2. Juni 2017

Zeitmarke. "It was twenty years ago today...."

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"...Sergeant Pepper taught a band to play.
They've been going in and out of style,
But they're guaranteed to raise a smile.
So let me introduce to you
the one and only Billy Shears
and Sergeant Pepper's Lonely Hearts Club Band!"


Als Paul McCartneys Stimme, heute vor 50 Jahren zum ersten Mal auf Abertausenden von Plattenspielern abgespielt, den Reigen im Songzyklus des zwölften Albums der Beatles eröffnete , um dann nach der absteigenden Bläserkaskade in G-Dur von Ringos Ringen um die rechte Tonart abgelöst zu werden, bildete das einen seltenen, nein: nie wieder seitdem erreichten Kulminations- und Umschlagpunkt auf gleich drei zeitgeistigen Ebenen. 




Zum einen in der Entwicklung der Popmusik, wie sie seit den letzten zwei Jahren zuvor sich entwickelt hatte: als Soundtrack der Zeit, als akustisches Signum einer eigenständigen Jugendkultur, die ihren eigenen Gesetzen folgte und die, in ihrer Prägekraft, vorherige Wellen überschwappender Moden hinter sich ließ - wie etwa die Swingmoden der zwanziger bis vierziger Jahre oder der Rock'n'Roll der darauffolgenden Generation. Die Beatles verkörperten seit ihrem weltweiten Hereinbrechen in den akustischen Alltagshintergrund von England über Amerika, von Good Old Germany bis zu der chinesischen Diaspora rund um den Pacific Rim diesen Wandel wie keine andere Combo. Begonnen hatten sie als Schlagercombo mit Witz und Verve, aber ihre ersten Schallplatten konnte man noch als letztlich triviale Sammlungen banaler Liedchen abtun, hübsch gemacht und nach zwei Jahren vergessen - so wie es zahllosen Gruppen und Sternchen nach ihnen gegangen ist, die als oberste Zeitgeistsurfer ihre "Viertelstunde des Ruhms" im Rampenlicht hatten und danach nur noch als akustische Erinnerung als "jenen Sommer, als..." taugten: und wer hier nicht mitging, dem blieben nicht einmal die Namen. Britney Spears und die Spice Girls dürften als Abschluss dieser letztlichen Trivialisierung dieser Massenbespaßung zu verbuchen sein; als erste wären wohl ABBA zu nennen. Die Abkopplung aus dem Bereich der Schlagerparaden, auch der Anspruch, tiefere Botschaften zu vermitteln, hatte sich seit 1965 klar abgezeichnet: beim Hereinnehmen popfremder musikalischer Klänge und Strukturen, bei den Anleihen an politische Protestsongs und französische Chansons, bei den Traditionen von Folksongs (es wäre eine hübsche Frage, ob man in diesem Bereich von oral literature sprechen kann) - und vor allem beim Herausbilden von Musikszenen, die diese Entwicklungen aufnahmen und aus denen sich endlos Zahlen an Nachwuchssängern und Combos rekrutierten, die wiederum genau die Stile pflegten, die das akustische Signum jener ein oder zwei bestimmenden Jahre bildeten. Aus der heutigen Erinnerung scheinen die Liverpudlianer Pilzköpfe klanglich fast allein auf weiter Flur zu stehen; wenn man die musikalische Konkurrenz und den Charts jener Wochen einmal sichtet - das größte und zugänglichste Musikarchiv, daß es in der Geschichte der Tonaufzeichnungen je gegeben hat, macht dies zu einem Kinderspiel; die Rede ist natürlich von YouTube - stellt man erstaunt fest, wie viele Bands jener Zeit ebenfalls in einem akustischen Rahmen zwischen, sagen wir, Rubber Soul und Abbey Road unterwegs waren - von den Zombies bis zum ganz frühen Al Stewart. Wer unbefangen zum ersten Mal "Ob-la-di, Ob-la-da" neben Donovans "Sunny South Kensington" hört, dem dürfte eine Trennung nach ihren Schöpfern sinnfrei erscheinen. Sgt. Pepper bildete nun endlich ein Gesamtkunstwerk, entworfen und durchgestylt, auf seine Weise ein objet d'art der Pop Art wie die Siebdrucke Andy Warhols oder Roy Liechtensteins: sowohl Teil des Bild- und Medienfundus jener Gegenwart als auch ironischer, uneigentlicher, ihn karnevalesk veralbernder Zitatencocktail. Susan Sontag hatte drei Jahre zuvor, in ihrem Essay "On Camp" auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht, das die ästhetischen Valeurs zwischen der Zeit Präsident Kennedys und dem Aufkeimen der Flower Power und der studentischen Revoluzzergebärden von "1968" prägte: Die Collagen eines Richard Hamilton ("Just what is it that makes today's homes so different, so appealing?") und die banalen Comics, die Liechtenstein als Vorlage für seine riesigen Siebdruckvergrößerungen dienten, die Waschmittelkartons des frühen Warhol wie die Starphotos, deren endlose Reihung zu seinem optischen Kennmerk wurden, sind hier das Äquivalent zur Kurkapelle des Sergeant Pepper, die für Mr. Kite zum Benefizkonzert aufspielt. Oder auch das Honky-Tonk-Piano ein Jahr später auf "Rocky Raccoon". Auch die filmischen Siglen des Camp, genau zur gleichen Zeit, changieren in diesem gebrochenen Spiel mit dem Klischeefundus erledigter und schalgewordener Trivialgenres: die Spätwestern (soweit sie nicht von Alt-Welt-Regisseuren wie Leone oder Corbucci stammten) ebenso wie die Wiederbelebung - sit venia verbo - des Horrorfilms durch Roman Polanski im Tanz der Vampire. Oder jene beiden Brechungen des altehrwürdigen Genres des Agententhrillers: durch die Stilikonen 007 und John Steed und Emma Peel, die von Anfang an klarstellten, daß sie in einem rein artifiziellen Kosmos agierten, der mit der überschätzen Realen Welt nicht einmal mehr die Namen gemein hatte und in dem die reine Geste, die Optik und der niemals gebrochene ironische Ton die allein ausschlaggebenden Faktoren bildeten und die selbst stets schon eine Parodie auf sich selber darstellten.



Diese Nichternsthaftigkeit, dieses ludische Vazillieren, dürfte wohl der Faktor sein, warum Sgt. Pepper bis heute mehr ist als nur eine rein archivalisch verbuchte Aktennotiz im bunten Reigen der Popkultur vorbeigerauschter Jahrzehnte. Daß ihm also das Schicksal erspart blieb, das andere Versuche dieses modus operandi gnadenlos heimgesucht hat, von den Beach Boys mit Pet Sounds aus dem Jahr zuvor bis hin zu David Bowies The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders of Mars (1972), von den schaudervollen Versuchen von "Rockopern" im Zeichen des "progressive rock" einmal ganz zu schweigen, die die "Furie des Verschwindens" (H.M.Enzensberger) als gnädiger Genius aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt hat wie das Samstagsabendfieber des Disco: von Tommy, Blows Against the Empire, 2112 e tutti quanti. Darin, in diesem Dandytum, lag auch sein Ende beschlossen: Camp als Modus des prinzipiell Uneigentlichen taugt nicht zum Dauermodus. Sinnsuche und das Bedürfnis nach "tieferer Bedeutung" hinter Scherz, Satire und Ironie, von denen Musik sich nie wird freimachen können, und die im Bereich des flotten Entertainments nicht durch bedeutungsschwangere Formbeschwörungen oder Rekurs auf vermeintlich Mythisches bedient werden können (eine Plage gerade des deutschen Kunstbetriebs bis hin zu Beuys, Kiefer und Tankred Dorst; Richard Wagner hat hier so viel zu verantworten wie der späte Goethe des Faust, Part II: The Mother of all Dramas).



Der kleine Punkt, auf den es hier ankommen soll, ist aber ein anderer: für Hörer, für die diese Melodien, auch das Ambiente, die Atmosphäre dieses Albums Teil der eigenen Lebensgeschichte ist, nicht etwas, was von einer Elterngeneration (oder mittlerweile einer Großelterngeneration) übernommen worden ist und mit dem nicht mehr verknüpft ist, was man die "lebenseigene Entdeckerfreude" nennen könnte, für die dies also so fremd ist wie für die jungen Hörer von 1967 etwa Theo Lingen oder Heinz Rühmann gewesen sein dürften - lähmend gefasst in der einzigen Episode in Benjamin Leberts Roman Crazy (und hier gilt für Autor wie Roman: daß die Furie auch sie erledigt hat), die im Gedächtnis geblieben ist: als die Eltern ihrem ins Internat delegierten 16jährigen Sohn durch ein Pink-Floyd-Album einen Anker einer wie-flach-auch-immer Anknüpfung in die nichtvorhandene Seele senken wollen und ihm dies so gleichgültig und fremd bleibt wie der Schiffskatalog in der Ilias - für solche Zeitgenossen gilt nun:



Jene zwanzig Jahre der ersten Zeile standen für eine Ewigkeit, für mindestens sechs bis sieben popkulturelle Generationen, ein Rückgriff auf eine graue, versunkene Vergangenheit  - genau so, wie es, sieben Jahre später, unter den unendlich dürftigeren Gegebenheiten des popmusikalischen Zwergstaats Westdeutschland, Udo Lindenberg nachexerzierte: "Bei Onkel Pö spielt ne Rentnerband / seit zwanzig Jahren Dixieland". (Ja, der Referent weiß, daß die Nennung von Udo L. in einem Atemzug mit den Fab Four mit Fegefeuer nicht unter Drei Millionen Jahren bestraft wird.) Das meinte: 1947, Austerity Britain, die Kurkapellen und Music Halls der damals schon démodé verbleichenden englischen Seebäder, eine Ewigkeit vor Rhythmus, Schmiß und schierem Krach des Rock'n'Roll, und zwei Ewigkeiten, bevor die swinging sixties jedem eine Lizenz zum ewigen Jungbleiben ausstellten, solange er unter dreißig blieb. Wo die Oktoberrevolution, wie der Erste Weltkrieg strikt in die Zeit - und  zwar die Jugend - der eigenen Großvätergeneration fiel, eine Frage von Heimatmuseen und Kriegerdenkmälern, als die Welt ausschließlich in Schwarzweiß funktionierte und die Menschen komische Gliederpuppen mit hektischem Stakkato, in denen Militärparaden im lächerlichen Haspelschritt abliefen und die Technik allenthalben das Flair eines Meccano-Baukasten atmete, auch wenn die MG-Nester auf den Feldern Flanderns Hunderttausende niedermähten (es dürfte kein Zufall sein, daß Snoopys berühmtestes "Längeres Gedankenspiel", um es mit Arno Schmidt zu formulieren - The World War One Flying Ace vs. the Red Baron - auch in diese Zeit fällt). 



Und dieser Auftakt nun liegt für uns heute genau so fern wie damals die Oktoberrevolution, wie der Mohn auf den Feldern Flanderns. Das Signum der aufbrechenden Sechziger, als die Welt nicht nur bunt wurde, sondern sich in die quietschbunten Schleier des Psychedelischen auflöste, als - angeblich - die Sexuelle Revolution den Menschen die vorgeblich wichtigste Facette des Lebens zum Geschenk machte. In jenem Moment, als der politisierte Wahnsinn der nächsten Jahre schon seine fahlen Schatten vorauswarf - die Veröffentlichung des Albums fiel bei uns zufällig genau mit dem Besuch des Schahs von Persien in Berlin und den ersten großen Studentendemonstrationen zusammen; die "Kommune 1" hatte ein halbes Jahr zuvor in Berlin aufgemacht. Es war der "Summer of Love", jedenfalls - ebenso vermeintlich - drüben jenseits des Atlantik. Das Bild von Amerika war nicht nur die des "neuen Faschismus", der Vietnam unter Napalm verbrannte, sondern auch das der Gegenkultur, der Rockmusik, der Drogenräusche ad libitum, einer enthemmten Beschleunigung des eigenen Daseins und eines kindischen Hedonismus. Und es war der letzte Moment, bevor dieses Utopia des Naiven seine Unschuld verlor, unter der Gewalt des politisierten Radikalismus, vor den Herointoten, vor Charles Manson und bevor sich die Erkenntnis Bahn brach, daß "All You Need Is Love" zur Finanzierung einer funktionierenden Infrastruktur und eines Sozialstaats denkbar ungeeignet ist.


Manchmal gibt es Momente, in denen man sich, ganz ungeachtet aller biologischen Uhren, schrecklich alt fühlt.



(Abb. Wikimedia)





Ulrich Elkmann

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