2. September 2018

Chemnitz und die Plattentektonik der deutschen Politik

Für den Beobachter aus der Ferne ist es nahezu unmöglich, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, was genau in Chemnitz im Laufe der letzten Woche vor sich gegangen ist, zu widersprüchlich und häufig auch zu tendenziös sind die Berichte von den Demonstrationen und den Geschehnissen am Rande dieser Kundgebungen. Politisch wirksam dürften aber ohnehin eher die mediale Aufbereitung der Ereignisse in der sächsischen Großstadt und die darauf bezogenen Reaktionen des Bürgers werden.

Es ist wohl nicht unangemessen hyperbolisch, wenn man die kommenden Landtagswahlen in Bayern (14. Oktober 2018) und in Sachsen (voraussichtlich 1. September 2019) als Schicksalswahlen bezeichnet. Zwischen Alpen und Main steht immerhin die zur Gewohnheit gewordene Alleinherrschaft der CSU auf dem Spiel. Im anderen Freistaat könnte sich die AfD zur stärksten Kraft mausern. Beide genannten Eventualitäten wären dazu geeignet, messbare bis erdbebenartige Erschütterungen in der Bundespolitik hervorzurufen.
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Nichts ist gut für Markus Söder, wenn man den letzten Umfragen Glauben schenkt. Laut INSA soll die CSU nur noch bei 36 Prozent zu liegen kommen. Dass ein solches Ergebnis jede Partei in jedem anderen Bundesland zu Begeisterungsstürmen oder doch zumindest zu äußerster Zufriedenheit veranlassen würde, zeigt den Unterschied: Für die mit der absoluten Mehrheit als Zielvorgabe rechnende bayerische Erfolgspartei wäre ein gutes Drittel an Wählerszuspruch nicht nur eine Blamage, sondern eine Katastrophe, die zweifellos nicht bloß zu einer Neuauflage des Konflikts zwischen Söder und Seehofer, sondern auch wieder zu einer Infragestellung des ewigen Bündnisses mit der CDU führen oder aber ebenfalls den offenen Ruf nach Merkels Kopf befeuern könnte.

Chemnitz in dem eingangs näher beschriebenen Sinn hat nun durchaus das Potenzial, die Arithmetik des Urnenganges in Bayern in signifikanter Weise zu beeinflussen. Mag auch die Vermutung naheliegen, dass ein Tötungsdelikt mit zwei migrantischen Tatverdächtigen, von denen einer schon längst nicht mehr hier leben dürfte, Treibstoff für die Kampagne der AfD bildet, so scheint mir doch eine andere Spekulation einen höheren Grad an Wahrscheinlichkeit zu besitzen:

Gefühlt befindet sich Chemnitz seit einer Woche im Ausnahmezustand. Demonstrationen, aus denen es heraus zu Übergriffen - und sei es nur in Form von Pöbeleien, Böllereien und Flaschenwürfen - kommt, scheinen an der Tagesordnung zu sein. Für die von der Bundeskanzlerin und ihrem Pressesprecher evozierten Hetzjagden gibt es zwar keinen Beweis, aber die von der Polizei Sachsen genannten Zahlen - 37 Strafanzeigen unter anderem wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung sowie 18 Verletzte - könnten in einem in puncto innere Sicherheit eher verwöhnten Land wie Bayern die Wählerschaft durchaus dazu bewegen, von einem allzu innovativen Abstimmungsverhalten Abstand zu nehmen und der im Großen und Ganzen ja doch bewährten Kraft wieder das Ruder des Freistaatsschiffs anzuvertrauen.

Einen begünstigenden Faktor stellt dabei vielleicht auch der Umstand dar, dass sich die AfD von den gewaltbereiten Rechtsextremen, an der Elle westdeutscher Befindlichkeiten gemessen, nicht deutlich genug distanziert hat. Es ist freilich richtig, dass Alexander Gauland in zahlreichen Medien sinnentstellend verkürzt dahin zitiert worden ist, dass der Eindruck entstehen konnte, er habe Ausschreitungen verharmlost oder gebilligt - das hat er nicht getan -, aber so manchem Konservativen, der in der Migrations-Politik AfD-Positionen verwirklicht sehen möchte, dürfte das Achselzucken, dass man gegen das Unterwandern friedlicher Kundgebungen durch Chaoten nichts machen könne, sauer aufstoßen.

Zwar ist eine solche Einstellung im linken Spektrum seit Jahrzehnten gang und gäbe und wird dort in aller Regel auch nicht kritisch gesehen. Konservative aus den alten Bundesländern schrecken jedoch davor zurück, diese lockere Haltung auf ihr eigenes Verhältnis zu Rechtsextremen zu transponieren. Vielmehr hat sich die Maxime herausgebildet, dass man als Konservativer bei einer Demonstration, bei der mit Gewaltanwendung oder auch nur unzivilisiertem Verhalten zu rechnen ist, nicht mitmacht.

Sosehr in Bayern die Wahrnehmung von Chemnitz der CSU zu einem besseren als dem erwarteten Resultat verhelfen kann, sosehr dürfte in Sachsen die AfD insbesondere von den einschlägigen medialen Stellungnahmen profitieren. Zunächst muss man sich vor Augen führen, dass die neuen Bundesländer 40 Jahre lang an der Geschichte Osteuropas teilnahmen und dass sich während dieser Zeit eben auch politische Überzeugungen entwickelt haben, die von jenen des Westens abweichen, und sich insbesondere auch eine hohe, bei Untertanen einer Diktatur nicht seltene Sensibilität gegenüber offizieller oder auch nur offiziöser Doppelzüngigkeit ausgeprägt hat.

Berührungsängste zwischen Konservativen und Rechtsextremen mögen in Ostdeutschland anders als im Westen von der Mehrheit der Bevölkerung nicht als Teil der Staatsräson aufgefasst werden; dass an das linke Lager nachsichtigere Maßstäbe angelegt werden als an das rechte Spektrum, wird dort nicht als Selbstverständlichkeit hingenommen. Gauland hat mit seiner Äußerung wohl genau dieses Gefühl aufgegriffen, dass es nicht nachvollziehbar ist, dass man als "Rechter" für die Gewalttaten Gleich- oder Ähnlichgesinnter in Sippenhaft genommen wird, als Linker jedoch nicht.

Eine besondere Rolle dabei, noch mehr sächsische Wähler in die Arme der AfD zu treiben, spielt freilich der - man kann es kaum anders formulieren - Besserwessi-Journalismus der deutschen Leitmedien. Den einsamen Tiefpunkt der medialen Begleitung der Ereignisse in Chemnitz erreichte einmal wieder Jakob Augstein: Seine Kolumne, in der Demonstranten verspottet werden, sie sähen aus wie "Pimmel mit Ohren", und Sachsen als "Problemland" bezeichnet wird, ist eine reine Hatespeech-Tirade, die ungewollt satirisch wird, als der Autor von verantwortungsvollem Journalismus spricht.

Sollte die AfD in einem Jahr die Landtagswahl im östlichen Freistaat gewinnen, liegt die bequeme Erklärung somit schon bereit: Die sind halt so, die dunkeldeutschen Sachsen. Mit journalistischen Entgleisungen und dem "Wir-schaffen-das" der Bundeskanzlerin hat das alles nichts zu tun.

Noricus

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