8. Januar 2009

Zettels Meckerecke: Die "einzigartig starken" 68er und die Leiharbeiter. Phantasien zu Krawallen von Jugendlichen

Das folgende sind die letzten Sätze eines Artikels von Michael Schlieben in "Zeit Online" mit dem Titel "Generation Krise". Der Artikel, vorgestern erschienen, gehört zu einem Dossier "Jugend in Aufruhr", in dem Mitarbeiter von "Zeit Online" sich mit tatsächlichen oder möglichen Jugend- Unruhen in diversen Ländern befassen:
Schon die 68er waren einzigartig stark, weil sich Studenten und Schüler mit Arbeitslosen und Leiharbeitern solidarisierten – und umgekehrt. Diese Mischung war es auch, die in Italien den "Marsch auf Rom" erst ermöglichte.
An dieser Textpassage ist so ungefähr alles falsch.

Erstens konnten sich Schüler und Studenten im Jahr 1968 schon deshalb nicht mit Leiharbeitern solidarisieren, weil es diese noch gar nicht gab. Die Leiharbeit wurde in Deutschland erst am 1.8.1972 eingeführt.

Zweitens dürften die Schüler und Studenten Schwierigkeiten gehabt haben, die Arbeitslosen zu finden, mit denen sie sich laut Autor Schlieben "solidarisierten". Im Jahr 1968 gab es in der Bundesrepublik genau 323.480 Arbeitslose; das waren 1,5 Prozent. Im Jahr 1969 sank die Arbeitslosen- Quote auf 0,9 Prozent (178.579 Personen).

Drittens: Selbst wenn es damals schon Leiharbeit gegeben hätte und wenn eine nennenswerte Zahl von Personen arbeitslos gewesen wäre - nichts lag den rebellierenden Studenten ferner, als sich mit solchen Leuten zu "solidarisieren". Und schon gar nicht dachten Arbeiter daran, sich mit den Studenten zu solidarisieren.

In Frankreich war das etwas anders; da gab es - vermittelt vor allem über den Transmissionsriemen der PCF und anderer kommunistischer Organisationen - den Versuch, so etwas wie eine Gemeinsamkeit zwischen Studenten und Arbeitern herzustellen. Mit geringem Erfolg; aber man versuchte es immerhin.

In Deutschland konnte davon keine Rede sein. Die Proteste richteten sich gegen den Vietnamkrieg, gegen die Verhältnisse an den Hochschulen, dann gegen die "Springer- Presse" und allgemein gegen "das Establishment" und den "Konsumterror".

Themen wie Arbeitslosigkeit spielten nicht die geringste Rolle. Erst Anfang der siebziger Jahre, als die K-Gruppen entstanden, versuchte man (vergeblich), "Arbeiter zu agitieren".



Ist es Beckmesserei, wenn ich das richtigstelle? Mag sein, aber ich halte es für nötig.

Erstens, weil hinter solchen Schnitzern ein mangelndes Verständnis für das steckt, was sich in den Jahren 1968/1969 abgespielt hat: Eine Kulturrevolution, eine Rebellion vieler aus der jungen Generation gegen die Werte ihrer Eltern, mit denen sie, in wachsendem Wohlstand und im Frieden aufgewachsen, nichts mehr anfangen konnten. Ich habe das in einer autobiographisch gefärbten Serie zu beschreiben versucht.

Zweitens, weil die zitierte Passage bezeichnend ist für den ganzen Artikel, und dieser wiederum repräsentativ ist für das Klischee, mit dem solche Jugend- Krawalle gern erklärt werden: Irgend etwas ist sozial schief gelaufen; die Jugendlichen sind ergo frustiert ("perspektivlos"), und aus dieser traurigen Situation heraus protestieren sie, greifen gar zur Gewalt:
Denn natürlich sind es nicht verängstigte Supergebildete, die immer zorniger werden. (...) Immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland wachsen in kümmerlichen Verhältnissen auf und haben immer weniger Chancen da rauszukommen.
So Schlieben; und er zitiert zustimmend Wilhelm Heitmeyer: "Nichts steigere die Wut so sehr wie das anhaltende Gefühl der Ohnmacht und das Gefühl, ohnehin nichts zu verlieren zu haben".

Natürlich können dies Ursachen für Protest und Gewalt sein; aber die Regel ist es keineswegs. Meist stecken hinter solchen Krawallen - so auch kürzlich in Griechenland - andere Ursachen und andere Motive.

Schlieben erwähnt in seinem Artikel als Belege für zunehmende "Jugendproteste" in Deutschland die Krawalle von Heiligendamm im Juni 2007. Aber deren Ursachen waren doch nicht Perspektivlosigkeit oder kümmerliche Verhältnisse, sondern die Wut von Linksextremen auf die Führung der G8-Staaten, die für "Neoliberalismus" und "Globalisierung" verantwortlich gemacht werden.

Als weiteres Beispiel nennt Schlieben die kürzlichen Krawalle an der Berliner Humboldt-Universität. Aber auch da ging es nicht um Ohnmacht oder kümmerliche Lebensverhältnisse; sondern es handelte sich um eine von kommunistischen Organisationen vorbereitete und gesteuerte Aktion mit Parolen wie: "Neugestaltung der Lehrpläne und der Bildungsdauer bis zum Abitur unter demokratischer Einbeziehung und Entscheidung durch SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern".

Nicht eben eine Parole für diejenigen, die "ohnehin nichts zu verlieren haben".

Bei solchen Aktionen wird linksextreme Politik mit Hilfe der Straße zu machen versucht; da geht es darum, Schüler "anzupolitisieren", um sie für die eigene Jugendorganisation zu gewinnen. In anderen Fällen - wie bei den Pariser Krawallen im März 2007 - sind es kriminelle Elemente, die sich in Randale, im Zündeln und in Attacken auf die Polizei üben.



Warum ist das Klischee von den armen Jugendlichen so weit verbreitet, die aus einer verzweifelten Situation heraus zu Protest und Gewalt greifen?

Ich weiß es nicht. Vielleicht steckt die marxistische Vorstellung dahinter, daß sich in derartiger Randale immer Klassenkämpfe manifestieren. Vielleicht liegt es an der sozialtherapeutischen Denkweise, die bei solchen Vorkommnissen die Schuld selten bei den Tätern sucht, stets aber bei "der Gesellschaft".

Vielleicht ist es auch schlicht gedankliche Trägheit. Was schon die Französische Revolution erklärt hat - daß die ausgebeuteten Armen in ihrer Verzweiflung zur Gewalt gegriffen hätten - , warum soll sich das nicht, ohne weiteres Nachdenken und weitere Analyse, auf jeden beliebigen derartigen Gewaltausbruch übertragen lassen?



Den letzten zitierten Satz habe ich leider überhaupt nicht verstanden: "Diese Mischung war es auch, die in Italien den 'Marsch auf Rom' erst ermöglichte". Schlieben meint doch nicht etwa Mussolini?



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