29. September 2018

Was wird da aufgedeckt in der Kirche?

Die Kräfte der Stille und der Mitte drohen Europa zu verlassen.
Gehen sie wirklich fort, dann muss das Abendland verdorren. (1933)

Romano Guardini, † 1. 10. vor 50 Jahren



Wie seltsam die alten Worte Stille und Mitte. Wir hören heute andere: Verstrickung, Vertuschung, Missbrauchstudie, Machtstrukturen, Risikofaktor, Frühwarnsysteme. Die Psychologen sind nicht erstaunt, dass die Anzahl der „Betroffenen“ in Deutschland genauso groß ist wie die in Irland, USA und Australien. Der Mensch ist überall derselbe. Aber von Christen und Amtsträgern erwartet man Vorbildlicheres. ­

Zitierfähig wird das Urteil: „Es ist unvermeidlich, dass Verführungen kommen; aber wehe dem, der sie verschuldet: Es wäre besser für ihn, man würde ihn mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer werfen, als dass er einen von diesen Kleinen verführt.“ (Lk 17, 1-2) Barmherzigkeit mit den Sündern ist keine Tugend mehr.

Der Papst predigt über den „geistlichen Abgrund“ und den Teufel. Der Vatikan-Kommentator Bernd Hagenkord fürchtet: „Das Ideal von Kirche wird es nicht mehr geben.“ Ein Studentenpfarrer meldet sich: „Es ist das System eines überhöhten Amtsverständnisses. Es geht jetzt um das System.“ Die Aura des Priesters zerfällt. Schwindet mehr als ein falscher Schein? Die Gleichzeitigkeit mit einem großen heimlichen Prozess in der Kirche bemerkt der Journalismus nicht, weil der anerkannte Zeitgeist ihm entspricht: Die Entdeckung der (un)normalen „Sündigkeit“ des Klerus fällt in eine Zeit des sich durchsetzenden Religionspluralismus mit seiner alles relativierenden Hauptthese, auch das Christentum sei nur menschliche und nicht göttliche Wahrheit.

Es setzt sich etwas fort, das mit der Aufklärung begann. Wohin sie kam, wurde das Wunderbare entzaubert. Es liegt weniger an den seltsamen Dogmen als am fehlenden überzeugenden Leben. Die Kirchenmitglieder leben in einer längst überholten Sozialgestalt „Volkskirche“. Es entstand „eine Christlichkeit ohne Gehalt an realer Welt“, schrieb Guardini, „eine Dürftigkeit und Abseitigkeit; eine christliche Existenz, die nicht in der geschichtlichen Stunde stand, ebenso wie eine vom Christen im Stich gelassene Welt“. (Brief 13. 8. 1963).

Oft war zum Beispiel das Nationalgefühl wirksamer als die Nächsten- und Fernstenliebe – siehe die Weltkriege. Früher waren nur die Gebildeten über die Vielfalt der Ethiken und Religionen in der Welt informiert. Vor allem zwang die Sozialkontrolle des Dorfes zum Kirchgang. „Stadtluft macht frei“ war eine Verheißung. Dass auch die Getauften sündigen, nicht nur die Laien, sondern auch Pfarrer und Bischöfe, war keine Sensation. Die damalige Öffentlichkeit in Gestalt der spöttischen Dichter verschwieg so wenig wie die Bibel die Gefallenheit des Menschen.

Der Fest- und Heiligenkalender, das Beichtsakrament und auf jeder Brücke die Garantie für das Geheimhalten in Gestalt des ob seiner Unbestechlichkeit ertränkten Nepomuk sollten die Moral der Katholiken aufrecht erhalten. Die Protestanten verließen sich puristisch auf das Kreuz Jesu. Das ewige Leben und die ewige Hölle wurden von den meisten ernst genommen und bildeten wie in Pascals Spieler-Wette das Argument für ein anständiges Leben.

Die Kirche wird nun vom Zeitgeist beschuldigt, durch den ehelosen Priester selber den Produktionsort der sexuellen Gewalt zu schaffen. Ist das richtig oder eine Resignation und sind das protestantische Pfarrhaus und die freikirchlichen Leiter die überzeugenden Gegenbeispiele?

Zwar äußert der Psychiater Manfred Lütz: „Man mag dem Zölibat kritisch gegenüberstehen, aber eine Kopplung der Debatten um sexuellen Missbrauch durch Geistliche und dem Zölibat entbehrt jeglicher wissenschaftlichen Grundlage“. (Die Welt 20. 09. 2018) Aber dieser Fehlschluss hat eine Parallele: Der Monotheismus müsse abgeschafft werden, er sei schuld an den Kriegen. Und wie sähe die Welt aus ohne die selbstlose Hingabe solcher Ehelosen wie Mutter Teresa, ohne die Millionen, die in Klöstern arbeiteten? Ob man, um die zweite Seite zu verhindern, alles beseitigen sollte? Die Veranlagung des Menschen kann man dennoch nicht ändern, nur die Wege zu Kontrolle.

Romano Guardini schrieb: „Ein Grundgesetz aller echten Wertelehre sagt: Je höher der Wert, desto größer die Gefahr.“ (Welt und Person)

Welches theologische Motiv kann überhaupt eine Ehelosigkeit des Priesters begründen? Es wird nicht ganz dasselbe sein wie im Kloster. Das praktische Motiv Verfügbarkeit für den Dienst trägt als Ideal aber kaum ein Leben lang. Und wenn im Verzicht auf die Ehe die Erinnerung daran festgehalten wäre, dass die Erlösung nicht einfach ‚natürlich‘ machbar war und ist, sondern Jesus den Tod gekostet hat? Es braucht für dieses „in persona Christi“ nur einen einzigen aus der Versammlung, in Freiwilligkeit. Das ist eine Fremdsprache angesichts der Wirklichkeit der Pfarreien.

„Das Erscheinungsbild der Kirche der Neuzeit ist wesentlich davon bestimmt, dass sie auf ganz neue Weise Kirche der Heiden geworden ist und noch immer mehr wird: nicht mehr wie einst Kirche aus den Heiden, die zu Christen geworden sind, sondern Kirche von Heiden, die sich noch Christen nennen, aber in Wahrheit zu Heiden wurden. Das Heidentum sitzt heute in der Kirche selbst, und gerade das ist das Kennzeichnende sowohl der Kirche unserer Tage wie auch des neuen Heidentums, dass es sich um ein Heidentum in der Kirche handelt und um eine Kirche, in deren Herzen das Heidentum lebt.“

Nicht Guardini, aber ein Autor, der bis heute in Deutschland bei vielen unbeliebt ist, schrieb das: Joseph Ratzinger (Gesammelte Schriften Bd. 8/2, erschienen 2010, S. 1143).

Man muss erinnern: Die zwei Haupthilfen, die dem Christen ermöglichen sollen, Vorbild zu sein, gibt es in der zivilreligiös-verwässerten Gestalt der Volkskirche gar nicht mehr:
1) Die verantwortlich existierende Gemeinschaft, das echte Wir im Gottesvolk am Ort, welches den einzelnen ausbildet, anfordert und trägt;
und 2) den Anspruch zur Nachfolge Jesu oder - alttestamentlich gesagt - den Exodus aus dem alten Ägypten, also das Unterscheidend-Christliche gegenüber einer Religion, die ein Alibi in einer vermenschlichten Trostmystik gewährt.

Als Maß für den modernen Christen wird heute die „Lebensnähe“ ausgegeben. Die akademischen Theologen erheben es zur objektiven „Lebenswirklichkeit“. Das könnte man auch richtig meinen. Es wird aber als innen verfaulter Weisheitsapfel verkauft.

Auch in einer konservativen deutschen Diözese wird die pastorale Fortbildung des Personals 2019 in der Tonart eines billigen Jakob als „Kreativwerkstatt“ angekündigt. Zum Thema Wunder: Ein „Studientag zu einem ‚entspannten‘ Umgang mit einem grundlegenden Thema“. Ein Workshop „Trüffelschwein – Werde Talententdecker/in“ soll der „Förderung von Charismen“ dienen. Erstmals gibt es ein „Mountainbike-Pilgern“ zu „Grenzerfahrungen und Horizonterweiterung“. Natürlich gibt es auch den Film „Verfehlung“ zur Prävention sexualisierter Gewalt.

Am 1. Oktober 2018 wird Romano Guardinis 50. Todestag in der Münchner Universitätskirche gefeiert. Welche Spannweite diesen wirklichen Theologen bewegte, sieht man aus dem Vergleich der folgenden Stellen.

Zur Welt: „Dass die Erde ein winziges Stäubchen im Universum ist, dringt ins Bewusstsein. Dass sie in keiner Weise den Charakter einer Mitte hat, sondern ‚irgendwo‘ ist, ebenfalls. Dadurch scheint alledem, was die Offenbarung über die Bindung einer ‚Gottesgeschichte‘ an die Erde gesagt hat, wesenlos zu werden und nicht mehr ‚realisiert‘ werden zu können.“ (Tagebuch, 10. 3. 1961)

Zum Ich und der Gefahr: „Gibt es aber viele Tage in unserm Leben, an denen wir unsere Pflicht, unsere Liebe nicht für eine Eitelkeit, für eine Sinnlichkeit, für einen Gewinn, für eine Sicherheit, für einen Hass, für eine Rache preisgegeben haben? Uns selbst enthüllt Judas. In dem Maße versteht man ihn christlich, als man ihn aus den bösen Möglichkeiten des eigenen Herzens heraus versteht.“ (Der Herr, 1937)

Ludwig Weimer

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