1. November 2015

Angela Merkel: Problem oder Symptom des Problems? - Ein Gasnbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht

Ich habe vor ein paar Tagen den Satz gelesen, dass Angela Merkel nicht die Ursache für die aktuelle politische Krise sei, sondern das herausragende Symptom eines sehr viel tiefer liegenden Problems innerhalb unserer Gesellschaft, ohne dass dies genauer benannt worden wäre. Wenn diese Analyse zutrifft, was mir intuitiv plausibel zu sein scheint, wie läßt sich dieses tiefer liegende Problem aber fassen? Dazu gingen mir einige Gedanken durch den Kopf, an denen ich die Leser in ZR gerne teilhaben lassen möchte.
Zunächst einmal ist die Erkenntnis, Angela Merkel könnte nur Symptom und nicht etwa das Problem sein, in vielerlei Hinsicht unangenehm. - Aus offensichtlichen Gründen und weniger offensichtlichen. Zu den offensichtlichen gehört, dass es bei Richtigkeit dieser Analyse auch mit einer Abwahl Merkels keine Rationalisierung deutscher Politik geben wird. Zu den weniger offensichtlichen gehört, dass Merkel das Symptom eines beschränkten deutschen Politikverständnisses ist – wobei ich die Formulierung des „beschränkten Politikverständnisses“ im Folgenden genauer spezifizieren und darüber einen Erklärungsversuch für die aktuelle Einwanderungspolitik wagen möchte.

Meines Ermessens fehlt deutscher Nachkriegspolitik die Erfahrung mit Problemen, die unmittelbare Auswirkungen haben und auf die man durch politische Handlungen auch unmittelbaren Einfluß nehmen kann. Probleme wie zum Beispiel der demographische Wandel der Gesellschaft oder auch die Wiedervereinigung, sind durchaus „geduldig im Hinblick auf die Lösungsstrategien“, welche man entwickelt. Auch kann Abwarten und das Vertrauen auf „Selbstreinigungskräfte“ durchaus eine richtige Strategie bei solchen Problemen sein, so dass mögliche politische Alibihandlungen mehr oder weniger als Marketingkosten der Regierung verbucht werden können.
Aber selbst dann, wenn die politischen Entscheidungen, welche man bezüglich eines solchen Problems trifft, katastrophal falsch oder genau richtig wären, wäre es aufgrund der langen zugehörigen Entwicklungen schwierig die politische Entscheidung und die Folgen in einen direkten Zusammenhang zu bringen.
In diesem Umfeld suchte sich die Politik darüber hinaus dann sogar neue, marketingtechnisch sehr gut verwendbare Problemfelder. Diese waren ebenfalls dadurch charakterisiert, dass ihre Folgen zum einen nicht unmittelbar nachweisbar sind und das zum anderen unklar ist, welche Möglichkeiten der Einflußnahme überhaupt bestehen. Beispiele für solche Probleme wären: Das Waldsterben, der Klimawandel oder auch die Bedrohung durch genmanipulierte Nahrung.


Durch diesen sehr speziellen Erfahrungshorizont ist der deutschen Nachkriegspolitik möglicherweise das Bewußtsein verloren gegangen, dass es auch politische Probleme gibt, welche unmittelbares Handeln erfordern und dass dieses Handeln auch unmittelbar in seinen Folgen sichtbar werden kann. Die ultimativste Entscheidung dieser Art für einen Staat ist dabei wohl die Entscheidung über Krieg und Frieden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist meines Erachtens, dass die (persönliche) Freiheit in Deutschlands jüngerer Geschichte niemals von externen Mächten unterdrückt wurde – im Gegenteil: Sie wurde so manches Mal durch externe Mächte erst herbeigeführt oder garantiert. Die Unterdrückung der Freiheit in der DDR würde ich in diesem Zusammenhang als ein „innerdeutsches Phänomen“ bezeichnen, da die Beschneidung der Freiheit in der täglichen Erfahrung durch den eigenen Staat stattfand – Auch wenn man diesen Staat formal als verlängerten Arm der Sowjetunion sehen muß.

Die Freiheit kennt in Deutschland in dieser Interpretation seit jeher nur den „Feind von innen“. Den Feind von außen kennen nur die deutschen Nachbarn - die vielleicht auch gerade deswegen mit der aktuellen deutschen Politik im Hinblick auf die illegale Einwanderung nach Europa nichts anfangen können.
Mit oben benanntem „beschränkten Politikverständnis“ meine ich nun, dass es der politischen Elite unseres Landes nicht möglich zu sein scheint, einen Sachverhalt abseits der eigenen Erfahrung zu abstrahieren und daraus die richtigen bzw. notwenigen Schlüsse zu ziehen und dass die Gesellschaft, getragen durch mediale Meinungsbildung, das nicht nur mitträgt sondern geradezu einfordert.

Zur Erläuterung möchte ich zunächst auf meinen erstgenannten Aspekt eingehen: Die Unterscheidung zwischen „mittelbaren Problemen“ mit unklaren, zeitlich nicht eingrenzbaren Folgen im Gegensatz zu „unmittelbaren Problemen“ mit kurzfristigen, klar zuzuordnenden Folgen.

Das Hinnehmen massenhafter Illegaler Einwanderung ist in diesem Sinne ein „unmittelbares Problem“, mit direkt sichtbaren Auswirkungen – anders als eben das Waldsterben, Klimawandel oder genmanipulierte Nahrung, welche „mittelbare Probleme“ sind. Dies wird sich in Punkten, wie zum Beispiel der inneren Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, medizinischen Notständen oder signifikanten Einschnitten beim Sozialstaat alsbald zeigen. Der zentrale Unterschied zwischen „unmittelbaren“ und „mittelbaren“ Problemen ist dabei aus politischer Sicht, dass man letztere Probleme hervorragend nutzen kann sich in gutes Licht zu rücken, erstere Probleme aber meist unpopuläre Maßnahmen erfordern, die lange Schatten werfen.

Es macht nun auf mich nun den Eindruck, dass sowohl unsere Politik, wie auch unsere Gesellschaft, getragen durch mediale, öffentliche Meinung, nicht in der Lage ist, diese Dinge zu unterscheiden. Es wird versucht mit den erprobten Rezepten für mittelbare Probleme auch unmittelbare Probleme anzugehen: Die Politik verordnet „hehre Moral“ und „Forderung nach einem guten Leben für alle“, die (vor allem öffentlich rechtlichen) Medien entwerfen die Realität dazu und dem Bürgertum bleibt belassen dies zu glauben und sich dabei in einer widerspruchsfreien, moralischen Komfortzone, unter vorläufigem Ausblenden der unmittelbaren Folgen, behaglich einzurichten.

Diese Methode, des die Gesellschaft umspannenden Einvernehmens, erscheint mir wenig verwunderlich in einem Land, in dem seit jeher eine große Skepsis gegen das sektiererische Individuum gehegt wird und welches das Weltenheil im alles umfassenden Konsens sieht.

Unter dieser Prämisse läßt sich nun auch einfach verstehen, warum Frau Merkel die Grenzen des deutschen Staatsgebiets für faktisch nicht kontrollierbar bzw. schließbar hält: Die Maßnahme der Grenzschließung läßt sich in keinem Fall unter Bedingungen durchführen, welche genutzt werden könnten die eigene Person ins richtige Licht zu rücken, denn der Bürger wäre dabei gezwungen, die für ihn eingerichtete moralische Komfortzone zu verlassen – in der die Medien natürlich großteils weiter verharren würden.

Die hierzulande bekannten Regeln des politischen Spiels würden in einem Falle der Grenzschließung alle Beteiligten zu Verlierern machen, mit den Medien als aburteilende Instanz. Das möchte eine große Mehrheit in Politik und auch Gesellschaft nicht. Und daran würde sich leider auch durch eine Abwahl der aktuellen Kanzlerin nichts ändern.

Nebenbei bemerkt ist in dieser Logik auch die Aufforderung der Türkei zur Grenzschließung bei gleichzeitigem offen lassen der eigenen Grenzen kein Widerspruch. Die Widerspruchsfreiheit leitet sich dabei über das angestrebte Ziel (die Komfortzone nicht verlassen zu müssen) ab, und ein allgemeingültiges Maß für alle Handlungen ist für Widerspruchsfreiheit nicht notwendig.
Ein weiteres Problem, dessen Symptom Merkel lediglich ist, ist meines Erachtens die in Deutschland sehr spezielle Erfahrung bezüglich eines möglichen Verlustes der Freiheit. Diese Bedrohung scheint im deutschen Selbstverständnis nämlich nur von innen kommen zu können.

Der Ausgangspunkt dieser fatalen Fehleinschätzung, ich möchte fast sagen dieses alles überlagernden Traumas, ist die Weimarer Republik und ihr Untergang und es mag dabei nicht völlig nebensächlich sein, dass der Verlust der Freiheit von innen kam und schließlich von außen überwunden wurde.
Unter diesem Erfahrungshorizont erscheint es mir absolut schlüssig, dass die große aktuelle Bedrohung der Freiheit Deutschlands natürlich wieder von innen (und natürlich rechts) kommt und von außen beschützt werden muss. - Das Tagesgeschehen wird in diesen Erfahrungshorizont dann formgenau eingepasst.
So läßt sich verstehen, warum für viele der deutscher Rechtsextremismus und sei er auch realiter gesellschaftlich marginalisiert, ein großes Schreckgespenst darstellt, während gleichzeitig der unkontrollierte Zustrom hunderttausender Einwanderer, aus einem Gebiet in dem eine faschistische Organisation wie der IS täglich Zivilisationsbrüche begeht, kaum zum Anlaß genommen wird, beunruhigt zu sein.

So lange es der deutschen Gesellschaft daher nicht gelingt sich aus ihrer eigenen Vergangenheit zu lösen, solange es ihr nicht gelingt vom eigenen Erfahrungshorizont zu abstrahieren und ihn nicht in exakter Kopie für die Zukunft wieder zu erwarten, solange heißt eine deutscher Bundeskanzler vielleicht nicht Angela Merkel aber so lange wird er genau deren jetzige Politik fortsetzen.

Ich möchte dies eine „selbstverschuldete Alternativlosigkeit“ nennen, in der sich unsere Gesellschaft befindet. Möglicherweise kann man in dieser Sicht sogar die linksautonomen „Nie wieder Deutschland!“ Rufe als instinktives Erahnen einer Wahrheit verstehen, welche dem eigenen Denken rational nicht zugänglich ist:
Damit sie ihrer Selbstreferenzierung entkommen kann, mit all ihrem Ausfluß an Anmaßung, Sendungswahn und Intoleranz gegen anderes Denken als das eigene, darf man die deutsche Gesellschaft womöglich nicht sich selbst überlassen.

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nachdenken_schmerzt_nicht


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