21. September 2014

Gut, dass wir die industrielle Revolution hinter uns haben. Ein kleiner Gedankensplitter zum Thema Sicherheit, Mündigkeit und selber denken.


Das Leben ist lebensgefährlich hat schon Erich Kästner vor vielen Jahren erkannt. Und weil das so ist, wird es auch jedes Jahr gerne wieder bestätigt, wenn Menschen an Krankheiten, dem Alter oder an Unfällen sterben. Gerade letztere werden dabei immer als besonders tragisch angesehen, weil man sie ja vielleicht hätte vermeiden können. Unfälle kann man doch schließlich verhindern, oder nicht?
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Das Denken, dass man jeden Unfall zu verhindern sucht, hat inzwischen manch bizarre Blüte getrieben. Wer mal – ganz undeutsch sicherlich – die Funktion eines elektrischen Gerätes nicht durch Ausprobieren ermittelt hat, sondern stattdessen eine Betriebsanleitung konsultiert hat, der kann ein Lied davon singen. Liest man heute eine solche Betriebsanleitung und ist an der Funktion eines Gerätes interessiert, so kann man erst einmal das erste Drittel des Büchleins überlesen, denn  zur Funktion steht da in aller Regel (noch) nichts. Dort wird erst einmal seitenweise über Sicherheit lamentiert, es werden Empfehlungen gegeben dies zu tun, das zu tun und eben jenes zu lassen (Nein, den Toaster nicht in der Badewanne betreiben.). Teilweise schon in absurder Art und Weise, wenn uns beispielsweise in der Anleitung zum Aufbau eines Möbelstückes geraten wird, dies doch von einem Fachmann (Tischler?) durchführen  zu lassen. Eine Lampe beispielsweise soll in dieser Welt selbst nicht von einem kundigen Erwachsenen angeschlossen werden, sondern es soll ein Elektriker bestellt werden. Ist das Gerät zu Boden gefallen, ist es nicht etwa auf Funktion zu prüfen, sondern an den Hersteller zur Funktionsprüfung zu übersenden. Und natürlich ist die Erkenntnis, das man ein Messer nicht zum Bohren in der Nase verwenden sollte, zumindest für die Leute recht hilfreich, die das für eine gute Idee halten.
Natürlich ist das meiste davon weltfremd, und dem einen oder anderen wird ein Lächeln über die Lippen gehen, bei der Vorstellung, vor jeder Fahrt zum Bäcker Reifen und Bremsen prüfen zu müssen. Aber das, was im privaten noch eher lustig ist, ist in der Industrie seit einigen Jahren ganz und gäbe und absolut bitterer Ernst. Um es etwas klarer zu sagen: Da kriegt der Schwachsinn dann Methode. Ich habe dieser Tage eine BWA (Betriebs- und Wartungsanleitung) durchgearbeitet, bei der mehr als 50 Seiten nur mit solchem, teilweise hanebüchenem, Unfug gefüllt ist. Wobei man dem Hersteller an dieser Stelle nicht einmal einen Vorwurf machen kann, er tut nur das, wozu er gesetzlich verpflichtet ist. Und der Gesetzgeber ist irgendwann auf die smarte Idee gekommen, Unfälle werden nicht durch Denken sondern durch riesige Mengen an Papier und aberhunderte von Vorschriften und Regeln verhindert.
Eins ist dabei richtig: Es werden Unfälle verhindert. Richtig ist aber auch, dass der ganze Wahnsinn inzwischen einen geradezu irrwitzigen Aufwand kostet und gleichzeitig den Menschen an mehr und mehr Stellen zu entmündigen sucht. Beispiele gefällig ? Wenn ich heute einen Zaun auslege, um eine Maschine zu schützen, dann hat dieser Zaun nicht mehr als 180 mm vom Boden weg zu sein. Warum ? Weil er sonst unterkrochen werden kann. Auch muss dieser Zaun so gestaltet sein, dass er nur mit entsprechendem Werkzeug, idealerweise Spezialwerkzeug, entfernt werden kann. Warum ? Weil sonst jemand ihn möglicherweise mit der Hand abschrauben könnte. Der Zaun muss auch eine bestimmte Höhe haben. Warum ? Weil er sonst überklettert werden könnte. Natürlich würde kein Mensch, der noch alle Latten am Zaun hat (no pun intended), einen Schutzzaun unterkriechen, überklettern oder demontieren. Aber darum geht es nicht, es könnte ja jemand auf die Idee kommen. Das dieser jemand das am Ende trotzdem tut, das tut ebenso nix zur Sache.
Jetzt wird man vielleicht einwenden, dass der Aufwand sich ja rechnet, wenn dadurch Unfälle verhindert werden. Dazu sind zwei Dinge zu sagen: Nach meiner bisherigen, sowohl privaten wie auch industriellen, Erfahrung, passieren Unfälle selten weil eine technische Anlage nicht sicher war oder fehlerhaft ausgelegt war, sondern sie passieren, weil jemand etwas wirklich sehr, sehr dummes getan hat. Die Idee solche Unfälle verhindern zu wollen, bedeutet nichts anderes als den Menschen zum Idioten zu erklären und alle Idiotien unmöglich machen zu wollen. Was in aller Regel nicht gelingt, denn, wie ja auch bekannt ist, die Idee etwas vollkommen idiotensicher zu machen, unterschätzt den Erfindungsreichtum von vollkommenen Idioten. Idioten lassen sich nebenbei von ihrem Verhalten auch sicher nicht durch eine Bedienungsanleitung abhalten. Und zweitens, auch wenn es viele nicht wahrnehmen, der ganze Quatsch kostet Geld. Und nicht zu knapp. Wenn heute Produkte entwickelt werden, dann kann der Entwickler locker 10-20 Prozent (in einigen Bereichen sogar mehr) seines Aufwandes in die Erfüllung von Produktsicherheitsgesetzen rechnen. Dieses Geld muss er sich irgendwo wieder holen. Und wo der tut er das wohl? Richtig, bei Ihnen, lieber Leser. Wenn Sie also demnächst wieder eine Betriebsanleitung lesen und sich über vier Seiten freuen, auf den steht, dass sie den neuen Toaster bitte nicht in die Badewanne werfen sollen, dann freuen Sie sich: Sie haben diese Erkenntnis bezahlt.
Nun muss natürlich auch die Kirche im Dorf lassen. Produktsicherheit ist nicht per se überflüssig. Schutzkontakte haben ebenso ihren Sinn wie Vorschriften, dass man an einer Tankstelle nicht rauchen sollte. Deutschland ist kein Entwicklungsland und es ist sicher positiv, wenn man sich auch darauf verlassen kann, dass der Tank des Autos nicht Feuer fangen wird, weil jemand die Erdung vom Tankrüssel nicht bedacht hat. Aber wie alle guten Dinge, kann man es auch übertreiben. Und es wird immer mehr übertrieben. Man muss sich klar machen, dass Dinge wie Eisenbahnen oder Straßenbahnen unter modernen Produktsicherheitsgesetzen nie hätten in den Verkehr gebracht werden dürfen. Nahezu die gesamte industrielle Revolution ist nach heutigen Gesetzen kaum durchführbar. Gut, die haben wir tatsächlich hinter uns. Aber es ist eben auch so, dass industriell Europa zunehmend ins Hintertreffen gerät (vor allem hinter die Asiaten) und das hat auch mit Gesetzgebung zu tun. Vielleicht haben die Asiaten uns eine ganz simple Erkenntnis voraus, die auch Dreiviertel der modernen Sicherheitsgesetze und Disclaimer in Bedienungsanleitungen überflüssig macht: Vor der Benutzung ist das Gehirn einzuschalten.
Llarian


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