Heute gibt es in Frankreich etwas, was in fast sechzig Jahren Bundesrepublik Deutschland bei uns nicht stattgefunden hat: einen Generalstreik.
Nicht nur einen Generalstreik; sondern - das muß ja nicht damit einhergehen, obwohl dies die Regel ist - einen politischen Streik.
Aufgerufen habe dazu gemeinsam alle acht großen Gewerkschaften. Aufgerufen haben aber auch Parteien der extremen Linken, darunter die Kommunistische Partei Frankreichs und die mit ihr verbündete PG (Parti de Gauche), die kürzlich unter tätiger Mithilfe von Oskar Lafontaine gegründet wurde.
Das ist für uns Deutsche alles ziemlich fremd. Dieser Schulterschluß zwischen den großen Gewerkschaften und Parteien der extremen Linken. Ein politischer Generalstreik. Und vor allem: Dies als Reaktion auf die ausgebrochene Wirtschaftskrise.
Wo liegen die Unterschiede? Wo kommen sie her? Sie liegen, scheint mir, teils im französischen Gewerkschaftssystem; teils aber auch in dem Verständnis von Staat und Politik, das ganz anders ist als in Deutschland.
Wenn man in Deutschland von "den großen Gewerkschaften" spricht, dann denkt man an Gewerkschaften wie die IG Metall oder Ver.di. Gewerkschaften also, die unter dem Dach des DGB für bestimmte Branchen zuständig sind.
In Frankreich ist das anders. Es gibt keinen Dachverband wie den DGB. Die Gewerkschaften sind intern zwar auch in Sektionen für die einzelnen Branchen gegliedert, aber in der Außendarstellung spielt das kaum keine Rolle. Da treten sie als eine Einheit auf.
Da treten sie als Einheiten auf - und gegeneinander an. Denn die Gewerkschaften konkurrieren um Mitglieder. Und sie tun das nicht auf der Basis dessen, was sie potentiellen Mitgliedern an Leistungen anzubieten haben; sondern sie tun es auf der politischen Ebene.
Die Gewerkschaften sind politisch ausgerichtet; ja einige sind so etwas wie die Gewerkschafts- Organisation einer Partei.
Das gilt vor allem für die CGT, die Conféderation Générale de Travail, die eng mit der Kommunistischen Partei Frankreichs verbunden ist, und für die CFDT (Confédération Française Démocratique du Travail), die dem linken Flügel der Sozialistischen Partei nahesteht.
Diese und andere, kleinere Gewerkschaften verstehen sich nicht, wie die Einzelgewerkschaften des DGB, als überparteiliche Interessenvertretungen der Arbeitnehmer. Natürlich wollen auch die französischen Gewerkschaften die Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Aber nicht nur, noch nicht einmal primär, indem sie höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeiten aushandeln. Sondern als das tiefere, das eigentliche Interesse ihrer Mitglieder sehen sie eine Änderung der politischen Zustände.
Damit nun hängt zusammen, daß der Adressat von Streiks in Frankreich sehr oft nicht die Arbeitgeber sind, sondern die Regierung. Sie soll zu bestimmten Maßnahmen gezwungen, vor alle soll sie davon abgebracht werden, bestimmte Gesetzesvorhaben zu realisieren. Viele Reformen sind in Frankreich auf diese Weise gescheitert, bevor sie überhaupt auf den parlamentarischen Weg gebracht werden konnten.
Das gelingt umso leichter, als in Frankreich auch Beamte das Streikrecht haben. Streiks der Lehrer oder der Bediensteten staatlicher Verkehrsbetriebe sind an der Tagesordnung.
Die cheminots, die Eisenbahner der staatlichen SNCF, gehören zu den streikfreudigsten Franzosen überhaupt. Erstens gefährden sie mit einem Streik nicht ihre (faktisch unkündbaren) Arbeitsplätze. Zweitens kann man kaum besser Druck auf eine Regierung ausüben, als indem man den Bahnverkehr im ganzen Land lahmlegt.
Das wird auch heute wieder der Fall sein, wie ein Überblick des Nouvel Observateur über die in den einzelnen Sektoren geplanten Streiks zeigt. Lediglich ein Teil des Schnellzugverkehrs wird normal laufen.
Ebenso werden die Lehrer und Ärzte streiken, sofern sie gewerkschaftlich organisiert sind, die Bankangestellten, die Dockarbeiter, die Post und die Energiewirtschaft, die France Télécom, die Richter und das Personal der Flughäfen. Und so weiter und so fort. Sogar die Piloten von Hubschraubern werden in der Übersicht als eine Gruppe erwähnt, die heute in den Streik tritt.
Und wozu das alles? Was soll der ganze Aufwand? In dem Streikaufruf heißt es:
Nicht wahr, Sie wundern sich, daß das aus französischer Sicht alles Sache der Gewerkschaften ist?
Dahinter steckt eben ein anderes Verständnis von Politik als in Deutschland.
Die Franzosen - 69 Prozent unterstützen den Streik oder sympathisieren damit - haben ein aus deutscher Sicht eigenartig ambivalentes Verhältnis zum Staat.
Einerseits sind sie staatsgläubig wie kaum ein anderes Volk in Europa. Der Staat soll möglichst alles regeln und in Ordnung bringen. Das ist ein Etatismus, der auf die Zeit des Absolutismus zurückgeht, als Frankreich ein straffer Zentralstaat war. Dieser wurde von der Revolution keineswegs überwunden; erst recht nicht von Bonaparte, der ihn im Gegenteil perfektionierte.
Das wirkt bis in die Gegenwart hinein; und in dieser etatistischen Haltung sind sich die Linken mit den Rechten einig. "Liberal" gilt in Frankreich weithin als ein Schimpfwort; keine Partei nennt sich liberal.
Andererseits haben die Franzosen aber ein tiefes Mißtrauen gegenüber diesem Staat, von dem sie so viel erwarten. Man muß ihm gewissermaßen ständig Beine machen, ihn bedrängen, ihn unter Druck setzen.
So auch in der jetzigen Krise. Die Maßnahmen, die in dem Aufruf gefordert werden, mögen vernünftig sein oder auch nicht (aus meiner Sicht sind es die meisten nicht) - aber man sollte doch meinen, daß das die Fachleute im Wirtschaftsministerium, daß es die Ökonomen und die in diesem Bereich spezialisierten Politiker besser beurteilen können als ein Gewerkschafts- Sekretär.
Aber so denken die meisten Franzosen nicht. Sie glauben nicht daran, daß "die Politiker" überhaupt etwas für den "Kleinen Mann" tun wollen. Es sei denn, man tritt sie in jenen Körperteil, auf dem sie in ihren fauteuils sitzen.
Natürlich wird das nichts bewirken. Allenfalls bremsen können die Gewerkschaften das Handeln der Regierung Sarkozy, die ja eher für ihren Aktionismus als für Nichtstun bekannt ist.
Aber so ein Tag wie heute - der ist doch wunderschön. Man zieht gemeinsam durch die Straßen, man fühlt sich gemeinsam stark, man hat mal was anderes. Das mögen die Franzosen. Die Große Revolution, zum xten Mal symbolisch nachgespielt. Die Älteren werden sich nostalgisch an den Mai 1968 erinnern.
Und hier noch ein Plakat, das den Grundgedanken dieses Streiks sehr schön visualisiert. Ich habe es auf dem für die Organisation des Streiks eingerichteten Blog "Grève Générale du 29 janvier 2009" gefunden; es ist zum Herunterladen freigegeben:
Nicht nur einen Generalstreik; sondern - das muß ja nicht damit einhergehen, obwohl dies die Regel ist - einen politischen Streik.
Aufgerufen habe dazu gemeinsam alle acht großen Gewerkschaften. Aufgerufen haben aber auch Parteien der extremen Linken, darunter die Kommunistische Partei Frankreichs und die mit ihr verbündete PG (Parti de Gauche), die kürzlich unter tätiger Mithilfe von Oskar Lafontaine gegründet wurde.
Das ist für uns Deutsche alles ziemlich fremd. Dieser Schulterschluß zwischen den großen Gewerkschaften und Parteien der extremen Linken. Ein politischer Generalstreik. Und vor allem: Dies als Reaktion auf die ausgebrochene Wirtschaftskrise.
Wo liegen die Unterschiede? Wo kommen sie her? Sie liegen, scheint mir, teils im französischen Gewerkschaftssystem; teils aber auch in dem Verständnis von Staat und Politik, das ganz anders ist als in Deutschland.
Wenn man in Deutschland von "den großen Gewerkschaften" spricht, dann denkt man an Gewerkschaften wie die IG Metall oder Ver.di. Gewerkschaften also, die unter dem Dach des DGB für bestimmte Branchen zuständig sind.
In Frankreich ist das anders. Es gibt keinen Dachverband wie den DGB. Die Gewerkschaften sind intern zwar auch in Sektionen für die einzelnen Branchen gegliedert, aber in der Außendarstellung spielt das kaum keine Rolle. Da treten sie als eine Einheit auf.
Da treten sie als Einheiten auf - und gegeneinander an. Denn die Gewerkschaften konkurrieren um Mitglieder. Und sie tun das nicht auf der Basis dessen, was sie potentiellen Mitgliedern an Leistungen anzubieten haben; sondern sie tun es auf der politischen Ebene.
Die Gewerkschaften sind politisch ausgerichtet; ja einige sind so etwas wie die Gewerkschafts- Organisation einer Partei.
Das gilt vor allem für die CGT, die Conféderation Générale de Travail, die eng mit der Kommunistischen Partei Frankreichs verbunden ist, und für die CFDT (Confédération Française Démocratique du Travail), die dem linken Flügel der Sozialistischen Partei nahesteht.
Diese und andere, kleinere Gewerkschaften verstehen sich nicht, wie die Einzelgewerkschaften des DGB, als überparteiliche Interessenvertretungen der Arbeitnehmer. Natürlich wollen auch die französischen Gewerkschaften die Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Aber nicht nur, noch nicht einmal primär, indem sie höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeiten aushandeln. Sondern als das tiefere, das eigentliche Interesse ihrer Mitglieder sehen sie eine Änderung der politischen Zustände.
Damit nun hängt zusammen, daß der Adressat von Streiks in Frankreich sehr oft nicht die Arbeitgeber sind, sondern die Regierung. Sie soll zu bestimmten Maßnahmen gezwungen, vor alle soll sie davon abgebracht werden, bestimmte Gesetzesvorhaben zu realisieren. Viele Reformen sind in Frankreich auf diese Weise gescheitert, bevor sie überhaupt auf den parlamentarischen Weg gebracht werden konnten.
Das gelingt umso leichter, als in Frankreich auch Beamte das Streikrecht haben. Streiks der Lehrer oder der Bediensteten staatlicher Verkehrsbetriebe sind an der Tagesordnung.
Die cheminots, die Eisenbahner der staatlichen SNCF, gehören zu den streikfreudigsten Franzosen überhaupt. Erstens gefährden sie mit einem Streik nicht ihre (faktisch unkündbaren) Arbeitsplätze. Zweitens kann man kaum besser Druck auf eine Regierung ausüben, als indem man den Bahnverkehr im ganzen Land lahmlegt.
Das wird auch heute wieder der Fall sein, wie ein Überblick des Nouvel Observateur über die in den einzelnen Sektoren geplanten Streiks zeigt. Lediglich ein Teil des Schnellzugverkehrs wird normal laufen.
Ebenso werden die Lehrer und Ärzte streiken, sofern sie gewerkschaftlich organisiert sind, die Bankangestellten, die Dockarbeiter, die Post und die Energiewirtschaft, die France Télécom, die Richter und das Personal der Flughäfen. Und so weiter und so fort. Sogar die Piloten von Hubschraubern werden in der Übersicht als eine Gruppe erwähnt, die heute in den Streik tritt.
Und wozu das alles? Was soll der ganze Aufwand? In dem Streikaufruf heißt es:
La crise economique amplifiée par la crise financière internationale touche durement une grande partie des salariés dans leurs emplois et leurs revenus. Alors qu’ils n’en sont en rien responsables, les salariés, demandeurs d’emploi et retraités, sont les premières victimes de cette crise. (...)Im einzelnen werden dann zahlreiche Maßnahmen gefordert - zum Beispiel die Rücknahme eines geplanten Personalabbaus im öffentlichen Dienst; eine Anhebung der Löhne vor allem im Niedriglohn- Bereich; mehr sozialer Wohnungsbau; Ausbau der Infrastruktur und des öffentlichen Dienstes; direkte Kontrolle des Bankwesens; Hilfen für Unternehmen nur, wenn diese soziale Verbesserungen zusagen usw.
Face à cette situation et considérant qu’il est de leur responsabilité d’agir en commun, en particulier lors de la journée du 29 janvier, pour obtenir des mesures favorables aux salariés, les organisations syndicales CFDT, CFTC, CFE-CGC, CGT, FO, FSU, Solidaires, UNSA ont décidé d’interpeller les entreprises, le patronat et l’Etat. Surmonter la crise implique des mesures urgentes en faveur de l’emploi, des rémunérations et des politiques publiques intégrées dans une politique de relance économique.
Die Wirtschaftskrise, verstärkt durch die internationale Finanzkrise, trifft einen großen Teil der Lohnabhängigen hart in ihrer Beschäftigung und ihrem Einkommen. Obwohl sie dafür in keiner Weise verantwortlich sind, sind die Lohnabhängigen, die Arbeitsuchenden und die Rentner die ersten Opfer dieser Krise. (...)
Angesichts dieser Situation und in Anbetracht dessen, daß es in ihrer Verantwortung liegt, gemeinsam zu handeln, haben die gewerkschaftlichen Organisationen CFDT, CFTC, CFE-CGC, CGT, FO, FSU, Solidaires und UNSA beschlossen, die Firmen, die Unternehmer- Verbände und den Staat in die Pflicht zu nehmen. Die Überwindung der Krise verlangt dringende Maßnahmen zugunsten der Beschäftigung, der Löhne und der Politik der öffentlichen Hand, eingebettet in eine Politik der Ankurbelung der Wirtschaft.
Nicht wahr, Sie wundern sich, daß das aus französischer Sicht alles Sache der Gewerkschaften ist?
Dahinter steckt eben ein anderes Verständnis von Politik als in Deutschland.
Die Franzosen - 69 Prozent unterstützen den Streik oder sympathisieren damit - haben ein aus deutscher Sicht eigenartig ambivalentes Verhältnis zum Staat.
Einerseits sind sie staatsgläubig wie kaum ein anderes Volk in Europa. Der Staat soll möglichst alles regeln und in Ordnung bringen. Das ist ein Etatismus, der auf die Zeit des Absolutismus zurückgeht, als Frankreich ein straffer Zentralstaat war. Dieser wurde von der Revolution keineswegs überwunden; erst recht nicht von Bonaparte, der ihn im Gegenteil perfektionierte.
Das wirkt bis in die Gegenwart hinein; und in dieser etatistischen Haltung sind sich die Linken mit den Rechten einig. "Liberal" gilt in Frankreich weithin als ein Schimpfwort; keine Partei nennt sich liberal.
Andererseits haben die Franzosen aber ein tiefes Mißtrauen gegenüber diesem Staat, von dem sie so viel erwarten. Man muß ihm gewissermaßen ständig Beine machen, ihn bedrängen, ihn unter Druck setzen.
So auch in der jetzigen Krise. Die Maßnahmen, die in dem Aufruf gefordert werden, mögen vernünftig sein oder auch nicht (aus meiner Sicht sind es die meisten nicht) - aber man sollte doch meinen, daß das die Fachleute im Wirtschaftsministerium, daß es die Ökonomen und die in diesem Bereich spezialisierten Politiker besser beurteilen können als ein Gewerkschafts- Sekretär.
Aber so denken die meisten Franzosen nicht. Sie glauben nicht daran, daß "die Politiker" überhaupt etwas für den "Kleinen Mann" tun wollen. Es sei denn, man tritt sie in jenen Körperteil, auf dem sie in ihren fauteuils sitzen.
Natürlich wird das nichts bewirken. Allenfalls bremsen können die Gewerkschaften das Handeln der Regierung Sarkozy, die ja eher für ihren Aktionismus als für Nichtstun bekannt ist.
Aber so ein Tag wie heute - der ist doch wunderschön. Man zieht gemeinsam durch die Straßen, man fühlt sich gemeinsam stark, man hat mal was anderes. Das mögen die Franzosen. Die Große Revolution, zum xten Mal symbolisch nachgespielt. Die Älteren werden sich nostalgisch an den Mai 1968 erinnern.
Und hier noch ein Plakat, das den Grundgedanken dieses Streiks sehr schön visualisiert. Ich habe es auf dem für die Organisation des Streiks eingerichteten Blog "Grève Générale du 29 janvier 2009" gefunden; es ist zum Herunterladen freigegeben:
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