17. Juli 2011

Aufruhr in Arabien (18): "Ägyptens fundamentalistischer Sommer". Die Salafiten gewinnen Zulauf. Schritt für Schritt zur Anwendung der Scharia

"Es ist nicht so, daß dann, wenn ich erst einmal Präsident Ägyptens bin, ich gleich eines Morgens komme und Ihnen die Hand abhacke", sagte ein ägyptischer Politiker der westlichen Reporterin. Man werde vielmehr Schritt für Schritt zur Anwendung der Scharia übergehen. Eine Szene aus einem Ägypten, das sich zum Fundamentalismus hin entwickeln könnte; bisher noch weitgehend unbeachtet von unseren Medien.

Die Gewohnheit der Medien, ausführlich von dort - und meist nur von dort - zu berichten, wo gerade demonstriert, wo geschossen und geprügelt wird, führt zu einem verzerrten Blick auf die Wirklichkeit; und zwar in mehrfacher Hinsicht:

Erstens neigen wir dadurch dazu, die Ziele einiger zehntausend, vielleicht einiger hunderttausend Menchen, die politisch aktiv sind, mit der Meinung der Bevölkerung gleichzusetzen. Diese mag aber in ihrer Mehrheit ganz anders denken.

Zweitens erzeugen - oder begünstigen jedenfalls - die immer gleichen Bilder von Demonstrationen den Eindruck, überall dort, von wo solche Szenen zu sehen sind, herrschten ähnliche Verhältnisse. Aufruhr kann aber ganz verschiedene Ursachen haben, und ebenso verschiedenartig können die jeweils beteiligten Kräfte sein.

Und drittens bewirkt die Fokussierung auf solche Szenen offenen Aufruhrs, daß unsere Aufmerksamkeit wie ein Scheinwerfer mal hierhin, mal dorthin gleitet. Das, was sich andernorts abspielt, wo es gerade vergleichsweise ruhig ist, verschwindet aus dem Fokus unseres Interesses. Veränderungen, die unspektakulär verlaufen, entgehen uns dadurch.

Alle drei Effekte sind in Bezug auf den Aufruhr in Ägypten und seine Folgen zu beobachten:

Er war nie ein Aufstand im ganzen Land, sondern blieb auf einen kleinen Teil der städtischen Bevölkerung in den urbanen Zentren des Nildeltas beschränkt. Nicht "die Ägypter" brachten Mubarak zu Fall, sondern das Militär war mit ihm unzufrieden geworden und nutzte die Gelegenheit dieses Aufruhrs, sich seiner zu entledigen. (Siehe die mit Ägypten befaßten Folgen dieser Serie, die Sie hier verlinkt finden, sowie Die aktuelle Lage in den arabischen Ländern und im Iran. Teil 1: Ägypten und der Maghreb; ZR vom 19. 2. 2011).

Das war eben anders als in Tunesien, das aber unser Bild vom "arabischen Frühling" prägt. Nur dort zeichnet sich bisher eine Entwicklung hin zu einem demokratischen System ab. Mittlerweile wird aber ja gar die Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten in Bahrain unter "Freiheitsbewegung" subsumiert (siehe Sigmar Gabriel über die geplanten Waffenlieferungen an Saudi-Arabien. Unehrlicher Populismus oder schlichte Unkenntnis?; ZR vom 9. 7. 2011). In Ägypten waren und sind die Moslem-Bruderschaften ein wesentlicher Kern der Opposition; nun wahrlich keine "Freiheitsbewegung".

Die Bedeutung der Bruderschaften ist in den letzten Monaten noch einmal stark gewachsen. Aber davon wird selten berichtet, weil eben der Fokus der medialen Aufmerksamkeit sich längst von Ägypten abgewandt hat. Und inzwischen kann der Westen schon froh sein, wenn die Moslembrüder nach den Wahlen im Herbst die bestimmende Kraft in Ägypten sind, und nicht die Salafiten.



Im Internetmagazin Slate hat jetzt Sarah A. Topol über die Lage in Ägypten berichtet; eine Journalistin mit Sitz in Kairo, die für verschiedene internationale Medien schreibt, darunter The Atlantic und Newsweek.

Topol hat das Hauptquartier der salafitischen Nour-Partei in Mansoura besucht, 90 km nördlich von Kairo im Nildelta gelegen. Sie traf Büros an, die im Aufbau begriffen waren; das Gebäude war von der Partei frisch angemietet worden - äußeres Zeichen ihres Aufbruchs. Salafiten sind fundamentalistische, strenggläubige Moslems, die u.a. für die Anwendung der Scharia eintreten.

Die Reporterin traf im Hauptquartier mit einem Parteisprecher zusammen, Scherif Taha Hassan. Er sieht den Wahlen, die für den Herbst angesetzt sind, mit großen Erwartungen entgegen. Die Salafiten hätten eine breite Basis in der ägyptischen Gesellschaft, sagte er. Er dürfte Recht haben. Topol zitiert eine Umfrage vom April dieses Jahres, in der 62 Prozent der befragten Ägypter der Aussage zustimmten, daß "die Gesetze strikt den Lehren des Koran folgen sollten".

Bis zum Sturz Mubaraks waren die Salafiten - anders als die im Vergleich mit ihnen gemäßigten Moslembrüder - so gut wie nicht politisch tätig gewesen. Demokratie deklarierten sie als unislamisch; ihren Anhängern rieten sie, sich der weltlichen Obrigkeit unterzuordnen. Als Gegenleistung für diese politische Abstinenz ließ der Staat ihren Scheichs - den religiösen Führern - weitgehend freie Hand bei der Verbreitung ihrer Auslegung des Islam.

Jetzt aber sehen die Salafiten eine Chance, aktiv ins politische Leben einzugreifen; und sie sind entschlossen, sie zu nutzen. Die Nour-Partei beschränkt sich längst nicht mehr darauf, Anhänger auf dem traditionellen Weg über Predigten ihrer Scheichs in den Moscheen und im Fernsehen zu gewinnen; sondern man führt einen modernen Wahlkampf mit Plakaten, Flugblättern und Bürgerversammlungen.

Die Nour-Partei ist bereits jetzt besser organisiert als die meisten säkularen Parteien; in 15 der 27 Verwaltungsbezirke Ägyptens hat sie inzwischen eine eigene Organisation aufgebaut. Auch andere salafitische Parteien sind im Aufbau. Als Organisationen halten sie sich bisher mit extremistischen Äußerungen zurück, aber einzelne Scherifs wagen sich schon weiter vor; beispielsweise, was die Rechte von Frauen und die Stellung von Christen im Staat angeht.



Wenn im Herbst ein Parlament gewählt ist, soll aus dessen Mitte ein Verfassungsrat mit 100 Mitgliedern bestimmt werden. Ein ägyptischer Politologe meinte gegenüber Sarah Topol, daß dort die Salafiten entscheidenden Einfluß ausüben könnten, indem sie mit ihrer fundamentalistischen Auslegung des Koran die ganze "Debatte nach rechts ziehen". Kaum ein Ägypter möchte gern als ein schlechter Moslem gelten; die Salafiten könnten bei dieser allgemeinen Haltung ansetzen, die Themen bestimmen und die Diskussion dominieren.

Daß das Ziel der Salafiten nicht der demokratische Rechtsstaat ist, sondern eine Theokratie unter der Scharia, bestreiten sie gar nicht. Aber ähnlich wie die Moslembrüder wissen sie geschickt zwischen dem fernen Ziel und dem zu unterscheiden, was aus ihrer Sicht auf der politischen Tagesordnung steht.

Topol unterhielt sich mit dem Arzt Yousry Hammad, der in der Nour-Partei für Schulung zuständig ist. Er und ein weiterer anwesender Gesprächspartner suchten die Befürchtung zu zerstreuen, bei einem Wahlsieg ihrer Partei werde sofort die Scharia eingeführt. Nein, keine Frau werde gezwungen werden, den Niqab zu tragen (die Vollverschleierung), aber die Regierung werde für "traditionelle Kleidung" eintreten. Und traditionell seien die ägyptischen Frauen nun einmal in der Öffentlichkeit verschleiert. Bis 1919 sogar die Christinnen und Jüdinnen, wie Hammad behauptete.

In diesem Stil verlief das gesamte Interview. Schließlich räumte Hammad ein, daß das Ziel der Partei sehr wohl die Einführung der Scharia sei, aber "Schritt für Schritt". In diesem Zusammenhang fiel der Satz, den ich eingangs zitiert habe.



Als offener Aufruhr herrschte und der Tahrir-Platz besetzt wurde, dominierten junge, westliche orientierte Ägypter das Bild. Die Berichte vermittelten den Eindruck, daß mit einem Sturz Mubaraks der Weg frei sei für einen demokratischen Rechtsstaat nach westlichem Vorbild.

Aber es könnte sich sehr gut herausstellen, daß liberal denkende Ägypter in einigen Jahren der Zeit Mubaraks nachtrauern werden, in welcher der Staat religiös tolerant und - nach arabischen Maßstäben - auch freiheitlich war. Oft sind diejenigen, von denen eine Revolution ausgeht, nicht auch die, welche am Ende obsiegen. Sarah A. Topol über die Aussichten für die kommende Entwicklung:
The Salafis could well follow the path of the Brotherhood, which modified its once-strict religious principles to reflect the complexity of daily life and issued concrete programs such as economic and agricultural platforms rather than relying on religious principles. In the meantime, though, it seems that a popular uprising started in large part by young, liberal, Facebook-savvy activists has brought new opportunities for Egypt's ultraconservatives.

Es könnte gut sein, daß die Salafiten den Weg der Moslem-Bruderschaft gehen, die ihre einst strikten religiösen Prinzipien so modifizierte, daß sie die Komplexität des täglichen Lebens widerspiegeln, und welche konkrete Programme wie Stellungnahmen zu Wirtschaft und Landwirtschaft veröffentlichte, statt auf religiöse Prinzipien zu bauen. Vorerst aber hat es den Anschein, daß ein Aufstand aus dem Volk heraus, der größtenteils von jungen, liberalen, mit dem Facebook versierten Aktivisten in Gang gesetzt worden war, den ägyptischen Ultrakonservativen neue Möglichkeiten eröffnet hat.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.