9. September 2018

Politische Lyme-Borreliose nach Zeckenbiss: Noch etwas zu Chemnitz

Gestern habe ich mich in einem Blogartikel mit den derzeit der breiten Öffentlichkeit bekannten Videos zu den behaupteten "Hetzjagden" in Chemnitz befasst. Heute möchte ich die politische Dimension der Diskussion kommentierend beleuchten.

Die Bilanz des bisherigen einschlägigen Auftretens von Bundeskanzlerin Merkel kann eigentlich nur "peinliche Panne" lauten. Zum einen hat die Regierungschefin bei der Auswahl ihrer Quellen, aus denen sie die Grundlagen für ihre Einschätzung der Lage bezog, einen eklatanten Mangel an Sorgfalt walten lassen: Ein Film, der von einem bestens erkennbar der linksextremen Szene angehörigen User(kollektiv) ins Internet gestellt wurde, war wohl letztlich das einzige objektive Beweismittel, auf das die mächtigste Frau im Staat ihre Einlassungen stützte. Bei den Strafverfolgungs- und den Sicherheitsbehörden hatte sie offenkundig nicht nachgefragt, denn sowohl die Generalstaatsanwaltschaft Dresden als auch das Bundesamt für Verfassungsschutz können dem ihnen vorliegenden Material zu Chemnitz jedenfalls derzeit keinen Hinweis auf eine xenophobe Hetzjagd entnehmen.
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Und auch bei ihrer Wortwahl lag Merkel daneben: Was man in der von "Antifa Zeckenbiss" publizierten Sequenz sieht und hört, ist feindseliges Geschrei und eine Tätlichkeit (Tritt in Richtung Gesäß), die - falls sie überhaupt ihr Ziel getroffen hat - kaum zu einer Verletzung geführt haben dürfte. Der Ausdruck "Hetzjagd" ist deshalb sehr stark übertrieben. Von der Bundeskanzlerin hätte man mehr Augenmaß in der Sprachverwendung erwartet, geht es bei den Ereignissen in Chemnitz doch um zwei der großen Reizthemen der letzten Jahre, nämlich Migrantenkriminalität (als negative Folge der Willkommenskultur) und rechtsextreme Gewalt (als angebliches strukturelles Problem im Osten).

Da zwei der Oppositionsparteien im Bundestag und ein großer Teil der Medien ihre Hände ganz tief in demselben Mustopf haben und Kritik an der Bundeskanzlerin seit dem Herbst 2015 in der veröffentlichten Meinung weitgehend vermieden wird, wurde der methodische und lexikalische Aussetzer der Regierungschefin nicht weiter Gegenstand der Berichterstattung. Doch "Zeckengate" scheint noch nicht abgeschlossen. Denn Angela Merkel dräut aus zwei Richtungen weiteres Ungemach:

Zum einen steht immer noch die von Antje Hermenau geäußerte Behauptung, der Beginn des Films sei geschnitten worden und unterschlage deshalb eine dem Geschehen vorgelagerte verbale Provokation durch die beiden Migranten, im Raum. Danisch verlinkt auf einen Facebook-Beitrag, in dem ein Lars Franke angibt, Zeuge der Auseinandersetzung geworden zu sein und Wahrnehmungen zu Herausforderungsgesten der zwei später das Hasenpanier Ergreifenden gemacht zu haben. Neutral ist der Duktus des Textes freilich nicht, was bei all dem Geraune, das bereits über Chemnitz verbreitet wurde (auch von Politiker- und Presseseite), durchaus einen gewissen Argwohn gegenüber den Ausführungen des Mannes rechtfertigt. (Wer die Körperspannungsesoterik der von Danisch zitierten Leserin glauben möchte, soll das tun. Wer an verwertbaren Beweisen ein Interesse hat, könnte es auch lassen, zumal die Handykamera erst dann auf die Szene hält, als aus den biodeutschen Reihen schon Gepöbel zu hören ist, was eine Abwehrhaltung der Adressaten schlüssig erklärt.) Doch wenn sich herausstellen sollte, dass die beiden Migranten die Gruppe ihrer nachmaligen Gegner anfänglich gereizt haben, so würde das "Zeckenbiss"-Video als Beleg dafür, dass "Rechte" wahllos Jagd auf südländisch aussehende Menschen machten, ausscheiden.

Als deutlich brisanter für Angela Merkel nimmt sich jedoch der Umstand aus, dass nach der "vorsichtigen Bewertung" des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz "gute Gründe" dafür sprächen, dass der von den Antifanten publizierte Film nicht authentisch, sondern ein Stück gezielter Desinformation sei. Was Hans-Georg Maaßen zu dieser seiner Einschätzung veranlasst, ist noch nicht bekannt: Sind es der Inhalt und die Machart des Films sowie die Umstände seiner Veröffentlichung, die Zweifel an der Echtheit des Streifens nähren? Oder liegen den Kölner Schlapphüten diesbezügliche Aussagen ihrer Informanten vor?

In den Medien wurde freilich gleich relativierend der Einwand vorgebracht, die Generalstaatsanwaltschaft Dresden habe die Authentizität des "Zeckenbiss"-Videos bestätigt. Diese Ansicht hält einer genauen Lektüre der Stellungnahme des Oberstaatsanwalts Wolfgang Klein indessen nicht stand. Denn der öffentliche Ankläger hatte lediglich kundgetan, ihm lägen "keine Anhaltspunkte dafür [vor], dass das Video ein Fake sein könnte". Der Film werde deshalb für die Ermittlungen genutzt; der Generalstaatsanwaltschaft Dresden seien die Grundlagen für Maaßens abweichende Schlussfolgerungen unbekannt. Von einem von der Strafverfolgungsbehörde verliehenen Echtheitssiegel kann somit keine Rede sein. Es besteht die Möglichkeit, dass die Staatsanwaltschaft am Ende ihrer Recherchen zu dem Ergebnis der Unechtheit des Videos gelangt.

Die zunächst vom FOCUS und dann von weiteren Medien verbreitete Nachricht, Maaßen habe seine Wortspende auf Geheiß oder zumindest in Absprache mit Seehofer geleistet, ist völlig plausibel. Die gegenteilige Annahme, nämlich dass der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz eine Äußerung, die als Affront gegen Angela Merkel verstanden werden muss, ohne Wissen und Willen seines Dienstherrn getätigt hätte, ist unwahrscheinlich. Auch die Zeitnähe des Seehofer'schen Vertrauensbekenntnisses zu Maaßen spricht dafür, dass der Bundesinnenminister über die Interviewrepliken seines obersten Nachrichtensammlers vorab informiert war.

Meines Erachtens hat Benjamin Konietzny Recht, wenn er vermutet, dass es Seehofer bei dieser neuerlichen Unruhestiftung darum geht, am Stuhl der Kanzlerin zu sägen. Ich würde sogar noch weitergehen und im Unterschied zum n-tv-Journalisten die These aufstellen, dass der Bundesinnenminister im sogenannten Asylstreit gar nicht an der Sache interessiert war - der die bisherigen Vollzugsdefizite kaum behebende Formelkompromiss war schnell geschlossen -, sondern er vielmehr ausloten wollte, wie weit der einst bedingungslose Gehorsam der CDU-Abgeordneten zur großen Vorsitzenden noch reicht.

Seehofer braucht keine Angst zu haben, dass Merkel dem Bundespräsidenten seine Entlassung vorschlägt. Vor dem dann folgenden Ende der derzeitigen Regierungskoalition und der Fraktionsgemeinschaft mit der CSU schreckt sie ebenso zurück wie vor der Märtyrerstellung, die der Oberbayer dadurch in weiten Teilen der nichtlinken Wählerschaft ergattern würde. Dass sich Seehofer die Provokation der Rückendeckung für einen die Bundeskanzlerin offen desavouierenden Verfassungsschützer erlauben kann, stellt freilich eine Schwächung der CDU-Übermutti dar.

Über diese Demütigung hinaus verfolgt Seehofer meiner Ansicht nach noch ein weiteres Ziel: Ich vermute, dass er Maaßen weiterhin zur Begründung für seine Einschätzung des "Zeckenbiss-Videos" als apokryph schweigen lassen wird und damit einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss erzwingen möchte. SED und Grüne können nach ihren Forderungen, Maaßen zu entlassen und das Bundesamt für Verfassungsschutz zu restrukturieren, einem derartigen Antrag kaum wieder mit den im Falle des Bremer BAMF-Skandals vorgebrachten fadenscheinigen Gründen die Zustimmung versagen. Die AfD wäre ganz sicher mit von der Partie, weil es ihr selbst in Ermangelung skandalöserer Resultate schon nützen würde, wenn Merkels fehlende Quellenkritik und ihre semantische Übertreibung der Öffentlichkeit im formellen Rahmen einer Sachverhaltserhebung durch den Bundestag vor Augen geführt würden. Und die FDP mag, nicht zuletzt als Retorsion für die von 2009 bis 2013 zugefügte Schmach, einem solchen Vorhaben auch nicht allzu sehr abgeneigt sein.

Wenn man andererseits bedenkt, dass Merkel in den letzten 13 Jahren nahezu jeder heiklen Situation unbeschadet entkommen ist, sollte man nicht ausschließen, dass sich alle derzeitige Aufregung wieder in Wohlgefallen oder - besser formuliert - in Missfallen auflöst.

Noricus

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