2. November 2015

Über Kollektiv, Individuum und aufgehendes Saatgut. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht

Ich möchte meine Ausführungen mit einer Äußerung unseres derzeitigen Justizministers Heiko Maas beginnen, die sich am 19. Oktober diesen Jahres auf seinem Twitter-Profil fand und die sicherlich stellvertretend für eine in Politik und Medien weit verbreite Ansicht zitiert werden kann. Zitat: „Wer Galgen und Hitlerbärten hinterher läuft, für den gelten keine Ausreden mehr. Pegida sät Hass, der dann zur Gewalt wird. Ähnlich sieht es auch die Grüne Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt, die Pegida eine Mitschuld an dem Anschlag auf die Kölner Oberbürgermeister Kandidatin Henriette Reker gibt.

Diese Formulierungen sind beide nicht ganz so offensichtlich wie eine Schlagzeile im Tagesspiegel, welche Pegida sogar als Mittäter sieht, aber sie meinen im Grunde das gleiche: Es gibt keinen Unterschied zwischen Gedanken und Tat. 

Diese Gleichsetzung mutet eigentümlich an, insbesondere in einem Land in welchem das Volkslied „Die Gedanken sind frei“ einige politische Bedeutung erlangte. Eine interessante Frage scheint mir daher zu sein, warum diese Gleichsetzung so leichtfertig gemacht wird und warum sie, so zumindest mein Eindruck anhand der Medienlektüre, auf doch einigen Zuspruch stößt.


Um das zu verstehen, sollte man sich zunächst klar machen, dass diese Art der Gleichsetzung von Gedanken und Tat eine weitere implizite Aussage enthält; nämlich die, dass nicht das Individuum für seine Tat verantwortlich gemacht werden kann. Das Individuum ist in diesem Menschenbild kein eigenverantwortlich handelndes Wesen, sondern lediglich ein uneigenständiger Bestandteil des Kollektivs. Mehr noch ist es die kleinstmögliche Identität dieses Kollektivs. Alleine diese Grundannahme lässt den Schluss der gemachten Gleichsetzung zu. Wäre das Individuum eigenverantwortlich, so könnte es zwischen fremden Gedanken, eigenen Gedanken und seinen Taten zweifelsfrei trennen; und daher könnte man die einzelne Tat in Verantwortung auch nur dem Individuum zuschreiben und niemandem sonst. 

Dieses Menschenbild, welches das eigenverantwortliche Individuum nicht kennt, scheint überraschend, leben wir doch nach eigenem Befinden in einer individualistischen Gesellschaft. Es drängt sich daher die Frage auf, welches Bild diese Gesellschaft vom Individuum hat. Ich bin der Auffassung: Sie sieht es, wie bereits angedeutet, vielmehr als die kleinste mögliche Einheit des Kollektivs, denn als etwas Eigenständiges. Das Individuum teilt in diesem Bild alle wesentlichen Eigenschaften der Gesellschaft. Im Gegenteil dazu bestimmen in einer wirklich individualistischen Gesellschaft voneinander weitgehend unabhängige Individuen, über Normen auf welche sich diese Individuen einigen, ihr Erscheinungsbild. 

Folgt man diesem Gedanken, wird klar, was hinter der Politik steht, die in unserem Land derzeit eine große Mehrheit auf sich vereinen kann: Kollektivismus. Die Bekenntnisse vieler Personen aus Öffentlichkeit und Politik zu Demokratie, Vielfalt und Freiheit sollten niemanden darüber hinwegtäuschen, dass die präferierte Gesellschaftsform in Wahrheit eine kollektivistische ist. 

Hat man diesen Schluss akzeptiert, ergibt sich auch eine logische Erklärung dafür, warum die Moral, bzw. die Begriffe „gut“ und „schlecht“ oder „richtig“ und „falsch“ immer mehr die politische Debatte dominieren, anstatt lediglich das Anstreben eines Interessenausgleichs. 

Der wesentliche Unterschied zwischen einer Gesellschaft, welche sich aus unabhängigen Individuen und einer, welche sich aus kleinsten Einheiten eines Kollektivs zusammensetzt ist der, dass im ersten Fall die Individuen nicht notwendiger Weise alle Eigenschaften teilen müssen, im zweiten Fall allerdings schon. 

Eine Gesellschaft aus unabhängigen Individuen wird sich auf Normen und Regeln für das Zusammenleben einigen, es gibt aber kein „richtig“ und „falsch“ in der Ansicht des einzelnen Individuums. Das Kriterium „richtig“ oder „falsch“ macht nur dann Sinn, wenn man daran die Tat des Individuums in Bezug auf die Normen misst, auf welche man sich geeinigt hat. 

Ganz anders ist dies bei einer Gesellschaft die aus kleinsten aber gleichen Teilen besteht. Hier kann es per definitionem kein gleichwertiges Nebeneinander der Ansichten und Gedanken geben, weil die Norm, auf die sich alle geeinigt haben, bereits im einzelnen Individuum in exakter Kopie vorhanden sein muss. Genau aus diesem Grund muss in diesem Bild bereits bei den Gedanken zwischen „richtig“ und „falsch“ unterschieden werden und nicht erst bei den Handlungen des Einzelnen, gemessen an den vereinbarten Normen. In anderen Worten: Eine kollektivistische Gesellschaft erzwingt implizit die Kategorisierung in „richtig“ und „falsch“ bzw. eine Wertung des Gedankens an sich, weil unterschiedliche Ansichten zu unterschiedlichen Kollektiven führen, das Kollektiv aber in dem Dilemma steckt, Unikat sein zu müssen. Nur das unabhängige Individuum lässt die Vielfalt innerhalb einer Gesellschaft zu.

In diesem Sinne kann man nicht nur das deutsche Wohlbefinden innerhalb einer großen Koalition verstehen, sondern auch die Art und Weise, wie politische Debatten über Wertigkeiten geführt werden. Beides ist Ausdruck des Wunsches, in einer kollektivistischen Gesellschaft zu leben. 

Genau dieser Umstand ist es auch, der liberale oder konservative Positionen, wie die AfD sie in ihren Anfängen zum Beispiel vertrat, zu unerwünschtem (rechtem) Populismus macht: Es ist nicht die Koordinate einer politischen Position auf der Abzisse, die sie abqualifiziert, sondern lediglich die „Inkompatibilität“ mit dem mehrheitlich gewünschtem Kollektiv. 

Das politische wie auch das bürgerliche Bewusstsein Deutschlands ist geprägt durch den Wunsch der Überwindung seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. Der (rechte) Totalitarismus ist der innere Feind, welchem alle Aufmerksamkeit gilt, um den Rückfall in die unseligen Zivilisationsbrüche der Vergangenheit nie wieder zuzulassen. Dabei scheint aber niemandem aufzufallen, dass der Totalitarismus des dritten Reiches lediglich eine konsequente Umsetzung des Kollektivismus war, wie es schon Friedrich August von Hayek in seinem Buch “Der Weg zur Knechtschaft“ beschrieb. Der Nährboden des Zivilisationsbruchs, welcher Deutschland im letzten Jahrhundert erschütterte, war der Kollektivismus, nicht die politische Gesinnung unter der er umgesetzt wurde. 

Vor diesem Hintergrund gibt es durchaus Anlaß zur Besorgnis, wenn man in der aktuellen Tagespolitik erkennen kann, wie tief die Sehnsucht nach dem Kollektivismus in Deutschland noch immer verankert zu sein scheint. Es existiert hierzulande weiterhin die Überzeugung, das gesellschaftliche Heil liege lediglich in der richtigen Spielart des Kollektivismus und nicht etwa in vollkommener, bürgerlicher Freiheit. 

Dieser Gedanke ist bereits in der ersten Strophe der deutschen Nationalhymne zum Ausdruck gebracht, wo „Einigkeit und Recht und Freiheit“ gleichberechtigt nebeneinander stehen. Diese Gleichberechtigung enthält einen Widerspruch: Entweder lebt eine Gesellschaft in rechtssicherer Freiheit oder in Einigkeit - Beides gleichzeitig geht nicht. Die deutsche Nationalhymne wirkt in diesem Sinne auf mich wie ein Glaubensbekenntnis dafür, dass es diesen Widerspruch zwischen Recht und Freiheit auf der einen und Einigkeit auf der anderen Seite nicht gibt. Diesen falschen Glauben gilt es zu überwinden. 

Es ist weder die radikalisierte Linke, noch die radikalisierte Rechte, welche die Freiheit in Deutschland bedrohen. Es ist die tiefe Sehnsucht der gemäßigten Mitte nach Ausgleich, welche sie im Kollektiv zu finden glaubt.
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nachdenken_schmerzt_nicht

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