21. November 2015

„Wie wollen wir leben?“

„Unsere Welt wird noch so fein werden, daß es so lächerlich sein wird, einen Gott zu glauben, wie heutzutage Gespenster“, meinte Georg Christoph Lichtenberg 1774 (Leitzmann-Ausgabe D 326).

Im Augenblick sieht es nicht so fein aus in Deutschland und Frankreich, dass wir kein Stoßgebet mehr hören. Im Genuss unseres Konsumlebens werden wir brutal von solchen gestört, die einen strengen Gott brauchen, um unsere Laxheit bestrafen und unsere Länder erben zu können. Für uns ist es ein Missbrauch des Gottesglaubens; aber was ist es in ihren Augen? Demokratie, Aufklärung und Marktwirtschaft sind für sie die böse Illusion einer gotteslästerlichen liberalen Gesellschaft.

Ein tieferes Nachdenken hat schon begonnen. Was wollen die transnationalen Terrorakte erreichen? Eine Dramatisierung der Lage, Überreaktionen, Polarisierung und Frustration, so dass man in einem chaotischen Europa noch mehr heilige Krieger gewinnen kann? Was ist eigentlich religiöser Extremismus? Ist es das Weltbild von berauschten armselig Dummen? Oder ist für den IS die Religion nur ein Deckmantel? Geht es den Tätern bei der Selbstsakralisierung bis zum Opfer im Selbstmord um ein heiliges Kalifat als Keimzelle der Welteroberung?

Was müssen wir einsetzen, um die Krieger des utopischen Islamischen Staats im nächsten Jahrzehnt von ihrem Irrtum zu überzeugen oder sie zu besiegen? Lässt sich die Finanzierung des IS trockenlegen? Man kann schwerlich gleichzeitig denselben Gegner zum geistigen Dialog einladen und mit militärischen Waffen bekämpfen. Man darf den Kampf mit kriegerischen Waffen auch nicht „Krieg“ nennen, weil es um Terroristen geht und nicht um Völkerrecht.

Daneben haben wir einen zweiten Adressaten: Die moderaten islamischen Gläubigen, sie teilen - auf ihre Weise - unsere Argumente und die Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit. Und dann ist da noch der Verdacht, dass durch Flüchtlinge, die den Weg in die Arbeitswelt und die Integration in die Kultur nicht packen, mehr als nur ein Versteck für die Terroristen entsteht. Marine Le Pen von der Front National fordert, Frankreich müsse die Banlieues entwaffnen, in den Kellern der Vorstädte wimmele es von Waffen.

Ein offensichtliches Hauptproblem ist die wackelige Solidarität und fehlende Einheit von Ost und West zum militärischen gemeinsamen Einsatz gegen den IS. Der Diktator Assad trennt Russland und die USA. Und wenn man das Öl aus Saudiarabien nicht bräuchte … Schon die Israelis haben mit Witzen verarbeiten müssen, warum Gott Mose das Volk an den Ölvorkommen vorbeigeführt habe. Von Israel könnten wir lernen, im Alltag mit einer buchstäblich ständigen Dauerbedrohung zu leben.

Eva Illouz, Soziologin an der Hebräischen Universität Jerusalem berichtet, was ihr ein Freund und Literaturwissenschaftler aus Frankreich mailte: „Wir werden uns daran gewöhnen müssen, nach israelischer Art zu leben“ (DIE ZEIT 19.11.15). Sie mahnt, die Sicherheitsfixierung sei hingegen tragischerweise doch ein Sieg für den Terror, weil er auf lange Sicht die demokratischen Werte aushöhle. „Wer wissen will, wie mit einem feindlichen Umfeld zu verfahren ist, schaue nach Israel.“

Ein verborgenes Hauptproblem ist unser Umgang mit der Freiheit. Was ist das für eine? Ist es eine wahre, oder ist es nur unsere und eher ein Ärgernis? Die neue Nummer der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ hat keinen anderen Rat als den: „Sie haben die Waffen. – Wir haben den Champagner!“ Aber reicht es, dieses Rezept als Widerstand gegen den Terrorismus auszugeben? Ist Trotz schon Kampf?

In seiner Dankrede für den Büchnerpreis hat Rainald Goetz als ein Schriftsteller, der das „Reich der Finsternis“ zu benennen habe, jüngst das beschrieben, worüber die Politiker und die Sonntagsredner schweigen. Er gebrauchte die Worte „gigantische Kaputtheit“, „totale Banalität“,„der Maßstab ist verschwunden“, und er bestritt die „Welterfassungskompetenz des Journalismus“. Im Namen des Außenseiters Büchner schloss er die Rede mit der Frage aus seinem Literaturverständnis: „Wie wollen wir leben?“

Es gibt auch bei uns zwei Adressaten und Subjekte, die handeln müssen. Das eine sind alle politisch verantwortungsvoll denkenden Bürger, das andere sind die Christen unter ihnen. Was die Politiker und Bürger tun können, ist wachsam sein. Was die Christen als Mehr tun müssten, ist: der geistigen Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus eine treffliche Waffe zu liefern, nämlich den gelebten Hinweis, dass sie die am Westen vermissten Werte besser leben als sie im Islam gelebt werden. Die Not macht die Schwäche der passiven, aber auch unserer aktiven Kirchenmitglieder offenbar. „Kreuzzüglernation“ sind die Namenschristen nicht mehr. Aber leider auch allermeist keine Nachfolger Jesu mehr, die ihr Kreuz schultern. Sie verlassen sich wie alle auf den Staat und die Polizei und nicht darauf, dass sie durch den Lebensstil des erlösten Menschen die schießenden muslimischen Gotteskämpfer beschämen könnten.

Ludwig Weimer

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