16. Juni 2012

In Middleborough, Massachussetts, ist das öffentliche Fluchen strafbar. Über die Segnungen der direkten Demokratie

Die USA sind das Land der direkten Demokratie. Das wissen bei uns nicht sehr viele Menschen, weil direkte Demokratie in Deutschland ja hauptsächlich auf der Linken des politischen Spektrums propagiert wird - aktuell von der Piratenpartei -, und weil doch die USA das Musterland des Kapitalismus sind. Also kann in den Vereinigten Staaten, so denken viele, doch keine direkte Demokratie bestehen.

Tatsächlich finden in den USA aber ständig Volks­abstimmungen statt; auf allen Ebenen. Regelmäßig wird anläßlich von Wahlen in den Bundesstaaten zugleich auch über Gesetze abgestimmt. Gemeinden können ihre eigenen Gesetze erlassen; und das geschieht in vielen auf dem Weg der direkten Demokratie. In manchen Gemeinden gibt es dafür die town meetings. Wie bei den Landsgemeinden im Kanton Appenzell versammeln sich die Bürger und stimmen über Gesetze ab.



Ist das nicht bestens? Es ist gar nicht bestens. Zu welchen Absurditäten die direkte Demokratie führen kann, zeigt aktuell ein Gesetz, das am vergangenen Montag auf einem solchen town meeting von den Bürgern der Stadt Middleborough, Massachussetts, beschlossen wurde.

Middleborough ist klassisches Neuengland. Wenn Sie Hitchcocks The trouble with Harry ("Immer Ärger mit Harry") gesehen haben, dann können Sie sich Middleborough vorstellen. Die Stadt existiert seit 1660. 22.207 Einwohner. Einst eine Hochburg der Schuhindustrie, heute die Cranberry-Hauptstadt der Welt. 96,1 Prozent Weiße, 1,3 Prozent Schwarze und 0,3 Prozent Indianer.

Gesetze werden in Middleborough in town meetings beschlossen. Am Montag also entschied ein town meeting, daß künftig jeder, der sich in der Öffentlichkeit vulgär äußert (public profanity), eine Ordnungswidrigkeit begeht, die mit einer Buße von 20 Dollar bestraft wird.

Von den 22.207 Einwohnern Middleboroughs nahmen an diesem town meeting ungefähr ein Prozent teil. 183 stimmten für das Gesetz, 50 dagegen.



So sieht direkte Demokratie häufig aus: Nicht das Volk bestimmt, sondern eine winzige Minderheit.

Die Sache hat allerdings in diesem Fall noch eine Pointe: Seit 1968 gibt es in Middleborough ein Gesetz, das vulgäre Äußerungen in der Öffentlichkeit nicht als Ordnungswidrigkeit, sondern als Verbrechen einstuft. Da das schlicht absurd ist, wurde dieses Gesetz selten, wenn überhaupt je angewandt. Jetzt hofft man, daß Diejenigen, die in Middleborrough öffentlich fluchen oder lästern, endlich ihrer verdienten, wenn auch vergleichsweise geringen Strafe zugeführt werden.

Möglicherweise kommt das Gesetz vor das Oberste Bundesgericht. Denn es ist fraglich, ob es mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung (dem First Amendment) vereinbar ist.­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Rathaus von Middleborough, Massachussetts. Vom Autor ToddC4176 unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben.