2. Juli 2011

Marginalie: Der Fall Strauss-Kahn ein "US-Justizdebakel"? Das Gegenteil ist richtig. Die New York Times berichtet neue Details. Nebst einem Nachtrag

Was die Sorgfalt der Recherche und die Fairness und Ausgewogenheit der Berichterstattung angeht, ist die New York Times noch immer weltweit an der Spitze. Das zeigt sich auch jetzt wieder beim Fall Strauss-Kahn.

Nach denselben Kriterien ist "Spiegel-Online" international eines der schlechtesten großen Medien; und einer der Protagonisten dieses unfairen, schlampigen, oft agitatorischen Journalismus ist der New-York-Korrespondent Marc Pitzke. Ich habe mich immer einmal wieder mit ihm befaßt. Wenn Sie einen Eindruck von Pitzkes Arbeitsweise gewinnen wollen, dann mögen Sie vielleicht meine beiden "Kurioses, kurz kommentiert"-Artikel zu ihm hier und hier lesen.

Von Pitzke wurde gestern am späten Abend in "Spiegel-Online" ein Artikel mit der Überschrift "Fall Strauss-Kahn wird zum US-Justizdebakel" publiziert. Ob nun Pitzke sich diese Überschrift selbst ausgedacht hat oder jemand in der Redaktion - jedenfalls gibt sie den Tenor des Artikels wieder. Die jetzige Wendung des Falls sieht Pitzke so:
Es ist der Anfang vom Ende dieses Sensationsfalls - und ein Debakel für Oberstaatsanwalt Cyrus Vance. Denn ohne eine verlässliche Belastungszeugin hat er wenig in der Hand. Vor US-Gerichten geht es schließlich weniger um die Wahrheit als darum, wer die glaubwürdigere Geschichte erzählt.
Irreführender kann man kaum berichten. Denn gerade dieser Fall zeigt, wie gut das US-Justizsystem funktioniert. Das wird deutlich, wenn man den Bericht liest, der in der heutigen Wochenendausgabe der New York Times erscheint. Er wurde von vier Journalisten erarbeitet; den beiden Autoren Jim Dwyer und Michael Wilson sowie den Reportern John Eligon und William K. Rashbaum. Drei von ihnen waren auch schon an dem Artikel beteiligt, der die Wende im Fall Strauss-Kahn ankündigte und über den ich gestern berichtet habe (Platzt das Verfahren gegen Strauss-Kahn?; ZR vom 1. 7. 2011).

Die Quellen der New York Times sind auch jetzt wieder teils die öffentlich zugänglichen Dokumente des Verfahrens, teils Informationen aus Ermittlerkreisen. Danach ergibt sich das folgende Bild:

Zunächst vertrauten die Ermittler den Angaben der Frau. Im Lauf der Ermittlungen ergaben sich aber immer mehr Zweifel; und zwar sowohl aufgrund der Aussagen der Frau in den Vernehmungen als auch aufgrund von Ermittlungen, die parallel dazu liefen. Das Bild von der Zeugin änderte sich radikal.

Einen letzten Anstoß zu der jetzigen Wende des Falls gab nach den Informationen der New York Times ein Telefongespräch, das die Frau bereits kurz nach der angeblichen Tat mit einem in einem Gefängnis in Arizona wegen des Verdachts auf Drogengeschäfte einsitzenden Freund geführt hatte. Dieses Gespräch war aufgezeichnet worden. Aber es wurde in einem seltenen Dialekt der in Guinea gesprochenen Fulani-Sprache geführt; deshalb lag eine englische Übersetzung erst am Mittwoch dieser Woche vor.

Was sie lasen, alarmierte die Ermittler:
" She says words to the effect of, 'Don’t worry, this guy has a lot of money. I know what I'm doing,'" the official said.

It was another ground-shifting revelation in a continuing series of troubling statements, fabrications and associations that unraveled the case and upended prosecutors' view of the woman.

"Sie sagt Wörter dieses Inhalts: 'Mach dir keine Sorgen, dieser Kerl hat eine Menge Geld. Ich weiß, was ich tue'", sagte der Beamte.

Das war eine weitere die Sachlage verändernde Erkenntnis in einer fortlaufenden Serie von Aussagen, Erfindungen und Assoziationen, die den Fall aufdröselten und die Meinung der Staatsanwaltschaft von der Frau kippen ließen.



Was da alles herauskam, ist gestern bereits zum Teil in den deutschen Medien berichet worden; siehe auch meinen gestrigen Artikel.

Aus dem anfänglichen Bild einer frommen, glaubwürdigen Frau wurde allmählich das einer Zeugin, der zahlreiche Lügen nachgewiesen werden konnten. Die Verhöre wurden zunehmend schwieriger. Die Frau änderte ihre Aussagen, brach in Tränen aus, warf sich gar auf den Boden, als ihr Fragen gestellt wurden.

Zeitweilig erschien sie gar nicht mehr zu den Befragungen. Ihr Anwalt nannte als Grund eine Schulterverletzung, die sie angeblich bei dem Angriff durch Strauss-Kahn erlitten hatte, von der aber zuvor nie die Rede gewesen war.

Ihre Angaben änderte sie wiederholt. Das begann bereits mit den Umständen ihrer Flucht aus Guinea und ihres Asylantrags. Zunächst behauptete sie, daß sie in Opposition zu dem herrschenden Regime gewesen sei, daß Soldaten ihr Haus zerstört und ihren Mann mitgenommen hätten, der im Gefängnis gestorben sei. Später räumte sie ein, daß das alles erfunden gewesen war: Jemand hätte ihr eine Kassette mit dieser Geschichte gegeben, und sie hätte sie auswendig gelernt. Auch die Geschichte über ihre Vergewaltigung in Guinea erhielt sie nicht mehr aufrecht. Zwar sei sie vergewaltigt worden, aber nicht in der Weise, die sie geschildert hatte.

Mitentscheidend war dann offenbar eine mehrstündige Vernehmung am Dienstag dieser Woche. Sie sei "vernichtend" (devastating) gewesen, heißt es in dem Artikel der New York Times.

Die Vernehmer konfrontierten die Frau mit Bankbelegen, die zeigten, daß in Arizona, Georgia, New York und Pennsylvania Tausende von Dollars auf ihr Bankkonto eingezahlt worden waren. Bis dahin hatte sie behauptet, daß die Stelle im Hotel Sofitel ihre einzige Einkommensquelle sei. Ihr Anwalt sei sprachlos gewesen, als er von den Einzahlungen hörte.

Die Frau hatte nicht nur über ihr Einkommen gelogen, sondern auch ein fremdes Kind als ihr eigenes ausgegeben, um - so die Staatsanwaltschaft - weniger Steuern zahlen zu müssen.

In derselben Vernehmung bot sie eine neue Version dessen an, was sie nach der angeblichen Tat getan hatte.

Bisher war ihre Geschichte gewesen, daß sie geflohen sei und sich in der Hotelhalle aufgehalten hätte, bis Strauss-Kahn das Hotel verlassen hätte. Jetzt, am Dienstag, sagte sie, daß sie nach dem Vorfall zunächst ein anderes Zimmer geputzt hätte und dann in die Suite von Strauss-Kahn zurückgekehrt sei, um dort zu putzen. Anhand der vom Schließsystem aufgezeichneten Daten kann aber laut Staatsanwaltschaft auch das nicht stimmen. Vielmehr habe sie sich zunächst weiter in der Suite von Strauss-Kahn aufgehalten und sei dann erst in das andere Zimmer gegangen.



Der Anwalt der Frau, Kenneth P. Thompson, erklärt deren Verhalten mit Überforderung. Sie sei "niedergeschmettert" (crushed) und beteure weiter, vergewaltigt worden zu sein. Sie werde dieses Wissen mit ins Grab nehmen.

Gut möglich. Nichts von dem, was jetzt herausgekommen ist, widerlegt den Vorwurf der Vergewaltigung. Aber er ist eben jetzt nur noch das, ein Vorwurf. Strauss-Kahn hat konsistent ausgesagt, es habe einvernehmlichen Sex gegeben. Auch das kann der Fall gewesen sein; und angesichts des Gesamtbilds, das sich von der Frau jetzt abzeichnet, ist es möglich, daß sie daraus eine Vergewaltigung gemacht hat; in der Erwartung eines finanziellen Vorteils.

Die eine Version kann ebenso stimmen wie die andere. Auf dieser Grundlage kann man niemanden vor Gericht bringen. Man sollte es jedenfalls nicht als Staatsanwaltschaft.

Das amerikanische Rechtssystem, in dem es laut Marc Pitzke "weniger um die Wahrheit" gehe "als darum, wer die glaubwürdigere Geschichte erzählt", hat funktioniert. Und es hat nicht zufällig funktioniert. Denn in diesem System ist die Staatsanwaltschaft zwar - anders als im deutschen Rechtssystem - Partei. Aber als Partei will sie ihre Prozesse gewinnen. Also ermittelt sie auch das, was für die Unschuld des Beschuldigten spricht, denn nur dann kann sie abschätzen, ob eine Anklage hinreichende Aussicht auf Erfolg hätte.

Vergleicht man die Art, wie die Behörde des Oberstaatsanwalts Cyrus Vance jr. (übrigens ein Sohn des Außenministers unter Präsident Carter Cyrus Vance) an diesen Fall herangegangen ist, mit der voreingenommenen Art, in der die Mannheimer Staatsanwälte den Fall Kachelmann behandelt haben, dann geht der Vergleich sicherlich nicht zum Nachteil des amerikanischen Rechtssystems aus.




Nachtrag um 18.15 Uhr: In den französischen Medien werden inzwischen Meldungen groß herausgestellt, wonach Nafissatou Diallo - ihr Name wird in Frankreich selbstverständlich genannt - eine Hotelprostituierte sei, die für "außergewöhnliche Trinkgelder" arbeite. Die Quelle ist die Boulevardzeitung New York Post, die sich ihrerseits auf Quellen aus dem Umkreis der Verteidigung von Strauss-Kahn beruft.

Danach habe Frau Diallo "für einen ganzen Trupp von Leuten" angeschafft. Sie habe Frisör- und Schönheitssalons besucht; die Besuche seien aber nicht von ihr selbst bezahlt worden.

Bestätigt ist das nicht. Aber es würde viel erklären - die hohen Geldeingänge auf ihrem Konto; ihre Ausgaben, die offenbar die Einnahmen eines Zimmermädchens weit überschreiten (allein mehrere hundert Dollar im Monat für Telefonrechnungen); die Äußerung in dem abgehörten Telefonat über den Reichtum von Strauss-Kahn. Und natürlich das Beharren von Strauss-Kahn darauf, daß es sich um einvernehmlichen Sex gehandelt habe.
Zettel



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