30. Juni 2012

Überlegungen zur Freiheit (13): Tugendrepublik Deutschland. Die Ergebnisse von "Freiheitsindex Deutschland 2011", im Detail betrachtet (Teil 2)

Das wissenschaftliche Projekt, mit dem ich mich in diesem zweiteiligen Artikel befasse, entstand in Kooperation verschiedener Einrichtungen, die ich in der vorläufigen Notiz am Montag genannt habe.

Im ersten Teil habe ich über Ergebnisse des Teilprojekts berichtet, das in den Händen des Instituts für Demoskopie Allensbach lag; einer umfangreichen repräsentativen Befragung. Das setze ich jetzt fort, befasse mich kurz mit einem zweiten Teilprojekt (einer im Institut für Publizistik der Universität Mainz erstellten Inhaltsanalyse von Medienberichten) und ziehe am Schluß ein Fazit der Untersuchung.

Im ersten Teil habe ich mich mit denjenigen Fragen der Allensbach-Umfrage befaßt, in denen es um Freiheit und Tabus ging. Ein weiterer Fragenkomplex befaßte sich mit dem Verständnis des Staats und seiner Aufgaben.


Der Einzelne und der Staat. Mehrfach in dem erläuternden Text der Untersuchung kommen die Autoren auf einen Befund zurück, den sie als widersprüchlich ansehen:
Ein interessanter Widerspruch zeigt sich in den Einzelergebnissen: verzeichnen wir im Unterschied zu den letzten Jahren eine Zunahme der abstrakten Wertschätzung der Freiheit, besonders bei den Bürgern unter 30 Jahren, so geht dies dennoch einher mit einer generellen Zunahme der Rufe nach weiterreichenden staatlichen Verboten.
Die Aussage über eine "Zunahme der abstrakten Wertschätzung der Freiheit" bezieht sich auf eine Frage, bei der die Interviewten zwischen diesen beiden Aussagen wählen mußten:
Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer sich heute wirklich anstrengt, der kann es auch zu etwas bringen.
und
Tatsächlich ist es so, daß die einen oben sind, und die anderen sind unten und kommen bei den heutigen Verhältnissen auch nicht hoch, so sehr sie sich auch anstrengen.
Die Zustimmung zu "Die einen sind oben, die anderen unten" sank in Westdeutschland seit 1996 von 37 auf jetzt 31 Prozent; in Ostdeutschland von 54 auf 42 Prozent. Daß jeder seines Glückes Schmied sei, glauben jetzt 54 Prozent der Westdeutschen (1996: 47 Prozent) und 42 Prozent der Ostdeutschen (1996: 28 Prozent).

Das ist eine der wenigen Fragen, bei denen eine Annäherung zwischen Ost und West festzustellen ist; vor allem bei den Befragten unter 30 Jahren. In dieser Altersgruppe stimmen 58 Prozent im Westen und 56 Prozent im Osten der Aussage zu "Jeder ist seines Glückes Schmied"; nur jeweils 26 Prozent entschieden sich für "Die einen sind oben, die anderen unten".

Die "Rufe nach weiterreichenden staatlichen Verboten" wurden anhand einer Liste erfaßt, die mit der Frage vorgelegt wurde:
Einmal unabhängig davon, ob das tatsächlich verboten ist oder nicht: Was meinen Sie, was sollte der Staat auf jeden Fall verbieten, wo muß der Staat die Menschen vor sich selbst schützen?
Diese Frage war bereits 2003 gestellt worden. In fast allen Bereichen forderten 2011 mehr der Befragten ein Verbot als 2003.

Das reicht vom Verbot harter Drogen (Anstieg gegenüber 2003 von 83 Prozent auf 92 Prozent) und weicher Drogen (von 44 auf 53 Prozent) über das Verbot rechtsradikaler Parteien (von 54 auf 71 Prozent) und hoher Spenden an Parteien (von 32 auf 46 Prozent) bis zu einem Verbot "besonders schneller, PS-starker Autos" (von 12 auf 18 Prozent). Tempo 130 auf Autobahnen wollten 2003 nur 8 Prozent; jetzt sind es 19 Prozent.

So sah es fast durchweg aus. Von den 21 Punkten, die genannt wurden, zeigten 18 dieses Bild einer stärkeren Befürwortung eines Verbots als 2003. Nur bei zwei gab es keinen Unterschied (Gewaltvideos jeweils 62 Prozent; besonders gefährliche Sportarten jeweils 8 Prozent), und nur bei einem Punkt verringerte sich die Verbotsneigung geringfügig; bei der Pornographie (Rückgang von 38 Prozent auf 36 Prozent).

Kommentar: Überwiegend linke und grüne, oft aber auch Politiker aus dem liberalkonservativen Lager reagieren inzwischen auf jedes geeignete Vorkommnis nachgerade reflexhaft mit der Forderung nach Verboten, nach Strafverschärfung usw.; die Medien transportieren diese autoritäre Haltung und verstärken sie. Die Law-and-Order-Parteien sind heute eher die Linken als die Liberalen und Konservativen.

Wenn man nach "forderte ein Verbot" googelt, dann erhält man im Augenblick 44.200 Fundstellen; vom Verbot von Sportwaffen bis zum Verbot der NPD; vom Verbot von Partys, zu denen man über das Internet einlädt, bis zum Verbot von Schweröl als Schiffstreibstoff in der Arktis.



Zu den deutschen Medien gibt es im Rahmen von "Freiheitsindex Deutschland 2011" eine getrennte, inhaltsanalytische Untersuchung. Insgesamt 2.078 Beiträge in vier führenden Medien - "Die Welt", FAZ, "Süddeutsche Zeitung" und "Spiegel" - wurden im Februar und März 2011 daraufhin untersucht, ob gesellschaftliche Aufgaben als Aufgaben des Staats dargestellt wurden und welche Perspektive dabei eingenommen wurde (ob zum Beispiel für ein Verbot oder für Selbstbestimmung plädiert wurde).

Das Ergebnis war ernüchernd: In 77 Prozent der Artikel wurde die jeweilige gesellschaftliche Aufgabe als Staatsaufgabe dargestellt, in nur 14 Prozent nicht. Dort, wo es um die Entscheidung zwischen einem Verbot und der selbstbestimmten Entscheidung betroffener ging, plädierten 45 Artikel für ein Verbot und nur 14 für Selbstbestimmung.

Eine weitere Analyse untersuchte insgesamt 113 Berichte über Gesetze die im Untersuchungszeitraum in den genannten Medien erschienen waren. In 59 Prozent davon wurde über die Verschärfung bestehender Gebote oder Verbote oder über das Erlassen neuer Gebote/Verbote berichtet. Nur in 12 Prozent ging es darum, daß Gebote/Verbote aufgehoben oder gelockert wurden.

Kommentar: Diese Analyse beschränkte sich auf vier der führenden Printmedien. Würde man das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit seinen Magazin-Sendungen einbeziehen, dann würde sich möglicherweise ein noch extremeres Bild ergeben; denn bei diesen ist ja ein immer wiederkehrendes Thema der Bericht über angebliche oder tatsächliche Mißstände, zu deren Behebung oft neue oder schärfere Gesetze gefordert werden.



Und wie ist das nun mit den 32 Prozent, die es laut Allensbach-Umfrage verboten sehen wollen, zu sagen "Frauen gehören an den Herd"; samt all der anderen Verbotswünsche, die Michael Miersch auflistet?

Nachdem ich die vorläufige Notiz zu diesem Thema am Montag geschrieben hatte, wies in Zettels kleinem Zimmer DrNick auf die problematische Formulierung dieser Frage hin. Nachdem sie Karten mit den einzelnen Aussagen ausgehändigt bekommen hatten, wurde den Interviewten dies gesagt:
(...) Bitte verteilen Sie die Karten auf das Blatt hier, je nachdem, ob Sie diese Aussage für richtig halten (...) oder ob es verboten sein sollte, so etwas zu sagen.
Die Pünktchen in Klammern stehen so in der Publikation, auf Seite 16. DrNick schrieb dazu:
Wo soll ich denn diese Karte hinlegen, wenn ich die Aussage für falsch halte, aber auch nicht möchte, daß der Satz (was immer das genau heißen mag) "verboten" sein sollte? Die Frage läßt einem nur die Wahl zwischen Akzeptanz und der Forderung nach einem Verbot.
So ist es; es sei denn, daß mit der Klammer und den Pünktchen darin ausgedrückt werden soll, daß noch eine dritte Möglichkeit angeboten wurde.

Es wäre allerdings seltsam, diese dann nicht zu nennen. So, wie es seltsam ist, daß die Ergebnisse nur für "Es sollte verboten sein, das zu sagen" angegeben werden, aber nicht für "Halte diese Aussage für richtig".

Oder sollte es so gewesen sein, daß Entscheidungen wie "weiß nicht" oder "unentschieden" bei diesem Kartensortier-Verfahren gar nicht möglich waren?

Dann freilich wären die Resultate noch seltsamer, als sie es ohnehin sind. Beispielsweise wählten bei der Aussage "In der DDR war vieles besser" 20 Prozent die Alternative "Es sollte verboten sein, das zu sagen". Bedeutet das, daß 80 Prozent sich für "Halte diese Aussage für richtig" entschieden? Schwer vorstellbar. Oder: 32 Prozent wollten die Aussage "Man sollte die Mauer wieder aufbauen" verboten wissen. Dann werden doch nicht 68 Prozent ihr zugestimmt haben?

Oder handelte es sich gar nicht um eine alternative Frage, sondern die Interviewten sollten einmal nach ihrer eigenen Meinung sortieren, und zum anderen getrennt danach, ob sie ein Verbot wünschten? Dann würde allerdings das "oder" im Text der Frage keinen Sinn machen; auch würden dann die Daten zur eigenen Meinung in der Publikation fehlen.

Irgend etwas stimmt da offenbar nicht. Und ausgerechnet diesen fragwürdigen Teil der Untersuchung hat Michael Miersch im "Fokus" und der "Achse des Guten" in den Vordergrund gestellt; so sehr, daß man glauben könnte, Verbote und Tabus seien das Hauptthema der Untersuchung gewesen.



Wie auch immer: Auch wenn wir vielleicht nicht glauben müssen, daß fast ein Drittel unserer Landsleute wollen, daß es verboten wird, "Frauen gehören an den Herd" zu sagen, bleiben die Ergebnisse bedenklich genug.

Sie zeigen eine Tugendrepublik Deutschland. Man könnte auch sagen: Ein verostendes Deutschland. Ein Deutschland, in dem bei Themen wie Freiheit gegen Gleichheit, Tabuisierung abweichender Meinungen, Staat und Individuum eine Verschiebung des Bezugssystems der alten Bundesrepublik in Richtung auf das eingetreten ist, was unter dem SED-Regime galt. Mit Leitmedien, in denen heute Mainstream geworden ist, was noch vor einigen Jahrzehnten die linke Seite des politischen Spektrums war.

Diese Untersuchung zeichnet das Bild eines Deutschland, in dessen östlichem Teil die Menschen in ihrer großen Mehrheit lieber in einem Land leben möchten, in dem Gleichheit ohne Freiheit herrscht, als in einem Land der Freiheit, in dem es Ungleichheit gibt; und wo auch im westlichen Teil noch nicht einmal die Hälfte die Freiheit im Zweifel vorzieht.

Sie zeichnet das Bild eines Landes, in dem immer mehr Menschen den Eindruck haben, sie könnten sich in der Öffentlichkeit nicht frei äußern; schon mehr als ein Fünftel, so viele wie in den ersten Jahren der Adenauer-Republik. Eines Landes, wo das Thema der Einwanderung von Moslems als ein Tabu gilt, so sehr tabuisiert wie Zweifel an den Zahlen zum Holocaust. In dieser Hinsicht dürfte Deutschland unter den demokratischen Staaten weltweit einzigartig sein.

Es zeigt sich das Bild eines Landes, in dem immer mehr Menschen mehr Verbote wollen, und wo das von den Medien kräftig gefördert wird; von Medien, die zugleich den Staat als denjenigen propagieren, der für die Lösung gesellschaftlicher Aufgaben zuständig ist. Medien, in denen vor allem über Erlaß und Verschärfung von Geboten und Verboten berichtet wird; selten von deren Lockerung oder Abschaffung.

Und was ist mit dem Widerspruch, den die Autoren konstatieren? Der Befund, daß Viele - und mehr als vor einigen Jahren - sich für ihres "Glückes Schmied" halten und weniger Menschen resignierend sagen "Die einen sind oben, die anderen unten", scheint mir zu den übrigen Ergebnissen überhaupt nicht im Widerspruch zu stehen.

Auch in China ist heute jeder seines Glückes Schmied.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Märzrevolution 1848 in Berlin. Zeitgenössische Darstellung (Ausschnitt)