10. Januar 2022

Paul Scheerbart, „Das Ende der Fleischnot.“ Mit einem Abstecher ins Jahr 2022



Von den künstlerischen Ausmalungen der Zukunft, die es in das „kollektive Gedächtnis“ geschafft haben und deren Handlungen mit einer ganz konkreten Jahreszahl verbunden ist, in dem sie stattfindet, gibt es genau drei – und das aus dem schlichten Grund, weil dieses Jahr in ihrem Titel genannt wird. Bei denen das Geschehen also nicht vage „in naher“ oder „einer ferneren“ kommenden Zeit spielt, sondern der Zuschauer (und Leser), dem danach zumute wäre, einen Kalender befragen könnte. Dazu zählt George Orwells maßgebliche Anti-Utopie „1984“ – bei dem die Vertauschung der letzten beiden Zahlen des Jahres 1948, in dem das Buch entstand, die Wegmarke lieferte. Sodann das Original und die Fortsetzung zu Arthur C. Clarkes „2001 – A Space Odyssey“ (Buch und Filmfassung 1968), „2010 – Odyssey II“ (1981) samt ihrer Verfilmung durch Peter Hyams von 1984 (die deutsche Kinofassung trägt den Titel „Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen“) und nicht zuletzt das gerade angebrochene Kalenderjahr, das dadurch eine ikonische Unterfütterung erhielt, indem Richard Fleischer 1973 seinen Film „Soylent Green“ in eben diesem Jahr 2022 spielen ließ. (*)

(* Pophörer älteren Baujahrs mögen noch das "One-Hit-Wonder" von Zager & Evans aus dem Jahr 1966 dazuzählen: "In the Year 2525." Aber der kleine Schlager nutzt die Jahreszahl nur zu einem Schnelldurchlauf von Stichworten zur bevorstehenden abschüssigen Karriere von Homo Sapiens: "In the year 25-25 / if man is still alive / if woman can survive / they may fight..." Edward Bellamys "Looking Backward, from the Year 2000" aus dem Jahr 1887 war das Buch, das für die nächsten 110 Jahre das titelgebende Jahr als Zielmarke der Naherwartung aufgabe; und Louis-Sebastien Merciers "L'An 2440" war im Jahr 1771 die erste literarische Zukunftsschau überhaupt, die diesen Namen verdient - aber beide Texte sind längst dem kulturellen Gedächtnis entfallen.)

Harry Harrisons Roman „Make Room! Make Room!” aus dem Jahr 1966, der Fleischer und seinem Drehbuchautor Stanley Greenberg als Vorlage diente, spielt im New York des Jahres 1999, und endet mit dem Beginn des „neuen Jahrtausends“ auf dem Times Square, auf dem die berühmte Neon-Leuchtschrift an der Front der „New York Times“ triumphierend erklärt, die Bevölkerung der Vereinigten Staaten habe im abgelaufenen Jahr einen neuen Höchststand von 334 Millionen erreicht - von denen, wie wir zu Anfang des Films erfahren, sich ein Zehntel auf dem Terrotorium New Yorks drängt (in der Filmfassung sind daraus 40 Millionen geworden). Fleischer und Greenberg verlegten die Handlung ihres Films 23 Jahre in die Zukunft, um das Elend, den Niedergang, die trostlose, hoffnungslos übervölkerte Welt als Dauerzustand noch eindrücklicher zu vermitteln – vor allem aber, um den Protagonisten jede Erinnerung an bessere vergangene Zeiten zu verwehren. Einzig Sol Roth – gespielt von Edward G. Robinson in seiner letzten Filmrolle -, der in hohem Alter steht, erinnert sich noch an jene Zeit, als es noch Tiere und organische Nahrung gab. Es gibt natürlich einen Schwarzmarkt; auf dem ein Glas Erdbeermarmelade vor 150 Dollar zu haben ist. Sols kleine Bibliothek an Referenzwerken und seine Kontakte als früherer Archivverwalter der Polizei haben es Frank Thorn – gespielt von Charlton Heston – mit dem er sich einer heruntergekommenen Wohnküche teilt, ermöglicht, aus dem gewöhnlichen Polizeidienst und der Jagd auf solche Schmuggler zu entkommen und sich der Aufklärung „richtiger“ Verbrechen zu widmen.

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Im Gedächtnis geblieben ist das Geheimnis, auf das Thorn im Zug seiner Aufklärung des Mordes an einem der wichtigsten Funktionäre der Albtraummetropole stößt, des Tycoons William Simonson, Vorstandsmitglied in der Soylent Corporation, dem Monopolisten, der das von staatlichen Stellen verteilte, zu Waffeln gepreßte Grundnahrungsmittel „Soylent Green“ produziert. Sol, dem es gelingt, mit Hilfe seiner Kontakte zu Widerstandgruppen im Untergrund an Exemplare der letzten von der Regierung gedruckten Übersichten über die Entwicklung der Weltlage zu gelangen, erfährt daraus das grausige Geheimnis, das die Regierung um jeden Preis geheimhalten will: nicht nur die Biosphäre an Land ist tot, schon seit Jahren ist auch das Plankton der Weltmeere, aus dem Soylent Green angeblich hergestellt wird, ein Opfer der Umweltverschmutzung geworden. Was an die hungernden Massen verteilt wird, wird aus den Kadavern der zahllosen Verzweifelten, die sich für die Option des assistierten Selbstmords entscheiden, produziert. Sol, der angesichts dieser Enthüllung jeden Lebenswillen verliert, beschließt, auch seinem Leben ein Ende zu setzen, kann aber in seinen letzten Momenten dem fassungslosen Frank noch die Gründe für seinen finalen Akt mittteilen, bevor er zu den Bildern von Mohnblumen auf Wiesen und der sinkenden Sonne hinter der Brandung des Meeres zu den Klängen von Beethovens „Pastorale“ der Wirkung der Giftspritze erliegt. Frank, der Sols Leiche auf dem Abtransport heimlich folgt, kann sich in der Fabrik der Soylent Corporation von der Wahrheit von Sols Worten überzeugen: „Soylent Green is People!“ – „Soylent Green ist Menschenfleisch!“ (Eine melancholische Note erhält die Szene, die einem Zuschauer durchaus als leicht verkitscht vorkommen kann, dadurch, daß es sich tatsächlich um die letzte Szene handelt, die Edward G. Robinson je drehte; er starb zehn Tage nach Abschluß der Dreharbeiten an Magenkrebs.)

Für Betrachter im praktisch-faktischen Jahr 2022, und besonders in Deutschland, ein halbes Jahrhundert nach diesen Dreharbeiten, erhält freilich eine andere Szene angesichts der tatsächlich eingetretenen Umstände eine besondere Note. Der Film beginnt mit einer Montage historischer Photos, die um die Jahrhundertwende einsetzen und zeigt die Entwicklung der Technik, der Automobile, der Großstadtstraßen, der Massen der Großstadt, des Gedränges, die Rauchwolken über den Schloten der Industrie – bis zum Albtraum des frühen 21. Jahrhunderts. In der ersten „eigentlichen“ Szene des Films, in der dem Zuschauer das Gespräch zwischen Sol und Frank über die näheren tatsächlichen Lebensverhältnisse ins Bild gesetzt wird, beginnt die einzige schwache Glühbirne im Raum zu flackern und zu verlöschen. Sol erhebt sich seufzend und setzt sich auf ein Standfahrrad – in jeder Zeit im Deutschen noch „Heimtrainer“ genannt – um damit vermutlich die Batterien – damals noch Akkumulatoren genannt – aufzuladen, mit denen die elektrischen Haushaltsgeräte – der Fernseher und der Kühlschrank – versorgt werden.









In Harrisons Romanvorlage kommt der Kannibalismus nicht vor. Dort ist nur von „Soylent Steaks“ die Rede, die vom Staat verteilt werden, wobei sich das Portmanteauwort auf „Soy“ und „Lentils“ zusammensetzt, also Sojabohnen und Linsen – was den tatsächlichen Bestandteilen „veganes Schnitzel“ durchaus nahekommt, die hauptsächlich aus Weizenmehl und Sojaproteinkonzentrat bestehen – neben den Aromastoffen, die ihnen eine Ähnlichkeit mit dem tierischen Protein verleihen. Harrisons Buch zählte zu einem der ersten Titel in der SF-Literatur der sechziger Jahre, in denen die düsteren Prognosen der damaligen Futuristen ihren Niederschlag fanden. Während sich in den Fünfziger Jahren die Ängste um die Vernichtung der Menschheit und die Zerstörung des Lebensraum auf die Drohung durch „die Bombe“ beschränkt hatten und die Versklavung durch grausame außerirdische Invasoren – hinter denen unschwer das Schreckgespenst des totalitären Sozialismus sowjetischer Prägung auszumachen war – so gewannen seit Mitte der sechziger Jahre die Ängste vor der Ressourcenerschöpfung, der unwiderruflichen Verseuchung des Biosphäre durch die wachsende Industrieproduktion, das Gespenst eine unaufhaltsamen Überbevölkerung die Oberhand. Angefangen mit Rachel Carsons „Stummem Frühling“ von 1964, mit Paul Ehrlichs „Die Bevölkerungsbombe“ von 1968, mit Barry Commoners „The Closing Circle“ von 1971 und mit den „Grenzen des Wachstums,“ die der Club of Rome 1972 folgen ließ, setzt eine rasant und im Wortsinn nachhaltige Verdüsterung der Vorstellung der Zukunft der Menschheit und unseres Planeten ein, die seitdem anhält und die mittlerweile, unbeschadet aller gegenläufigen Evidenz, zum Schreckbild der „globalen Erwärmung“ geronnen ist. Der Unterschied zu den Zukunftshöllen der Vergangenheit ist bei der „Klimakatastrophe“ ein fundamentaler: während frühere Dystopien das warnende Panorama der Katastrophe ausmalten, um dafür zu sorgen, daß es niemals eintreten würde, von „1984“ bis zu Gudrun Pausewangs „Die Wolke,“ ist die unablässige Beschwörung des Schibboleths „Klima“ – „Extremsommer!“ – „Der Planet brennt!“ – „Der Meeresspiegel steigt!“ seit nunmehr mindestens 40 Jahren in das Stadium eingetreten, daß die Sündhaftigkeit der Menschen in religiösen Bußpredigten einst hatte. Es geht nicht mehr um eine Verhinderung, sondern darum, die Gemeinde an ihre Verworfenheit zu gemahnen und ihr mit der Hölle zu drohen. Der Umschlag vom Extrapolierten in einer manisch-religiöse Befindlichkeit erklärt zwanglos, warum sich der Dauerzustand des Umwelt-Alarmismus in den letzten 50 Jahren, aller Weigerung der Natur, unterzugehen, völlig unangefochten fortsetzt.



(Nett ist auch, daß der französische Filmvertrieb, der wohl mit der bedeutungsfreien Vokabel „Soylent“ im Filmtitel seine Schwierigkeiten hatte, daraus „Soleil vert,“ „grüne Sonne“ machte. Man ist versuchtg, an Karl Kraus' Wendung vom "Beigeschmack der Wahrheit" zu denken, wenn dergleichen in unserem Kontext nicht ... geschmacklos wäre.)

„Make Room! Make Room!“ ist, wie gesagt einer der ersten Titel dieser Machart – oder vielleicht sollte man angesichts der ehrlichen Intentionen ihrer Verfasser „Warnungen“ sagen; Bücher wie John Brunners „The Sheep Look Up“ (1972) und „The Stone That Never Came Down“ (1974) oder „A Torrent of Faces“ (1967) von James Blish und Norman L. Knight kamen später.

Auch wenn Harrisons Vorlage das Motiv des Kannibalismus nicht enthält – als satirisches Motiv zur Anprangerung von Zeitumständen, als drastischste Volte, um den Leser zu schockieren, ist des Thema in der Literatur natürlich vor seiner Zeit präsent – wenn auch nicht oft. Als erster Text der modernen chinesischen Literatur gilt allgemein Lu Xuns kurze Erzählung 狂人日记 (Kuángrén rìjì, „Tagebuch eines Wahnsinnigen“), im April 1918 in der führenden Avantgardezeitschrift 新青年 (Xīnqīng Nián, „Neue Jugend“) publiziert, dessen Protagonist dem Wahn verfällt, alle Menschen um ihn herum, einschließlich seiner Nachbarn und seines Bruders, seien Kannibalen und trachteten ihm nach dem Leben. Und das Motiv ist seitdem, angeregt durch diesen Text, von Autoren wie Shen Congwen, Mo Yan, Zhang Xianliang und Ah Cheng immer wieder als drastisches Stilmittel aufgegriffen worden. Auch Robert Silverbergs frühe Erzählung „The Road to Nightfall,“ die er im Herbst 1953 als Achtzehnjähriger ganz zu Anfang seiner schriftstellerischen Karriere verfaßte, bedient sich sich dort – Silverbergs Text blieb, ungeachtet allen Beteuerungen der Herausgeber jener Jahre, es gebe in ihren Publikationen „keinerlei Tabus,“ für die nächsten fünf Jahre ungedruckt.

Im Zusammenhang mit einem der ersten kurzen Texte in meiner kleiner Serie zu - und mit – Paul Scheerbart habe ich vor ein paar Wochen geschrieben:

Scheerbart hatte seit 1896 gelegentlich einzelne Texte in der 1872 gegründeten Wochenzeitschrift „Die Gegenwart“ unterbringen können. Ab „Isis. Schauspiel in einem Aufzug“ in der Nummer vom 4. Januar 1908 ändert sich der Takt: 1908 erscheinen 5 Texte, 1909 sind es 25, 1910 dann 42, und 1911 weitere 30. Mit dem Abdruck des Textes „Das Ende der Fleischnot“ am 4. Januar 1912 endet die Serie abrupt. Fortan brachte das Blatt keinen einzigen Text mehr aus der Feder Scheerbarts ... Mir scheint es wahrscheinlicher, daß jener letzte Text über das „Ende der Fleischnot“ zu vehementen Protesten der Leserschaft Anlaß gab und Verlag und Redaktion keinen Einbruch der Umsatzzahlen riskieren wollten. Bei diesem Text, den man auch aus heutiger Sicht guten Gewissens um Lichtjahre jenseits der Grenzen alles guten Geschmacks verorten kann darf, hat sich Scheerbart ganz offen an Jonathan Swifts „bescheidenen Vorschlag“ aus dem Jahr 1728 angelehnt. Das „Modest Proposal“ macht bekanntlich den zutiefst zynischen Vorschlag, die hungernden Armen Irlands sollten ihre Kinder den englischen Kolonisten als Nahrungsquelle verkaufen, um ihre unerträgliche Not zu lindern. Swift spielt dieses entsetzliche „Projekt“ in seinem kurzen Text mit Pokerface ab – mit Zahlen und Mengenangaben, mit Schätzungen des Nährwerts, ganz nach dem Vorbild der zahllosen „Projekte“ seiner Zeit, die als ernstgemeinte, aber aussichtlose Pamphlete zu Dutzenden gedruckt wurden; jedem Kenner der damaligen Zustände auf der „grünen Insel“ war klar, daß es sich um einen vehementen Protest angesichts der Verhältnisse im 18. Jahrhundert handelte (in diesem Jahrhundert verzeichnete Irland insgesamt 18 Hungerjahre).


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Paul Scheerbart - "Das Ende der Fleischnot". Ein Vorschlag zur Güte.

Man wird sagen, daß ohne Wunder oder Grenzöffnung, was ja beides so ziemlich dasselbe ist, alles beim alten bleiben wird, daß sich nach einem ökonomischen Grundgesetz die Bildung des Preises nach Angebot und Nachfrage richtet und nicht nach irren Wünschen hungergeschwächter Menschen. Das weiß ich wohl! Dieses ökonomische Gesetz kann ich ebensowenig ändern, wie ein Naturgesetz. Aber ich kann helfen!

Wie?

Indem ich meinem Volke neue, ungeheuer ergiebige Nahrungsquellen erschließe, indem ich es hinweise auf Millionen und Millionen Zentner des köstlichsten Materials, das noch nicht den einzig vernunftgemäßen Weg allen Fleisches geht.

Rückkehr zur Natur! Diese von Weisen aller Zeiten gepredigte Wort bedeutet auch die Lösung dieses Rätsels!

Wie jedermann weiß, gibt es Tierfamilien, deren Mitglieder sich in Ermangelung anderer Nahrung untereinander verzehren, das heißt: um die Art zu erhalten, fressen sich einzelne Individuen dieser selben Art auf. Ein berühmter italienischer Gelehrter hat diese bewunderungswürdige Fähigkeit der Tiere, sich über Perioden großen Nahrungsmangels hinwegzuhelfen, mit dem bewunderungswürdigen Wort:" Homantophagie" benannt.

Nun, wer ist so feige, nicht selbst einen Schluß aus dieser Betrachtung zu ziehen?

Also rund heraus: Werden auch wir Deutschen Homantohagen!

Oder etwas deutlicher: Huldigen wir der Anthropophagie!

Oder etwas brutaler: Kehren wir reumütig zurück in die Arme des Kannibalismus!

Oder auf deutsch: Laßt uns wieder Menschen fressen!

Im Geiste sehe ich die Antwort, die dein Magen, verehrter Leser, auf diese Anregung gibt. Abe getrost, das vergeht alles, es ist alles Gewöhnung!

Unsere Vorfahren waren einst so gut Menschenfresser wie die vielen Völker Afrikas, Australiens, Asiens, Amerikas und der polynesischen Inseln, von denen uns glaubwürdige, ja unanfechtbare Zeugnisse ihrer anthropophagen Passionen überliefert sind. In Samoa gilt es heutzutage als fürchterliche Drohung, wenn einer dem andern die Phrase ins Gesicht schleudert: "Ich werde dich braten!" Nun, haben wir im hochkultivierten Deutschland nicht noch brutalere Ausbrüche avatistischer Neigungen auf diesem Gebiet? Aber sie sind uns so geläufig, daß wir uns noch nicht einmal darüber wundern. Wer hat noch nicht gehört, daß ein junger Mann seiner hübschen Braut gegenüber den Wunsch äußert: "Ich möchte dich fressen! Aus Liebe!" fügt er heuchlerisch hinzu. (Nebenbei bemerkt: in den meisten Fällen bereut er später bitterlich, daß er's nicht getan hat.)

Man sieht, anthropophagische Neigungen sind uns nicht fremd, unsere natürliche Anlage tritt uns bei dem Uebergang zur Menschenfleischnahrung nicht hindernd in den Weg.

Und wie steht es mit Bedenken kultureller, ethischer und ästhetischer Natur?

Was uns die Anthropophagie so gründlich verleidet hat, war nicht die Tatsache des Menschenfleischgenusses als solche, sondern das war die Masse barbarischer, widerlicher Begleitumstände. Der Mord, der grause Mord, war der Lieferant der Küche, unnötige Grausamkeiten der entsetzlichen Art diskreditieren die an sich vernünftige Institution. Wenn man, wie es einzelne malaiische Städte taten, das zum Verzehren bestimmte Menschenopfer lebendig und gesund an einen Pfahl bindet, ihm dann je nach Bedarf ein Stück vom Körper herunterschneidet und es vor seinen eigenen Augen brät und verzehrt, so ist das eine Roheit, die von jedem fühlenden Menschen nicht scharf genug verurteilt werden kann und deren Urheber sich mit dem Argument, daß Fleisch vom lebenden Menschen besser schmeckt, wie vom toten, nur schwach entschuldigen dürfen. Wenn sie wenigstens dem Opfer selbst die besten Stücke verabreicht hätten, damit es sich hätte neu kräftigen und die unsinnigen Quälereien seiner Peiniger widerstandsfähiger und standhafter ertragen können! Aber wie sollten solche feinste Regungen christlicher Kultur in einem wilden Kannibalenherzen auftauchen?

Nun wären noch Bedenken ästhetischer Natur zu zerstreuen. Nun, verehrter Leser, ich möchte dich vor folgende Alternative stellen: Was ist dir lieber? Willst du in einem Holzkasten in die Erde verpackt werden, nach und nach alle grauenerregenden Phasen der Verwesung durchmachen, oder möchtest du köstlich gewürzt, fein säuberlich serviert, von einem hübschen Dienstmädchen aufgetragen, auf der Tafel eines ehrenwerten Mannes glänzen und in den zierlichen Eingeweiden einer schönen Frau jenen bedeutungsvollen Prozeß durchmachen, der das definitive Ende des wunderbaren Zustandes des Lebens bedeutet, jenen Prozeß, der der letzte Akt in der Tragödie "Mensch," mit dem du stofflich ins All zurücksinkst, wie jene im Augenblick sich schäumend erhebende, im Sonnenlicht funkelden Welle zurücksinkt in den Schoß der urewigen Meeres? Ist es nicht ein Gedanke von grandioser Schönheit, noch im Tode mit dem letzten Rest der in dem Organismus angehäuften Stoffe, die Schönheit deiner Geliebte, die dich verzehrt, neu zum Erblühen zu bringen und damit andere glücklich zu machen, die sich nach dir ihres Besitzers erfreuen? Ist dies nicht ein wahrhaft großer, philantropischer Gedanke?

Nun wird sich wohl mancher fragen: Lohnt es sich denn überhaupt, mit so viel traditionellen Ansichten zu brechen, lohnt es sich, jahrtausendealte Gewöhnung, durch mehrtausendjähriges Herkommen geheiligte Gebräuche der Totenverehrung und Bestattung umzustürzen?

Die Antwort auf diese Fragen kann allein in der Güte des Menschenfleisches liegen, und sie lautet, wenn anders das Zeugnis vieler Hunderter Anspruch auf Authentizität machen darf, b-e-j-a-h-e-n-d, enthusiastisch bejahend!

Das Menschenfleisch schmeckt deliziös, zarter und wohlschmeckender wie das beste Schweinefelsich, das doch gewiß mit größten Recht im höchsten Ansehen steht. Auf den Fidschi-Inseln wird der Mensch mit humorvoller Anspielung auf seinen trefflichen Geschmack kurzweg "das lange Schwein" genannt. Europäer, darunter auch Deutsche, die Menschenfleisch aus Not oder Wißbegierde verzehrt haben, versichern übereinstimmend, daß das Fleisch gesunder junger Menschen geradezu hervorragend im Geschmack ist. Viele Naturvölker Afrikas, bei deren festlichen Gelagen Neger aller Stämme und Europäer aller Nationen auf der Speisekarte vertreten waren, versichern mit glaubhafter Begeisterung und seltner Uebereinstimmung, daß von allen Europäern Engländer, Deutsche und Holländer am besten schmecken. Sehr geschätzt werden auch Irländer, weniger beliebt sind Schotten. Franzosen und Italiener werden von Gourmets weniger gepriesen wie Neger und Malaien. Spanier verzehrt man fast überall nur aus Not, sie schmecken ungesund und bitter. (Daß in einzelnen Gegenden, wie z.B. auf den Hebriden, das Fleisch der Schwarzen und Gelben mehr geliebt wird als das der weißen, sei als eine Ausnahme der Regel angeführt.) Man sieht, daß auch in dieser Beziehung die germanischen Völker in wunderbarer Weise von der Vorsehung begünstigt werden.

Zwar steckt die gastronomische Technik der Memschenfleischzubereitung noch in den Kinderschuhen, auch hat sich bei den meisten Anthropophagen der Brauch herausgebildet, den Menschen als Ganzes im Ofen zu backen oder über dem offenen Feuer zu rösten, wie man im Mittelalter bei Kaiserkrönungen usw. die Ochsen für das Volk zubereitete. Nun denke man sich, daß sich die unübertreffliche Kochkunst der Franzosen des jungfräulichen Gebietes der Menschenzubereitung bemächtigte! Ein junger kräftiger, im schönsten Fleisch stehender preußischer Gardist in den Händen eines französischen Koches! Das wären Augenblicke!

Einen jährlichen Posten von mindestens 5000 Zentner würden die Offiziere beisteuern. Sie treten in ihren Beruf mit einem, durch Eid gelkräftigten Vorsatz, für das Vaterland zu sterben, und es besteht kein Zweifel, daß sie beglückt wären, ihren Vorsatz ausführen zu dürfen. Nun, hier kann Hilfe geschaffen werden. Die verabschiedeten Offiziere werden in Zukunft, anstatt in Pension, in die Pfanne wandern. Damit ist allen gedient und am meisten dem Staat, der Riesensummen an Pensionen sparen und beträchtliche Gelder aus dem Erlös der verkauften Masen ziehen würde. Wen die anderen Staatsbeamten darauf bringen sollten, in gleicher Weise wie die Offiziere vom Staate behandelt zu werden, so sollte man ihnen entgegenkommen.

In unserem Vaterlande werden jährlich ca. eine Million Krieger ausgehoben, die nach ihrem Eide ebenfalls bereit sind, für das Vaterland zu sterben. In Zukunft könnte man sich etwa auf die Hälfte beschränken und die andere Hälfte dem Volke als Nationalgeschenk darbringen. Der Umstand, da0ß wir Anthropophagen sind und im Kriegsfalle alle Kriegsgefangenen für unsere Volkswirtschaft nutzbar machen würden, wird uns in den Augen anderer Kulturnationen so furchtbar erscheinen lassen, daß uns nie mehr als die Hälfte unserer Kräfte zum Kriegführen nötig sein wird.

Die 125000 Mann, die die Nation sich jedes Jahr selbst zum Geschenke machen wird, haben natürlich auch erst eine zweijährige Dienstzeit zu absolvieren. die aber, den Umständen angemessen, so angenehm sein wird, wie nur irgend denkbar.

Es liegt auf der Hand, daß man die Leute nicht durch Strapazen, nicht durch Mißhandlungen oder Nörgeleien in ihrer schönen Entwicklung stören wird. Sie werden auf das Reichlichste und beste genährt, alle körperlichen Anstrengungen haben sie tunlichst zu vermeiden.

Am Ende eines jeden Jahres wären allenthalben im Lande Ausstellungen zu veranstalten, in denen dem Volke gezeigt wird, was eine zweckmäßige, reichliche Ernährung mit einem Menschen zumachen imstande sei, sei er selbst ein preußischer Volksschullehrer.

Die geistigen Helden und Führer des Volkes hätten nach ihrem Abscheiden die Tafle der regierenden Landesfürsten zu zieren. Da diese verehrungswürdigen Männer meistens ein patriarchalisches Alter erreichen, so erwächst den Fürsten aus ihrem Konsum eine schwere Repräsentationspflicht, die sie wohl oder übel zu den sonstigen schweren Pflichten ihre verantwortungsreichen Amtes hinzufügen müssen.

Genug. Die Reichtstagswahlen sind vorüber. In der Hand des Parlamentes liegt jetzt die Entscheidung! Welcher Partei auch ein Abgeordneter angehören mag, in erster Linie sollte er sich verpflichtet fühlen, für die Einführung einer kulturell geläuterten Anthropophagie zu stimmen.

Seit Jahren leidet das Volk peinlich unter der stets wachsenden Fleischnot.

Seit Jahren zittern die Einsichtigen vor dem immer drohenderen Gespenst der Überbevölkerung.

Hier gibt es nur ein Mittel. die Anthropophagie.

Denn jeder Braten mehr bedeutet einen Esser weniger!

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Nein: die Selbstausbeutung des Menschen als „ultimative Ressource“ (um Julian Simons Satz „The ultimate resource are people“ einmal zu pervertieren) steht uns im Jahr 2022 nicht ins Haus. Wohl aber, um auf die oben gezeigte Bildsequenz zurückzukommen, die nachstehende Aufmunterung, die heute allen Ernstes auf der Webseite von „klima.neutral,“ dem „Instagram-Kanal zur Klimapolitik“ des Westdeutschen Rundfunks – mithin einer staatlichen Sendeanstalt – an die Bürger dieses Landes erging. Man mag Texte wie die von Scheerbart für absolut geschmacklos und verfehlt halten. Aber wer heute im diesem Land noch Satire treiben möchte, kann nicht anders, als sich solcher Mittel zu bedienen, um nicht mühelos von unserer Politik in den Schatten gestellt zu werden.





U.E.

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