnen ein Alibi ausstellen könnte…“ sagte die eiserne Stimme. „Aber so…“

„Wo bringen Sie mich hin?“

Das Fahrzeug zögerte und leises ein leises surrendes Klicken hören, als ob irgendwo weit entfernt Photozellen Informationen von Lochkarten ablesen würden. „Zur Psychiatrischen Zentrum zur Erforschung regressiver Tendenzen.“

Er stieg ein. Die Tür fiel mit leisen Zischen zu. Der Streifenwagen rollte durch die dunklen Straßen, die von den Scheinwerfern in flüchtiges Licht getaucht wurden.

Sie kamen an einem Haus vorbei, dem einzigen Haus in einer Stadt, in der alle Häuser ins Dunkeln gehüllt dalagen, in dem jedes elektrische Licht hell brannnte, in dem jedes Fenster eine warme, laute gelbe Festbeleuchtung in der kühlen Dunkelheit war.

„Da wohne ich,“ sagte Leonard Mead.

Er erhielt keine Antwort.

Der Wagen rollte die das leere Flußbett der Straße entlang, verschwand in der Ferne und ließ die leeren Straßen und die verlassenen Gehsteige hinter sich zurück, in denen kein Laut und keine Bewegung den Rest der kalten Novembernacht mehr störte.

(Übersetzung: U.E.)

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„The Pedestrian” erschien zuerst in der Zeitschrift „The Reporter“ am 7. August 1951, einem kleinen literarischen Journal mit dezidiert linker Tendenz, das von Max Ascoli (1898-1978), einem Professor für Politikwissenschaften an der "New School of Social Research," von 1949 bis 1968 herausgegeben wurde herausgegeben wurde, nachdem Bradburys Agent, Don Congdon, vergeblich versuchte hatte, den Text als zahllose größere Magazine zu verkaufen; der erste Abdruck für ein „größeres Publikum“ erfolgte im Februar 1952 in „The Magazine of Fantasy and Science Fiction.“ Die erste Buchveröffentlichung folgte ein Jahr darauf in der von Bradbury selbst zusammengestellten Anthologie „Timeless Stories for Today and Tomorrow,“ die im September 1952 bei Bantam Books als Taschenbuchveröffentlichung herauskam. Die Erzählung fand ein Jahr später in Bradburys Sammlung „The Golden Apples of the Sun“ Aufnahme. Bradbury hat oft in Interviews davon berichtet, daß der Text von einem Zwischenfall inspiriert wurde, der ihm im Herbst 1949 in Los Angeles passiert ist, als er einen Bekannten mit den er in einem Restaurant im Stadtteil Wiltshire zu Abend gegessen hatte, zur nächsten Bushaltestelle begleitete. (Bradbury dürfte der einzige Angeleno gewesen sein, der Zeit seines Lebens nie ein Auto besessen hat.) Wie sein Biograph Sam Weller in „The Bradbury Chronicles“ schreibt, hielt neben den beiden Männern, die ins Gespräch vertieft waren, ein Streifenwagen. Der Beamte stieg aus und wollte wissen, was sie dort machten. Bradburys schnippische Antwort: „Wir setzen einen Fuß vor den anderen!“ kam beim Auge des Gesetzes nicht an, ebenso wie Bradburys forsche Auskunft: „Officer – wenn wir ein Geschäft überfallen wollten, hätten wir uns ein Auto besorgt, den Laden überfallen und wären über alle Berge. Wie Sie selbst sehen können, haben wir kein Auto – nur unsere Füße. Und außerdem verstößt es gegen das Gesetz, wenn sie uns hier einfach anhalten!“ Auf die verblüffte Frage des Beamten, ob sie denn wirklich nur spazierengingen, und ihr Nicken, hieß es: „Machen Sie das nicht nochmal!“



U.E.

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