6. Februar 2019

Freiheit ist, Dinge zu tun, die andere nicht mögen. Ein Gastbeitrag von Frank2000

Den ADAC kennt in Deutschland wohl jeder. Diese Organisation ist eine der größten und ältesten Lobbyorganisationen dieses Landes. Ganz früher nannte man so was mal Interessensgruppe, aber diesen Begriff würden heute nur noch wenige verstehen. Lobby. Dieses Wort ist heute verpönt, klingt ... unsozial, ausbeuterisch ... abweichlerisch. Vor allem Letzteres mögen die Kulturdeutschen nicht, heute noch viel weniger als früher. Aber ich schweife ab. Was ist eine Lobbyorganisation? Das ist ein Zusammenschluss von Menschen, um gemeinsame Interessen zu vertreten. Eigentlich etwas völlig ... Normales.

In der Mitgliederzeitschrift des ADAC (02/19) stand jetzt ein kleiner Hinweis auf die erste in Betrieb genommene "Section-Control". Ich lasse jetzt mal außen vor, warum das eigentlich englisch benannt wird. Warum nicht "Sektionskontrolle", "Streckenradar" oder "Mittelmessung"? Die deutsche Sprache ist so aufgebaut, dass man über Komposita neue Terme erzeugt - würde man von Anfang an zum Beispiel "Mittelmessung" verwenden, dann würde bereits in wenigen Monaten der Begriff so selbstverständlich verwendet werden wie "Brückenschlag", "Löffelbagger" oder zehntausend andere zusammengesetzte Begriffe, die zu neuen eigenständigen Worten wurden. Aber die Kulturdeutschen haben kollektiv beschlossen, verrückt zu werden. Und so wird jetzt statt "Mittelmessung" "Section-Control" eingeführt.

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Was ist diese "Section-Control"? Statt einer punktuellen Geschwindigkeitsüberwachung werden die Nummernschilder der Autofahrer an mehreren Punkten fotografiert und daraus ein Durchschnittswert der Geschwindigkeit berechnet. In der ADAC-Zeitschrift wird wohlwollend von "Premiere" geschrieben und mir wird schlecht. Wenn nicht mal der ADAC als Interessengemeinschaft der Autofahrer es für nötig hält, auch nur leise Kritik daran zu äußern, dann läuft etwas grundlegend falsch.

Zunächst sollte ich erklären, wieso eine "Einrichtung zur Geschwindigkeitskontrolle (Blitzer)" etwas ganz anderes ist als eine Mittelmessung. In ersterem Fall findet eine Schwerpunktüberwachung statt zur Verbesserung definierter Problemstellen. So werden Blitzer an Unfallschwerpunkten aufgestellt oder vor Kindergärten als Vorbeugemaßnahme. Es gibt auch Blitzer in Dorfdurchfahrten, wenn eine permanente und deutliche Überschreitung der Geschwindigkeit festgestellt wurde. Und ja, es gibt auch - aber viel seltener als man denkt - Blitzer, um die Stadtkasse zu füllen.

Eine Mittelmessung allerdings soll keine Probleme beseitigen, sondern konformes Verhalten erzwingen. Auch, wenn das in Deutschland kaum noch jemand begreift: das ist was anderes. Im Moment ist dieses Überwachungssystem noch lückenhaft. Denn wenn Autofahrer wegen eines Staus gezwungen werden, sehr langsam zu fahren, könnten sie danach auf die Idee kommen, die erlaubte Geschwindigkeit zu überschreiten: Im Mittel wären sie dann immer noch im erlaubten Bereich. Aber so weit werden wohl nur wenige Autofahrer rechnen. Und langfristig gibt es ja noch viel feinere Überwachungsmechanismen, bis hin zu einer GPS-gesteuerten Echtzeitüberwachung der Geschwindigkeit.

Eine Mittelmessung ist eine Verhaltensüberwachung. Kaum jemanden in Deutschland scheint das noch zu stören... dabei ist das nichts anderes als der Einstieg in eine Diktatur. Orwell - kennt den noch jemand?- lässt grüßen. Nicht mehr besonders problematische Ausnahmen sollen verhindert werden, sondern jede Form der Abweichung soll im Keim erstickt werden. Und es soll niemand glauben, dass diese Entwicklung auf den Verkehr beschränkt bleiben wird. Dabei gehe ich noch nicht mal auf zusätzliche Kollateraleffekte einer Überwachung ein - bis hin zum Missbrauch oder Diebstahl von Daten. Denn merke: Nur Daten, die es nicht gibt, können weder gestohlen noch missbraucht werden. Aber das ist nicht der Schwerpunkt dieses Artikels.

Konformes Verhalten wird inzwischen an Dutzenden Stellen eingefordert. Beim Heizen, beim Essen, beim Schreiben (heute schon gegendert?). Letzteres, das "Schreiben", wurde gerade erst mittels "Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz - NetzDG)" einer Verhaltenskontrolle unterworfen. Abweichendes Verhalten soll bereits im Vorfeld verhindert werden. Nicht mehr besonders problematische Ausnahmen werden bekämpft (denn strafrechtlich relevante Aussagen konnte man auch schon vorher verfolgen), sondern abweichendes Verhalten an sich soll unmöglich werden.

Ich überlasse anderen die Diskussion, ob diese neue Tendenz zur Verhaltenskontrolle eigentlich bei allen Subkulturen in Deutschland gleichermaßen durchgesetzt wird. Mir geht es im Moment darum, dass aus der deutschen Zivilgesellschaft (Kunst, Kultur, Lobby, ...) keinerlei Widerstand mehr kommt, ja nicht mal mehr Kritik. Die gesellschaftliche Strömung zur Verhaltenskontrolle hat vollumfänglich gewonnen.

Ich sehe das ganz anders. Ich gebe mich zu erkennen - ich "oute" mich. Ja, ich gehe nachts bei Rot über die Ampel, wenn hunderte Meter weit weder links noch rechts ein anderer Verkehrsteilnehmer zu sehen ist. Die Ampel gilt auch nachts, ja, das weiß ich. Aber ich möchte es trotzdem weiterhin tun. Genauso, wie ich im Wald Steine mitnehme und in meine Vorgartenmauer verbaue. (Kleinmengen darf man allerdings mitnehmen.) Ich störe mich zwar daran, dass manche Osteuropäer säckeweise die Pilze aus dem Wald räumen. Aber ich werde trotzdem nie dafür stimmen, den Wald mit Webcams zu überwachen. Ich werde mich weiterhin daran stören, wenn Leute in der Stadt gegen die Mauer pinkeln. Aber ich werde niemals zustimmen, die Städte zu überwachen, um so ein unerwünschtes Verhalten systematisch auszurotten. Menschen brechen das Gesetz in tausenden Facetten. Beim Baurecht gibt es wohl fast mehr Häuser, wo irgendwo "fünfe grade" gelassen wurden, als Häuser, die bis in den letzten Zentimeter den Regeln entsprechen. In der Steuererklärung zu schummeln ist Volkssport. Selbst manche sehr liebevolle und fürsorgliche Eltern haben schon mal ihr Kind geschlagen. Jugendliche sprühen Graffiti auf Gebäude. Manche Erwachsene haben verbotene Drogen ausprobiert. Musik zu laut. Silvesterböller, die nach Silvester knallen. Welcher Jugendliche ist noch nie in einen Rohbau eingestiegen? Hat den Nervenkitzel gespürt, etwas "Verbotenes" zu tun? Geschädigt wurde dabei in aller Regel nichts und niemand.

Wie weit wollt ihr gehen mit der Überwachung?

Ja, Gesetze werden nicht nach dem Zufallsprinzip erlassen. Es ist doch keine Frage, dass in Deutschland Gesetze erlassen werden, weil viele Menschen ein bestimmtes Verhalten stört. Und viele Gesetze, wenn nicht die meisten, sind sehr sinnvoll. Aber wollen wir wirklich einen Überwachungsstaat, um sicherzustellen, dass kein Gesetz jemals wieder gebrochen werden kann - oder zumindest zu hundert Prozent jede Abweichung bestraft werden kann? Ist nicht gerade die Möglichkeit, Gesetze auch mal (mit Betonung auf: mal!) zu brechen, das, was eine Gesellschaft "menschlich" macht?

Um einen früher gut bekannten Philosophen zu zitieren: Jesus wusste das noch. Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat. Die Gesetze wurden für die Menschen gemacht, nicht die Menschen für die Gesetze. Früher war "Pharisäertum" ein Schimpfwort. Werden wir es erleben, dass in Deutschland moderne Pharisäer zu Hohepriestern werden?

Freiheit ist, Dinge zu tun, die andere nicht mögen.

Freiheit bedeutet, auch mal Dinge tun zu können, die "falsch", ja vielleicht sogar "verboten" sind. Wenn man nur noch Dinge tun kann, wenn man tatsächlich auf Grund staatlicher Überwachung nur noch die Dinge tun kann, die gesetzlich erlaubt sind, dann ist man nicht mehr frei. Und früher war es auch nicht nötig, Verhalten bis in den letzten Winkel zu überwachen. Es gab keine Kameras auf Bahnhöfen oder in öffentlichen Gebäuden. Mir ist bewusst, dass in den letzten Jahren Merkel und Co unser Land auf eine Weise verändert haben, die "Überwachung" jetzt viiiel attraktiver erscheinen lassen. Aber wollen wir das wirklich?

Dabei geht es nicht um den Sinn des Rechtsstaats und um den Sinn von Kontrolle und Bestrafung. Dagegen habe ich kein Wort geschrieben. Eine Gesellschaft braucht Werkzeuge, um Auswüchse oder systematisch schädliche Verhaltensweisen im Griff zu behalten. Tatsächlich gibt es für mich in vielen Situationen sogar ein viel zu lasches Rechtswesen. Aber Verhaltensüberwachung muss das letzte Mittel bleiben.

Sonst verlieren wir den einen Kern, die eine Errungenschaft, die den "Westen" von 80% der Restwelt unterscheidet: Individuelle Freiheit.


Frank2000

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