17. November 2009

Gorgasal liest ein Buch (2): Sowjetische Schuhe. Wie der real existierende Sozialismus am Informationsmangel scheiterte

Scott Shane war ab 1988 als Korrespondent der Baltimore Sun in Moskau. In seinem Buch Dismantling Utopia: How Information Ended the Soviet Union beschreibt er die Kontrolle von Information in der Sowjetunion und wie die Lockerung dieser Kontrolle zum Zusammenbruch dieses Imperiums beitrug.

Shane fängt nicht bei den Kommunisten an, sondern schon bei den Zaren. Zensur war jahrhundertelang ein Grundpfeiler der zaristischen Autokratie.

In September 1826 the Russian poet Alexander Pushkin was summoned to Moscow and rushed under escort to the Kremlin to meet with tsar Nicholas I. The ruler of Russia was in a magnanimous mood. He informed the astonished poet that from now on he would not have to submit his work to the official government censor. The emperor himself would censor all of Pushkin's poems.

Im September 1826 wurde der russische Dichter Alexander Puschkin nach Moskau gerufen und in den Kreml eskortiert, um Zar Nikolaus I zu treffen. Der Herrscher Russlands war in großzügiger Stimmung. Er informierte den überraschten Dichter, dass er von nun an seine Werke nicht mehr beim offiziellen Zensor einreichen musste. Der Kaiser selbst würde alle Gedichte von Puschkin zensieren.

Und das tat Nikolaus auch weidlich. Wie auch die Zaren vor und nach ihm.

Und wie so vieles wurde die Zensur unter den Kommunisten nicht abgeschafft, sondern perfektioniert. Es gab dicke Bücher mit "Unkonzepten": Sachverhalte, die nicht publiziert werden durften, weil sie ein schlechtes Licht auf den real existierenden Sozialismus warfen. Dass in der DDR Selbstmordquoten nicht publiziert wurden, ist recht bekannt. In der Sowjetunion durfte nicht darüber berichtet werden, dass Fischer einen Teil des Fangs über Bord warfen. Denn im Sozialismus wurde nichts vergeudet.

Die Informationskontrolle nahm teilweise groteske Züge an. Beispielsweise gab es keine genauen Stadtpläne oder Landkarten. 1941 war das ganz nützlich, als die Deutschen sich beim Einmarsch plötzlich verliefen, sobald sie aus dem Bereich ihrer vorherigen Luftaufklärung herauskamen. Aber einige Jahrzehnte später inkommodierte das nur noch die eigenen Bürger. Ausländische Diplomaten und Journalisten verwendeten einen im Westen gedruckten, spiralgebundenen Stadtplan von Moskau, der diskret auf die Nennung von Autor und Verlag verzichtete: die CIA hatte ihn aus Satellitenaufnahmen zusammengestellt. Shane berichtet, ihm seien dafür dicke Stapel Rubel angeboten worden.

Eine andere Art von Informationen, die nicht frei zirkulierten, waren Angebot und Nachfrage. In einer freien Wirtschaft trägt jeder Preis Information: wird ein bestimmtes Paar Schuhe zu einem bestimmten Preis gekauft, dann erfährt der Produzent, dass Nachfrage nach diesen Schuhen herrscht. Werden die Schuhe nicht verkauft, dann sinkt irgendwann der Preis, bis sie doch noch Abnehmer finden. Der Produzent überlegt sich dann genau, welches Sortiment er anbietet, um möglichst viele Kunden glücklich zu machen. Hier fließen Informationen.

Nichts dergleichen gab es in der Sowjetunion. Schuhhersteller produzierten nicht für die Leute, die letztendlich die Schuhe trugen, sondern für Gosplan, das Staatskomitee für Planung, das die Produktionsquoten festlegte. Natürlich versuchte man, diesen "Kunden" glücklich zu machen, indem man seine Pläne (über)erfüllte - und wenn die Pläne am leichtesten mit Schuhen zu erfüllen waren, die unbequem waren, die niemand tragen wollte und die nach drei Wochen auseinanderfielen, dann war das nicht das Problem des Schuhproduzenten. Das Ergebnis:
My informal survey suggested that some of the longest lines in Moscow were for shoes. At first I assumed that the inefficient Soviet economy did not produce enough shoes, and for that reason, even in the capital, people were forced to line up for hours to buy them. . . . Then I looked up the statistics.

I was wrong. The Soviet Union was the largest producer of shoes in the world. It was turning out 800 million pairs of shoes a year--twice as many as Italy, three times as many as the United States, four times as many as China. Production amounted to more than three pairs of shoes per year for every Soviet man, woman, and child.

The problem with shoes, it turned out, was not an absolute shortage. It was a far more subtle malfunction. The comfort, the fit, the design, and the size mix of Soviet shoes were so out of sync with what people needed and wanted that they were willing to stand in line for hours to buy the occasional pair, usually imported, that they liked.

Meine formlose Untersuchung legte nahe, dass in einigen der längsten Schlangen in Moskau um Schuhe angestanden wurde. Zuerst nahm ich an, dass die ineffiziente sowjetische Wirtschaft nicht genug Schuhe herstellte und dass aus diesem Grund sogar in der Hauptstadt Menschen stundenlang schlangestehen mussten, um sie zu kaufen... Dann schaute ich mir die Statistiken an.


Ich hatte unrecht. Die Sowjetunion war der größte Schuhproduzent der Welt. Sie stellte 800 Millionen Paare Schuhe pro Jahr her - doppelt so viele wie Italien, dreimal so viele wie die Vereinigten Staaten, viermal so viele wie China. Mehr als drei Paar Schuhe pro Jahr für jeden sowjetischen Mann, jede Frau, jedes Kind.

Es stellte sich heraus, dass das Problem mit Schuhen kein absoluter Mangel war. Es war eine viel subtilere Fehlfunktion. Die Bequemlichkeit, die Passform, das Design und der Größenschlüssel sowjetischer Schuhe waren so weit davon entfernt, was die Menschen brauchten und wollten, dass sie willens waren, stundenlang anzustehen, um ein gelegentliches - meist importiertes - Paar Schuhe zu kaufen, das sie mochten.

Andere Probleme gab es bei so langweiligen Themen wie Kugellagern. In modernen Industrien werden schätzungsweise 100.000 verschiedene Sorten von Kugellagern verbaut - Gosplan plante aber nur für 14 Kategorien, man hatte ja noch vieles andere zu planen. Entsprechend gab es von manchen Kugellagern ein Überangebot, andere waren knapp, wieder andere unauffindbar; mit entsprechenden Konsequenzen für die Produktion von Mähdreschern, Staubsaugern und Drehstühlen.

Sowjetische Milch wurde in kürzester Zeit sauer. In diesem Fall war das Problem, dass keine Kühlkette vom Produzenten zum Verbraucher existierte, und dass neue Milch achtlos auf alte Milch draufgeschüttet wurde; für Gosplan war die gesamte Milchproduktion wichtig, nicht ob jemand sie trinken wollte. Und keine Preise, keine Verkaufszahlen trugen diese Information vom Konsument zum Produzenten. Aber die Sowjetunion produzierte 1987 stolze 43% mehr Milch pro Person als die Vereinigten Staaten.

Noch interessanter ist Waschpulver. Natürlich war es erst einmal eine Leistung, so viele Waschmaschinen zu bauen, 5,2 Millionen Stück im Jahre 1987 - die Konsumgüterindustrie in der Sowjetunion war durchaus vorhanden. Aber was nützt die schönste Waschmaschine, wenn man kein Waschpulver dafür hat? Der Aufschrei war groß, und irgendwann reagierte sogar Gosplan und erhöhte die Produktionsquoten. Nach langer Knappheit waren die Geschäfte plötzlich voller Waschmittel. Und da man nicht wusste, wie lange die Herrlichkeit anhalten würde, wurde gehortet. Bis Moskauer Ärzte massenhaft auftretende tränende Augen und Atemwegsprobleme darauf zurückführten, dass man in vielen Wohnungen in Wohngemeinschaft mit großen Quantitäten Waschpulver lebte. Shane fasst zusammen:
The soap industry was like a huge truck with no steering wheel, careening from one curb to another.


Die Seifenindustrie war wie ein riesiger Lastwagen ohne Lenkrad, der von einem Bordstein zum anderen schlingerte.

Natürlich blieben diese Probleme den Eliten nicht unbekannt. Allerdings hieß das noch lange nicht, dass die Informationen zur Verfügung standen, um diese Probleme zu lösen. Shane berichtet, dass Michail Gorbatschow, Nikolai Ryschkow und Wladimir Dolgikh - alles Spitzenleute der Nomenklatura, die die sowjetische wirtschaftliche Malaise untersuchten - 1983 bei Andropow vorstellig wurden, um Daten zum Budget zu erfragen, insbesondere zum Verteidigungshaushalt. Andropow erklärte, diese Daten gingen sie nichts an und sie würden in Bereichen herumschnüffeln, in denen sie nichts zu suchen hätten. Sogar die obersten Führer dieser "Plan"wirtschaft konnten keine Informationen über wichtige Aspekte des "Plans" erhalten.

Anfang der achtziger Jahre dämmerte es nun langsam sogar dem KGB, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Juri Andropow war 15 Jahre lang Chef des KGB gewesen, als er 1982 Breschnew nachfolgte, und als solcher wusste er wohl noch am besten, dass es allenorten im sowjetischen Gebälk krachte. Nach seiner kurzen (und Tschernenkos noch kürzeren) Amtszeit kam Andropows Protégé Gorbatschow an die Macht und versuchte, durch vorsichtige Reformen die Malaise der sowjetischen Wirtschaft zu beheben. Dass der KGB diese Reformen mittrug, sieht man schon daran, dass Gorbatschows Perestroika ansonsten schnell und effizient ausgeknipst worden wäre.

Nun wollte aber der KGB natürlich auch nicht einen kompletten Zusammenbruch des Systems. Problematisch war aber, dass die ersten Reförmchen - Lockerungen der Pressekontrolle, so dass erstmals relativ offen über Misstände berichtet werden konnte - sozusagen ein kleines Loch im Damm waren, der dann zusehends instabil wurde. Niemand wusste, wie weit die nicht mehr ganz so unfreie Presse gehen konnte. Unsicherheit kam auf, sogar beim KGB. Waren satirische Fernsehsendungen noch in Ordnung? Der Druck zuvor verbotener Bücher? Plötzlich sprachen Journalisten sogar mit Zeitzeugen der Massenmorde unter Stalin, und sie veröffentlichten, wo in den Dreißiger Jahren die Massengräber für die Moskauer Erschießungsopfer angelegt wurden.

Nach kurzer Zeit war der KGB selbst so unsicher über die neuen Grenzen des Erlaubten, dass er in Panik zum Putsch von 1991 als letztem Mittel griff. Allerdings war es da schon zu spät: die Putschisten konnten sich nicht mehr zu kompromissloser Repression entschließen, und anders als 1985 hatten jetzt zu viele Einwohner der UdSSR, zu viele frei gewählte Parlamentarier, zu viele hochrangige Offiziere Gefallen an der neuen Freiheit gewonnen. Der Putsch dauerte nur wenige Tage, und während Gorbatschow danach in völliger Verkennung der Lage weiter von einem effizienteren Sozialismus schwadronierte, hatte der Zug der Zeit ihn schon längst abgehängt.

Shane schrieb sein Buch 1994, aus der Perspektive des kürzlichen Zerfalls der Sowjetunion und der ersten blutigen Auseinandersetzungen zwischen und innerhalb der frisch unabhängigen Republiken. Das Buch atmet dennoch einen Optimismus, den man heutzutage vielleicht so nicht mehr empfindet - Putin kommt nicht vor, nur Jelzin. Dennoch ist Dismantling Utopia lesenswert: als Überblick, in was für einem eisernen Griff die Kommunisten die Sowjetunion 70 Jahre lang hielten und wie schnell erste Risse dazu führten, dass der ganze Koloss auf tönernen Füßen in sich zusammenbrach.



© Gorgasal. Die Buchempfehlung habe ich von David Henderson. Für Kommentare bitte hier klicken.

Wer organisiert den "Bildungsstreik"? Nebst einem Nachtrag

Was ich jetzt schreibe, wird Ihnen, sofern sie ZR regelmäßig lesen, bekannt vorkommen. Ich wünschte nur, es wäre allgemein bekannt.

Nicht zuletzt dank massiver Unterstützung durch die öffentlich- rechtlichen Medien - die Tagesschau ist ein Beispiel - ist aus den Unternehmungen von ein paar hundert Studenten, die ich am Freitag kommentiert habe, inzwischen eine etwas breitere Aktion geworden.

Nach wie vor beteiligt sich daran nur ein Bruchteil der mehr als zwei Millionen Studenten in Deutschland; aber statt ein paar Hundert mögen es jetzt ein paar Tausend sein. Nicht mehr im niedrigen, sondern jetzt im höheren Promille- Bereich.

Daß es bei der Einführung der Bachelor- und Master- Studiengänge Probleme gibt, ist nicht zu bestreiten. In "FAZ.Net" faßt sie heute Heike Schmoll konzis und kenntnisreich zusammen. Aus meiner Sicht habe ich diese Probleme am Samstag in "Zettels kleinem Zimmer" kommentiert.

Aber diese Probleme werden ja nicht durch die sogenannte "Besetzung" von Hörsälen (also meist Hausfriedensbruch) und durch Demonstrationen gelöst. Das wissen natürlich auch die Organisatoren dieser Aktionen.



Die Organisatoren? Wer ist das überhaupt? Quer durch die Berichterstattung unserer Medien hat man den Eindruck, daß es Organisatoren gar nicht gibt. Man könnte glauben, die Plakate, die Forderungen, die Parolen seien irgendwie spontan den Köpfen von Studenten entsprungen und hätten unter ihren fleißigen Händen materielle Gestalt gewonnen.

Nur ist es nicht so. Das Ganze ist professionell organisiert und koordiniert. Gehen Sie bitte einmal auf die WebSite Bildungsstreik.Net. Da finden Sie alles, was eine zentrale Organisation ausmacht: Eine aktuelle Terminliste; Berichte und Kontaktadressen der einzelnen Unis; Links zu den einzelnen "Bündnissen"; eine "Newsletter" und eine Email- "Verteiler für Aktive".

An alles ist gedacht. Es gibt ein Wiki und einen Twitter-Feed. Man kann Plakate, Flugblätter und Aufkleber ordern. Auch eine "Pressegruppe" als Anlaufstelle für Journalisten fehlt nicht. Selbst Formbriefe für Azubis werden angeboten, mit denen diese eine Freistellung vom Berufsschul- Unterricht zwecks Demonstrierens beantragen sollen.

Das alles spontan entstanden, weil es Probleme bei der Umsetzung des Prozesses von Bologna gibt? Ach woher.



Ich schrieb ja, daß regelmäßigen Lesern dieses Blogs das alles bekannt vorkommen wird. Was jetzt jetzt in Gang gesetzt wird, das ist die zweite Runde einer von langer Hand vorbereiteten Kampagne, deren erster Teil im Juni dieses Jahres stattfand. Ich habe das damals kommentiert und über die beteiligten Organisatoren informiert; siehe "Bildungsstreik 2009": Wer sind eigentlich die Organisatoren und Unterstützer? Die Volksfront marschiert; ZR vom 18. 6. 2009.

Wenn Sie jetzt von der Startseite der Organisatoren aus auf "Aufruf" klicken, gelangen Sie zu demselben Aufruf, dem ich damals, im Juni, verlinkt und aus dem ich dies zitiert habe; es steht wörtlich immer noch da:
Weltweit sind Umstrukturierungen aller Lebensbereiche nicht mehr gemeinwohlorientiert, sondern den sogenannten Gesetzen des Marktes unterworfen. (...) Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt deutlich, dass die Auswirkungen wettbewerbsorientierter Entscheidungskriterien verheerend sind. In vielen Ländern protestieren Menschen dagegen, so z.B. in Mexiko, Spanien, Italien, Frankreich und Griechenland. In diesem internationalen Zusammenhang steht der Bildungsstreik 2009. (...)

Ziel des Bildungsstreiks ist es, eine Diskussion zur Zukunft des Bildungsystems anzuregen. Des Weiteren sollen Möglichkeiten einer fortschrittlichen und emanzipatorischen Bildungs- und Gesellschaftspolitik aufgezeigt und durchgesetzt werden.
Es geht nicht um die Probleme mit dem Bologna- Prozeß. Diese sind vorgeschoben. Oder genauer gesagt: Sie stehen im Zentrum der Massenlinie, wie das bei Kommunisten heißt. Sie sind das, was die Öffentlichkeit und die Mitläufer unter den Studenten glauben sollen.

Die Kaderlinie beinhaltet etwas anderes: Es geht darum, Studenten zu politisieren und sie empfänglich zu machen für eine "fortschrittliche Gesellschaftspolitik". Im Klartext: für den Sozialismus. Dazu dient eine sogenannte "Politik des breiten Bündnisses"; eine klassische kommunistische Strategie.

Wo die Fäden allerdings zusammenlaufen, das konnte ich jetzt wie schon damals nicht herausfinden; Vermutungen sind erlaubt. Wer mit von der Partie ist, das können Sie der Liste der UnterstützerInnen entnehmen. Die Gruppen sind weitgehend dieselben wie im Juni; die Volksfront also. Die mit besonders vielen Gruppen vertretene Organisation mit dem eigenartigen Namen "linksjugend ['solid]" ist übrigens die Jugendorganisation der Partei "Die Linke".




Nachtrag am 19. 11.: Inzwischen gibt Hinweise - neu und älter - darauf, daß in der Tat die Partei "Die Linke" eine zentrale Rolle bei der Organisation dieses "Bildungsstreiks" spielt, und zwar in Gestalt von Mitgliedern ihrer Studentenorganisation "Die Linke.SDS". Näheres finden Sie in "Zettels kleinem Zimmer".




© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Karl Marx. In der Public Domain, da das Copryright erloschen ist.

Es ist vorerst vorbei mit der globalen Erwärmung. Haben die Klimaskeptiker am Ende doch Recht?

Bis vor kurzem haben es nur Klimaskeptiker gesagt. Und auch wenn sie es auf einer wissenschaftlichen Konferenz gesagt haben wie der 2009 International Conference on Climate Change im März dieses Jahres in New York (siehe Internationale Klimakonferenz äußerst Zweifel an globaler Erwärmung, ZR vom 19. 3. 2009), wurde es nicht zur Kenntnis genommen: Seit zehn Jahren ist es vorerst vorbei mit der globalen Erwärmung.

Jetzt ist es auch in der Öffentlichkeit angekommen. Bereits im Mai 2008 hatte in Deutschland "spektrumdirekt" darüber berichtet; die Internetausgabe von "Spektrum der Wissenschaft". Am 21. September dieses Jahres brachte die New York Times einen Artikel von Andrew J. Revkin, in dem er schreibt, daß "global temperatures have been relatively stable for a decade and may even drop in the next few years", daß die globalen Temperaturen seit einem Jahrzehnt relativ stabil sind und in den nächsten Jahren sogar sinken können.

Und nun zieht auch der gedruckte "Spiegel" mit einem Artikel von Gerald Traufetter in der aktuellen Ausgabe ("Spiegel" 47/2009; S. 134 - 136) nach. Traufetter - Mitglied der Wissenschaftsredaktion, aber gegenwärtig mit Sitz in Stavanger, Norwegen - ist ein Autor, der schon des öfteren eine differenziertere Haltung zur Frage der globalen Erwärmung hat erkennen lassen als die meisten seiner journalistischen Kollegen. Traufetters bündige Feststellung: Es sei
mit der globalen Erwärmung derzeit nicht weit her. Die Durchschnittstemperaturen auf der Erde steigen seit Anfang des Jahrtausends nicht mehr weiter an. Und auch in diesem Jahr sieht es nach Stillstand aus.



Was nun?

Leser dieses Blogs wissen, daß ich es immer vermieden habe, mich in die Diskussionen um die globale Erwärmung in der Weise einzumischen, daß ich mich auf die Seite der Klimaskeptiker oder auf die Seite von denjenigen stellen würde, die an eine bevorstehende Klimakatastrophe glauben, wenn nicht die CO2- Emissionen drastisch reduziert werden. Ich enthalte mich da der Stimme; siehe Heute erfahren - ich bin ein Klimagnostiker, ZR vom 3. 2. 2008.

Ich kann nicht beurteilen, wer im Recht ist, weil ich von Klimatologie nichts verstehe. Darüber, wer alles meint, das beurteilen zu können, obwohl auch er von Klimatologie keine Ahnung hat, kann ich nur immer wieder staunen; siehe Fachleute diskutieren. Staun!; ZR vom 12. Juni 2007.

Allerdings habe ich Kenntnisse darüber, wie Wissenschaft funktioniert.

Die letzten Jahre waren in der Klimatologie durch die zunehmende Dominanz eines einzigen theoretischen Ansatzes gekennzeichnet, der durch die Verlautbarungen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) sozusagen kanonisch festgelegt wurde und wird. Danach gibt es seit Jahrzehnten einen kontinuierlichen Anstieg der globalen Temperaturen, der im wesentlich "menschengemacht" ist, d.h. auf die zunehmenden Emission von "Treibhausgasen" wie CO2 und Methan zurückgeht. Er wird weitergehen und sich beschleunigen, wenn nicht diese Emissionen drastisch reduziert werden.

Daß in einer Wissenschaft ein einziger theoretischer Ansatz für eine gewisse Zeitspanne dominiert, ist nichts Ungewöhnliches. Oft wird er dann immer besser belegt, bis schließlich aus der Theorie gesichertes Wissen wird. Beispiele sind Darwins Evolutionslehre und die Relativitätstheorie.

Oft aber erweist sich auch eine dominierende Theorie als falsch.

Eine Kernannahme in der Physik des 19. Jahrhunderts war zum Beispiel die Existenz eines "Äthers", der den Weltraum füllt und der Träger von Lichtwellen ist, so wie die Luft der Träger von Schallwellen. Ähnlich dominierte in der Psychologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Behaviorismus, der komplexes Verhalten auf einfache gelernte Reaktionen zurückführen wollte; und in der Astronomie war man bis vor wenigen Jahrzehnten überzeugt, daß der Mond entweder zugleich mit der Erde entstand oder von ihr "eingefangen" wurde.

Heute wissen wir, daß es keinen Äther gibt. Der Behaviorismus ist längst gescheitert. Die Entstehung des Mondes verlief ganz anders, als von beiden Theorien vermutet: Ein Asteroid schlug auf der Erde ein und sprengte Materie aus ihr heraus. Aus dieser und dem Asteroiden formte sich der Mond.



Wenn eine herrschende Theorie auf Daten trifft, die sie nicht vorhergesagt hatte, dann gibt es immer zwei Möglichkeiten: Entweder wird sie durch eine bessere ersetzt, oder es gelingt ihr, sich durch Zusatzhypothesen diesen neuen Daten anzupassen und damit ihr Fortbestehen zu retten.

Die Anhänger des Standard- Modells des IPCC versuchen im Augenblick das zweite. Traufetter schildert, wie jetzt Änderungen in der Sonnenflecken- Aktivität und bei Meeresströmungen für das Ausbleiben einer weiteren Erwärmung verantwortlich gemacht werden.

Schau an! Auf just solche Faktoren haben Klimaskeptiker immer wieder hingewiesen.

Die Sonnenflecken- Aktivität war in den Jahrzehnten, in denen der steile Temperatur- Anstieg beobachtet wurde, ungewöhnlich hoch gewesen. Wenn jetzt argumentiert wird, daß die heutige geringere Aktivität der Sonne für das Ausbleiben eines Anstiegs verantwortlich ist, dann impliziert das, daß die vorausgehende hohe Aktivität mindestens zum Teil für die Erwärmung verantwortlich gewesen sein muß. Vor Tisch las man's anders.

Oder nehmen wir die Hurrikans. Lesen Sie einmal, wie der auch jetzt im "Spiegel" wieder ausführlich zitierte Ozeanologe Mojib Latif dazu innerhalb weniger Jahre seine Meinung geändert hat:
Der Klimaforscher Mojib Latif vom Leibnizinstitut für Meereswissenschaften an der Universität Kiel machte in einem Interview auch die globale Erwärmung für die Zunahme der Hurrikans verantwortlich. "Dabei ist sowohl Intensität als auch Häufigkeit gemeint", erläuterte Latif. (3Sat am 29.08.2006).

Gefährlich sei es auch, einzelne Wetterereignisse wie eine Dürreperiode in Mali oder einen Hurrikan als Beispiele für den bereits voll zuschlagenden Klimawandel zu sehen. (Derselbe Mojib Latif jetzt laut "Spiegel"; Heft 47/2009, S. 135).

Für die Zunahme von Hurrikans großer Intensität gibt es nämlich auch eine ganz andere Erklärung. Über sie habe ich vor zweieinhalb Jahren berichtet (Hurricans und globale Erwärmung - ein modernes Märchen?; ZR vom 27. 7. 2007). Sie stammt vom Team des Ozeanologen William Gray am Department of Atmospheric Science der Colorado State University und besagt, daß Änderungen in Meeresströmungen für die Zu- und auch wieder Abnahme der Hurrikan- Häufigkeiten verantwortlich seien.

Meeresströmungen sind es auch, die Mojib Latif jetzt ins Feld führt, um das Ausbleiben einer Erwärmung im vergangenen Jahrzehnt zu erklären. Nur - könnten dann nicht deren Änderungen ebenso für die vorausgehende Erwärmung verantwortlich sein? Zumindest die Erwärmung in der Arktis dürfte zu einem erheblichen Teil auf solche Faktoren zurückgehen. Der Eisbär auf seiner Scholle, der Millionen zu Tränen rührt, sitzt da nicht, jedenfalls nicht nur, weil wir Menschen zuviel CO2 in die Umwelt pusten.



Gibt es ihn also gar nicht, den Treibhauseffekt? Das zu folgern ginge über die Daten hinaus. Nur ist festzuhalten, daß die Klimamodelle, die mit diesem Effekt arbeiten, sich mit ihren Vorhersagen für das vergangene Jahrzehnt geirrt haben. Wenn das einer Theorie passiert, dann wackelt sie. Gefallen ist sie noch nicht.

Ob jetzt die ganze Theorie aufgegeben werden muß, so wie Ende des 19. Jahrhundert die Theorie vom Äther durch das Experiment von Michelson und Morley, werden die Fachleute herauszufinden haben. Die meisten tendieren dazu, die dominierende Theorie auch weiter für im Prinzip richtig zu halten. Man kann die Modelle so anpassen, daß sie ein Plateau stagnierender Erwärmung einbeziehen können.

Gut möglich also, daß die Vertreter der dominierenden Theorie am Ende Recht haben. Aber vielleicht beginnen manche von ihnen doch jetzt einzusehen, daß man die Regeln wissenschaftlicher Forschung im Rausch einer politisierten und überfinanzierten Forschung nicht ignorieren kann:

Jede Theorie kann sich als falsch erweisen. Deshalb sollten alternative Theorien immer auch ernst genommen werden, sollten auch ihre Vertreter die erforderlichen Forschungsmittel erhalten. Die Art, wie bis jetzt diejenigen, die nicht an die menschengemachte globale Erwärmung glauben, selbst von offizieller Stelle als Ignoranten und Scharlatane hingestellt wurden, hat mit seriöser Wissenschaft nichts zu tun.




Nachtrag am 20. 11.: Inzwischen ist der Text des Artikels von Gerald Traufetter in englischer Übersetzung bei Spiegel Online International zu lesen. Mit Dank an Abraham, der mich darauf aufmerksam gemacht hat. - Weiterer Nachtrag am 21. 11.: Jetzt gibt es auch die deutsche Version bei "Spiegel- Online".



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Schiffe sinken im Sturm. Gemälde von Ludolf Backhuysen (ca 1630). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist (Ausschnitt).

16. November 2009

Gorgasals Kleinigkeiten: Die Finanzen der SPD

Aus einem Artikel zur schwierigen Kassenlage der SPD:
Anders als Union und FDP bekommen die Sozialdemokraten kaum Spenden aus der Industrie oder von vermögenden Privatpersonen. In der SPD machen Spenden im Schnitt gerade einmal acht Prozent der Einnahmen aus, in CDU und CSU waren es durchaus schon einmal 22 Prozent, in der FDP sogar 36 Prozent.

Aus dem Leitantrag beim Parteitag der SPD in Dresden:
Unser Steuerkonzept wird Vermögende, unter anderem durch die Wiedereinführung der Vermögensteuer, stärker in die Verantwortung für das Gemeinwohl nehmen.

Aus dem deutschen Sprichwortschatz:
Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus.




© Gorgasal. Für Kommentare bitte hier klicken.

15. November 2009

Was bewegt die Menschen so am Tod von Robert Enke?

Bisher habe ich zum Tod von Robert Enke nichts geschrieben. Zum einen, weil er mich nicht persönlich berührt hat. Ich wußte von Enke wenig; ich hatte keine affektive Einstellung zu ihm entwickelt. Zum anderen, weil es mir schwergefallen wäre, zu diesem so gängigen Schicksal etwas zu schreiben. Depression ist eben eine potentiell tödliche Krankheit, wie Krebs.

Daß ich jetzt doch diesen Artikel schreibe, liegt an der für mich völlig unerwarteten Reaktion auf diesen Tod. "Hannover bereitet sich auf die größte Trauerfeier in Deutschland seit mehr als vier Jahrzehnten vor" schreibt die in Hannover erscheinende "Neue Presse"; der größten seit dem Tod Konrad Adenauers. Enkes Tod habe eine "fast beispiellose Anteilnahme in der Bevölkerung ausgelöst".

Und das nicht nur in der Bevölkerung Hannovers, wo Enke spielte. Der "Spiegel" fand den Tod Enkes so wichtig, daß sich die Titelgeschichte der kommenden Woche mit diesem Thema befaßt. Was löst diese intensive Reaktion aus?



Ich habe bis hierher ein Wort für diesen Vorgang vermieden, daß ein Mensch seinem Leben selbst ein Ende setzt. Das geläufigste, "Selbstmord", ist falsch und stellt eine abwegige Assoziation her. Wer sich entscheidet, nicht mehr weiterleben zu können, ist kein Mörder. "Suizid" ist nicht besser, denn es ist nur die lateinische Übersetzung von "Selbstmord".

Während diese Bezeichnungen den Toten herabwürdigen, ist das alternative "Freitod" ein Euphemismus. Denn frei ist der sich Tötende nie. Er regagiert auf eine Situation, die ihm aus seiner Sicht keine andere Wahl mehr läßt als diejenige, aus dem Leben zu scheiden.

Also "Selbsttötung". Kein schönes Wort; aber der Sachverhalt ist ja auch nicht schön. Ich werde von Selbsttötung sprechen.

Sie ist eine schlimme Form des Sterbens. Zum einen für denjenigen, der sich zur Selbsttötung durchgerungen hat. Denn dem geht ja ein oft langes Leiden voraus, das schließlich zu der Beurteilung geführt hat, daß selbst der Tod noch erträglicher ist, als so weiterzuleben. Die Selbsttötung ist die Dokumentation der Entsetzlichkeit des vorausgehenden Leidens. Auch wenn die Freunde, die Familie es nicht in seiner ganzen Entsetzlichkeit erkannt hatten.

Und das ist der zweite Grund, warum die Selbsttötung so schlimm ist: Sie belastet die Hinterbliebenen in einer besonderen Weise. Sie haben nicht nur ihre Trauer, wie bei jedem Todesfall. Sondern in vielen Fällen müssen sie sich auch noch Vorwürfe machen. Sie fragen sich, warum sie das Leiden des jetzt Toten zu seinen Lebzeiten nicht richtig erkannten; oder warum sie ihm nicht helfen konnten, obwohl sie sich über die Schwere seines Leidens im Klaren gewesen waren.

Und dann kommt noch hinzu, daß derjenige, der sich selbst das Leben nimmt, oft jemand ist, von dem man das überhaupt nicht erwartet hatte. "Plötzlich und unerwartet", diese Formel in Todesanzeigen, stimmt da wirklich.



In abgemilderter Form findet sich diese Bestürzung darüber, daß gerade diese Person sich das Leben genommen hat, auch in der öffentlichen Reaktion. Der letzte mir erinnerliche Fall in Deutschland war der Tod des Milliardärs Adolf Merckle Anfang dieses Jahres, der sich wie Enke vor einen Zug warf.

Aber die damalige Reaktion ist mit derjenigen jetzt auf den Tod von Robert Enke doch nicht zu vergleichen. Was mag diese über die Maße intensive Reaktion ausgelöst haben? Man kann da naturgemäß nur Vermutungen anstellen.

Erstens war Enke nicht nur wie Merckle eine öffentliche Person, sondern er war jemand mit einem positiven Image. Bei Merckle war manchmal nachgerade eine - so schien es mir jedenfalls - klammheimliche Genugtuung darüber zu spüren, daß dieser Mann, der sich nach oben gearbeitet hatte und dabei so überaus reich geworden war, nun so endete.

Sodann war Enke ein für einen Fußballer ungewöhnlicher Mensch. Spitzentorhüter sind das nicht selten. Das mag daran liegen, daß ihre Aufgabe nicht nur körperliches Geschick, sondern auch extreme mentale Fähigkeiten verlangt; ich habe das kürzlich in einem Artikel zu einem anderen Thema diskutiert (Hypnose - Scharlatanerie oder ernsthafter Forschungsgegenstand?; ZR vom 13. 10. 2009). Enke war für einen Spitzensportler ungewöhnlich zurückhaltend; ähnlich wie Jens Lehmann war er wohl so etwas wie ein Intellektueller unter den Profis. Eine Ausnahmeerscheinung.

Ein dritter Punkt dürfte sein, daß Robert Enke immer wieder Pech gehabt hatte. Vor wichtigen Spielen der Nationalmannschaft fiel er aus; wegen einer Krankheit, einer Verletzung. So hieß es. Wieweit die Stimmungsschwankungen eines an Depression Erkrankten dabei eine Rolle spielten, mag offenbleiben. Seine Existenz als Sportler hatte schon vor seinem Tod etwas, wie man so sagt, "Tragisches" gehabt. Insofern paßte seine Selbsttötung in ein schon vorhandenes Bild.

Ein Bild, das - und damit komme ich zu dem aus meiner Sicht zentralen Aspekt - jetzt Züge eines klassischen Heldenschicksals trägt.

Es sind im Grunde immer dieselben Gestalten, dieselben Schicksale und menschlichen Konstellationen, die uns tief berühren und die deshalb seit Jahrtausenden den Stoff der Mythen, später der großen Dramen und Romane ausmachen; das war eines der Themen des vor zwei Wochen verstorbenen Claude Lévi-Strauss (siehe Claude Lévi-Strauss, Wissenschaftler und Denker; ZR vom 5. 11. 2009).

Robert Enke ist der strahlende Held, den ein früher Tod trifft. Der Hochbegabte, der von Erfolg zu Erfolg eilt, und der doch immer auch von einem düsteren Schicksal begleitet wird. Alexander der Große und Siegfried verkörpern diese Gestalt. Oder, auf einer nun allerdings ganz anderen Ebene, "Che" Guevara und Kennedy. Und auf einer nochmals anderen, räumlich und zeitlich nur lokalen Ebene - jetzt und hier bei uns - Robert Enke.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Robert Enke im April 2008. Von der Autorin Ina96 unter Creative Commons Attribution ShareAlike 3.0 freigegeben.

Zitat des Tages: "Politische Korrektheit ist eine Gefahr". Der Publizist und Psychiater Charles Krauthammer zum Fall Nidal Hasan (Teil 2)

Daß auf meinen gestrigen Artikel über den Kommentar Charles Krauthammers zur Gefahr politischer Korrektheit noch dieser zweite Teil folgen würde, war nicht vorgesehen gewesen. Es gibt jetzt diese Fortsetzung - und der ursprüngliche Artikel wurde nachträglich entsprechend mit seiner Nummer versehen -, weil mir gestern beim Schreiben dieses Artikels wichtige Informationen leider noch nicht bekannt gewesen waren.

Inzwischen habe ich - u.a. aufgrund eines Hinweises von Gansguoter in "Zettels kleinem Zimmer" - weiter recherchiert und bin dabei auf einen Artikel von Dana Priest in der Washington Post vom 10. 11. gestoßen, der mir beim Schreiben des ersten Teils entgangen war. Was diese Autorin zusammen mit ihrer Kollegin Ann Scott Tyson herausgefunden hat, erscheint mir interessant genug, um es in diesem zweiten Teil zu berichten.

Der Artikel der Washington Post enthält Einzelheiten über den Vortrag am Walter- Reed - Militärkrankenhaus. Es war nicht irgendein Vortrag in einer Grand Round, sondern dieser Auftritt Nidal Hasans war, wie Priest schreibt, "a culminating exercise of the residency program", ein krönender Abschluß der Ausbildung zum Facharzt. Normalerweise werden solche Vorträge mit den ausbildenden Ärzten im voraus besprochen.

Das scheint hier nicht geschehen zu sein, denn statt des erwarteten Vortrags zu einem medizinischen Thema sprach Hasan über "The Koranic world view as it relates to muslims in the US. military" - die Weltsicht des Koran in ihrer Beziehung zu Moslems im US-Militär.

Es ist Dana Priest gelungen, sich die Folien zu diesem Vortrag zu besorgen; die Powerpoint- Präsentation ist ihrem Artikel beigefügt.

Der Vortrag Hasans hat nicht nur nichts mit Medizin zu tun, steckt nicht nur voller orthographischer und grammatischer Fehler, sondern seine Botschaft ist auch kristallklar.

Die ersten Folien enthalten ein paar Definitionen und statistische Daten zum Islam, die jeder sich in einer halben Stunde aus dem Internet ziehen kann. Der Hauptteil besteht aus Zitaten aus dem Koran und Hasans Kommentaren dazu.

Diese Folien lassen keinen Zweifel daran, worauf er hinauswill. Und das sollten Sie sich nicht entgehen lassen. Wenn Sie nicht alle 50 Folien durchgehen wollen, dann schlage ich Ihnen vor, gleich auf Folie 48 zu klicken und sich diese und die beiden anschließenden anzusehen.

Der letzte Punkt in Folie 48 lautet: "We love death more than you love life!" - Wir lieben den Tod mehr als ihr das Leben.

Auf Folie 49 steht unter anderem "Fighting to establish an Islamic State to please God, even by force, is condoned by Islam" - Der Islam erlaubt es, für die Errichtung eines Islamischen Staats Gott zu Gefallen zu kämpfen, auch mit Gewalt.

Und auf Folie 50 steht als "Empfehlung" Nidal Hasans: "Department of Defense should allow Muslim Soldiers the option of being released as 'Conscienctious Objector' to increase troop morale and decrease adverse events". Das Verteidigungsministerium solle moslemischen Soldaten die Wahl zugestehen, als "Verweigerer aus Gewissensgründen" aus dem Dienst auszuscheiden, zum Zweck einer Verbesserung der Moral der Truppe und um unerwünschte Vorkommnisse zu verringern.

Das empfahl Nidal Malik Hasan Ende Juni 2007 zum Abschluß seiner Ausbildung zum Facharzt. Im Juli 2007 wurde er nach Fort Hood versetzt. Gut zwei Jahre später sollte er nach Afghanistan gehen. Statt das aus Gewissensgründen zu verweigern, entschied er sich für das "unerwünschte Vorkommnis" und beging einen Massenmord an seinen Kameraden.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

14. November 2009

Gorgasals Kleinigkeiten: Demokratischer Konsens und linke Gewalt

Dr. Ehrhart Körting, Senator für Inneres und Sport in Berlin, im Vorwort einer neuen Studie über linke Gewalt in Berlin:

Fakt ist, dass gewaltbereite Linksextremisten in Berlin in den vergangen Jahren bei vielen Gelegenheiten bewiesen haben, dass sie auch großen Sachschaden und schwere Verletzungen von Menschen in Kauf nehmen, wenn sie diese als Feinde ansehen.

Wir haben in unserer Gesellschaft einen Konsens erreicht, dass politisch rechts motivierte Gewalt ein nicht hinzunehmender Angriff auf die Grundwerte unseres Gemeinwesens ist. Es gilt, einen ähnlichen demokratischen Konsens auch in der Ausgrenzung links motivierter Gewalttäter zu erzielen.

Dem kann ich nichts hinzufügen. Außer eine Leseempfehlung für die Studie.



© Gorgasal. Den Hinweis verdanke ich Udo Vetter vom lawblog. Für Kommentare bitte hier klicken.

Zitat des Tages: "Politische Korrektheit ist eine Gefahr". Der Publizist und Psychiater Charles Krauthammer zum Fall Nidal Hasan (Teil 1)

Medicalizing mass murder not only exonerates. It turns the murderer into a victim, indeed a sympathetic one. (...)

Have we totally lost our moral bearings? Nidal Hasan (allegedly) cold-bloodedly killed 13 innocent people. His business card had his name, his profession, his medical degrees and his occupational identity. U.S. Army? No. "SoA" -- Soldier of Allah. In such cases, political correctness is not just an abomination. It's a danger, clear and present.


(Die Vermedizinerung des Massenmords entlastet nicht nur. Sie verwandelt den Mörder in ein Opfer, ja sogar in ein sympathisches. (...)

Haben wir völlig unsere moralische Peilung verloren? Nidal Hasan hat - so die Beschuldigung - eiskalt 13 unschuldige Menschen getötet. Seine Visitenkarte trägt seinen Namen, seinen Beruf, seine Titel in Medizin und seine berufliche Tätigkeit. Bei der US-Armee? Nein. "SoA" - Soldier of Allah [Soldat Allahs]. In solchen Fällen ist politische Korrektheit nicht nur grauenhaft. Sie ist eine Gefahr, klar und gegenwärtig.)

Charles Krauthammer in seiner aktuellen Kolumne in der Washington Post zum Fall des Nidal Hasan, der in Fort Hood einen Massenmord an seinen Kameraden beging.


Kommentar: Der Fall des Nidal Hasan ist schon durch die Medien; es gibt jetzt anderes Spektakuläres zu berichten. Ich habe einen der Hintergründe dieses Verbrechens - die Verbindung Hasans zu einem islamistischen Haßprediger - am Dienstag kommentiert ("Nidal Hassan ist ein Mann mit Gewissen". Ein Imam äußert sich zu einem Massenmord; ZR vom 10. 11. 2009). Jetzt komme ich noch einmal auf den Fall zurück, weil inzwischen ein neuer Aspekt sichtbar geworden ist.

Zuerst bin ich auf diesen Aspekt vor einigen Tagen in einem Bericht von CNN aufmerksam geworden, in dem Anderson Cooper sich mit der Frage befaßte, warum eigentlich niemand in der Armee die Anzeichen dafür ernst genommen hatte, daß Hasan sich zu einem islamistischen Extremisten entwickelte.

Anderson interviewte unter anderem einen ehemaligen Offizier, der aus seiner Erfahrung berichtete: Rassische und religiöse Diskriminierung sei in der US-Armee strikt untersagt. Wer den Anschein erwecke, er wolle jemanden wegen seines Glaubens diskriminieren, gefährde damit seine Karriere. Deshalb sei es vor allem für niedere und mittlere Offiziersdienstgrade besser, in einem Fall wie dem von Nidal Hasan zu schweigen.

Anderson Cooper hat das mit allem Vorbehalt kommentiert; allerdings von ähnlichen Stimmen aus der Armee berichtet. Mir schien das zu wenig belegt, um darüber zu schreiben. Nun ist aber gestern die Kolumne von Krauthammer erschienen, eines in seinen Meinungen zwar expliziten, in Hinsicht auf Fakten aber absolut zuverlässigen Autors.

Was er berichtet, ist nun allerdings alarmierend.

Nidal Malik Hasan hat, bevor er nach Fort Hood versetzt wurde, am Walter- Reed- Militärhospital gearbeitet. Dort spielte sich laut National Public Radio NPR (einer Kette von Radiostationen, unseren Öffentlich- Rechtlichen vergleichbar) die folgenden bizarre Episode ab:

An amerikanischen Krankenhäusern mit einer akademischen Ausbildung gibt es die sogenannten Grand Rounds; wir würden das Kolloquien nennen. Die Ärzte und Studenten versammeln sich zu einem Vortrag, in dem jemand Fälle vorstellt oder über Therapien berichtet. Es sind die wichtigsten Veranstaltungen, in denen Kollegen ihre Ergebnisse austauschen und sich weiterbilden. Es wird ein hoher wissenschaftlicher Standard erwartet.

Auf einem solchen Kolloquium hielt hielt auch Hasan seinen Vortrag. Und worüber sprach er? Ein damaliger Kollege erinnert sich: "Hasan apparently gave a long lecture on the Koran and talked about how if you don't believe, you are condemned to hell. Your head is cut off. You're set on fire. Burning oil is burned down your throat." - Hasan hielt offenbar einen langen Vortrag über den Koran. Er sprach davon, daß Ungläubige in die Hölle kämen, daß sie enthauptet oder verbrannt werden würden, daß ihnen kochendes Öl in den Hals geschüttet würde.

Hasan habe das offensichtlich geglaubt, was er da schilderte. Aber nichts geschah daraufhin. Man tuschelte über ihn - "Ist er ein Fanatiker, oder ist er nur ein Spinner?" -, aber er konnte weiter praktizieren und wurde dann nach Fort Hood versetzt, wo er die Tat beging.



Nach 9/11 hat es Fälle der Diskriminierung von Moslems gegeben. Dagegen hat sich in den USA ein großer Teil der Öffentlichen Meinung gewandt. Zu Recht; aber es scheint, daß dabei ein Klima entstanden ist, in dem man das Offensichtliche nicht mehr sieht oder sehen will.

Wenn ein solches Massaker nicht in einer Kaserne, sondern in einer Schule begangen wird und wenn der Täter nicht ein Soldat, sondern ein Schüler ist, dann fragt sich die ganze Öffentlichkeit, warum denn niemand die Warnzeichen bemerkt hatte. Bei Nidal Hasan waren die Warnzeichen überdeutlich, aber man hat sie nicht sehen wollen.

Und auch im Nachhinein wurde - Krauthammer belegt das mit Zitaten - der islamistische Hintergrund der Tat heruntergespielt. Stattdessen hat man das versucht, was Krauthammer, der selbst jahrelang als Psychiater gearbeitet hat, die "Vermedizinerung" des Falls nennt: Hasan sei durch die Arbeit mit traumatisierten Patienten selbst traumatisiert worden.

Krauthammers Fazit:
Was anything done about this potential danger? Of course not. Who wants to be accused of Islamophobia and prejudice against a colleague's religion? One must not speak of such things. Not even now. Not even after we know that Hasan was in communication with a notorious Yemen-based jihad propagandist.

Hat man etwas gegen diese potentielle Gefahr getan? Natürlich nicht. Wer will der Islamophobie und des Vorurteils gegen die Religion eines Kollegen beschuldigt werden? Über dergleichen darf man nicht sprechen. Auch jetzt noch nicht. Selbst noch nicht, seit wir wissen, daß Hasan mit einem bekannten Propagandisten des Dschihad im Jemen in Kontakt stand.



Für eine Tat wie die von Fort Hood gibt es stets mehr als nur ein einziges Motiv. Bei einem Schulmassaker wie dem von Winnenden (siehe Anmerkungen zum Schulmassaker in Winnenden; ZR vom 11. 3. 2009) wird das ausführlich diskutiert; und stets wird auch sorgfältig danach geforscht, ob es nicht vielleicht auch einen politischen, einen rechtsextremen Hintergrund gibt.

Der extremistische Hintergrund des Massakers von Fort Hood liegt offen zutage. Aber viele wollten und wollen nicht hinsehen.




Nachtrag am 15. 11., 0.45: Inzwischen bin ich auf einen Artikel von Dana Priest in der Washington Post vom 10. 11. aufmerksam geworden, der mir beim Schreiben dieses Beitrag entgangen war.

Er enthält zum einen Einzelheiten über den Vortrag am Walter- Reed - Militärkrankenhaus. Es war nicht irgendein Vortrag in einer Grand Round, sondern dieser Auftritt Nidal Hasans war, wie Priest schreibt, "a culminating exercise of the residency program", ein krönender Abschluß seiner Ausbildung zum Facharzt. Normalerweise werden solche Vorträge mit den ausbildenden Ärzten im voraus besprochen.

Das scheint hier nicht geschehen zu sein, denn statt des erwarteten Vortrags zu einem medizinischen Thema sprach Hasan über "The koranic world view as it relates to muslims in the US. military" - die Weltsicht des Koran in ihrer Beziehung zu Moslems im US-Militär.

Es ist Dana Priest gelungen, sich die Folien zu diesem Vortrag zu besorgen; die Powerpoint- Präsentation ist ihrem Artikel beigefügt.

Der Vortrag hat nicht nur nichts mit Medizin zu tun, steckt nicht nur voller orthographischer und grammatischer Fehler, sondern seine Botschaft ist auch kristallklar.

Die ersten Folien enthalten ein paar Definitionen und statistische Daten zum Islam, die jeder sich in einer halben Stunde aus dem Internet ziehen kann. Der Hauptteil besteht aus Zitaten aus dem Koran.

Sie und seine diese interpretierenden Folien lassen keinen Zweifel daran, worauf er hinauswill. Und das sollten Sie sich nicht entgehen lassen. Wenn Sie nicht alle 50 Folien durchsehen wollen, dann schlage ich Ihnen vor, gleich zur Folie 48 zu gehen und sich diese und die beiden anschließenden anzusehen.

Der letzte Punkt in Folie 48 lautet: "We love death more than you love life!" - Wir lieben den Tod mehr als ihr das Leben. Auf Folie 49 steht unter anderem "Fighting to establish an Islamic State to please God, even by force, is condoned by Islam" - Der Islam erlaubt es, für die Errichtung eines Islamischen Staats zur Ehre Gottes zu kämpfen, auch mit Gewalt.

Und auf Folie 50 steht als "Empfehlung" Nidal Hasans:"Department of Defense should allow Muslim Soldiers the option of being released as "Conscienctious Objectors" to increase troop morale and decrease adverse events". Das Verteidigungsministerium solle moslemischen Soldaten die Wahl lassen, als "Verweigerer aus Gewissensgründen" aus dem Dienst auszuscheiden, zum Zweck einer Verbesserung der Moral der Truppe und um unerwünschte Vorkommnisse zu verringern".

Das empfahl Nidal Malik Hasan Ende Juni 2007 zum Abschluß seiner Ausbildung zum Facharzt. Im Juli wurde er nach Fort Hood versetzt. Gut zwei Jahre später sollte er nach Afghanistan gehen. Statt das aus Gewissensgründen zu verweigern, beging er einen Massenmord an seinen Kameraden.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Reader.

13. November 2009

Gorgasals Kleinigkeiten: Chinas leere Stadt

Nein, es geht nicht um Chinas Ein-Kind-Politik.

Al-Jazeera berichtet (im Video ab etwa 1:14) über Ordos. Hier, in der Inneren Mongolei, wurde in nur fünf Jahren eine Stadt für eine Million Einwohner aus dem Boden gestampft. Der einzige Haken: es wohnt fast niemand dort.

Wahrscheinlich ist der Grund für dieses Musterbeispiel staatlicher Investitionslenkung, dass kein Provinzstatthalter derjenige sein will, der das zentral vorgelegte Ziel von 8% Wirtschaftswachstum verfehlt. Und sinnloser Hausbau erhöht das Bruttoinlandsprodukt.

Aber China hat ja auch lange Erfahrung mit dem staatlichen Bau großer Immobilien ohne (lebende) Bewohner.



© Gorgasal. Quelle: Tyler Cowen. Für Kommentare bitte hier klicken.

Marginalie: "Das hat es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben". Helmut Schmidt über die Kanzlerin und die Krise

Die Kurzinterviews von "Zeit"- Chefreakteur Giovanni di Lorenzo mit Helmut Schmidt unter dem Titel "Auf eine Zigarette", abgedruckt im "Zeit- Magazin", gehörten zum Lesenswertesten in der "Zeit". Sie standen ganz am Ende; ich begann also das Heft von hinten zu lesen, noch bevor ich mich in das Kreuzworträtsel vertiefte.

Jetzt gibt es eine Fortsetzung in einem anderen Format: Seltenere, aber dafür ausführlichere Gespräche in derselben personellen Besetzung. Die anstößige Zigarette ist auch aus dem Titel verschwunden. Jetzt heißt es "Verstehen Sie das, Herr Schmidt?".

In dieser Woche nimmt Schmidt unter anderem zur Leistung der Kanzlerin Stellung:
In einem Punkt muss ich sie ausdrücklich loben, ich tue das gerne noch mal, weil mir das wichtig ist: Dank ihres Zusammenspiels mit Herrn Steinbrück waren die Deutschen wesentlich daran beteiligt, dass im Herbst des Jahres 2008, als wir unmittelbar vor dem Absturz in eine Weltdepression mit weltweit 150 Millionen Arbeitslosen standen, alle vernünftig reagiert haben. Nicht bloß die Europäer und die Nordamerikaner, sondern auch die Chinesen, die Russen, auch die Japaner und Inder. Dergestalt wurde die Weltdepression vermieden. Das hat es in der ganzen Weltgeschichte noch nicht gegeben.
Das Gespräch ist wie fast alles, was Helmut Schmidt sagt und schreibt, unbedingt lesenswert. Wenn jemand die Bezeichnung Elder Statesman verdient, dann er.

Ich habe dieses Zitat aus dem Text herausgegriffen, weil Schmidt etwas eigentlich Offensichtliches sagt, das aber von vielen auch politisch interessierten Menschen meinem Eindruck nach immer noch nicht begriffen wird: Vor einem Jahr war eine Wiederholung der Weltwirtschaftskrise durchaus wahrscheinlich. Daß sie vermieden werden konnte, ist wesentlich der deutschen Kanzlerin zu verdanken, die in der Krise einen kühlen Kopf bewahrt hat wie kaum einer ihrer Kollegen weltweit.

Das sehr große Ansehen, das gerade jetzt wieder bei ihrem Besuch in den USA deutlich geworden ist, hat die Kanzlerin sich nicht zuletzt in dieser Krise erworben.

Man sollte schon deshalb ernst nehmen, was sie in den letzten Wochen immer wieder gesagt hat: Daß die Krise noch lange nicht ausgestanden ist; daß es schlechter werden wird, bevor es besser wird; und vor allem, daß nur eine bessere Ordnungspolitik eine Wiederholung verhindern kann.

Übrigens erteilt Schmidt der Kanzlerin auch noch eine Gesamtnote: Sie habe "das Amt eines Bundeskanzlers zweifellos sehr ordentlich ausgefüllt". Für einen Hanseaten, noch dazu für den Meister des Understatements Helmut Schmidt, ist ein "sehr ordentlich" so ungefähr das größte zu vergebende Lob.



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Zitat des Tages: "Studenten stürmen Hörsäle". Nebst einer Erinnerung an die Tat des Herostratos

"Studenten stürmen Hörsäle". So ist ein Artikel von Tanjev Schultz in der heutigen "Süddeutschen Zeitung" überschrieben. Im Text erfahren wir (Hervorhebung von mir):

In zahlreichen Universitätsstädten hielten Studenten am Donnerstag Hörsäle besetzt, unter anderem in Berlin, Bielefeld, Hamburg, Heidelberg, Göttingen, München und Duisburg. Daran beteiligten sich mehrere Hundert Studenten.


Kommentar: An den deutschen Hochschulen waren im Wintersemester 2008/2009 (letzte verfügbare Zahlen des Statistischen Bundesamts) 2.025.742 Studierende immatrikuliert. Ich überlasse es Ihnen, lieber Leser, auszurechnen, wieviel Prozent der Studenten da "Hörsäle gestürmt" haben.

Für die sozialistische Tageszeitung "Neues Deutschland" sind "Universitäten in Aufruhr"; so der Aufmacher der heutigen Titelseite. Dazu im Text des Artikels über die Humboldt- Universität: "Einige hundert Studierende sind an diesem Donnerstag in das 'Auditorium Maximum' gekommen, um die nächsten Schritte für ihren Protest zu besprechen. In der Nacht hatten 100 Studierende den Saal besetzt".

An der Humboldt- Universität sind derzeit 27.467 Studierende immatrikuliert.



Im Jahr 356 v. Chr. zündete ein gewisser Herostratos den Tempel der Artemis in Ephesos an, um damit Aufsehen zu erregen. Wie man sieht, ist es ihm gelungen.

Lächerliche Minderheiten von Studenten versuchen im Augenblick Aufsehen zu erregen, indem sie lautstarke Proteste inszenieren. Dieses Aufsehen ist ihnen sicher; denn anders als im vierten vorchristlichen Jahrhundert dem Herostratos stehen ihnen heute Medien - vor allem solche wie das "Neue Deutschland" und die "Süddeutsche Zeitung", aber auch mancher TV-Sender - als ein Instrument zur Verfügung, mit dem sich aus den Aktionen von ein paar Hundert Aktivisten "Universitäten im Aufruhr" machen lassen.



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12. November 2009

Präsident Obamas Gesundheitspolitik. Seine Iranpolitik. Zwei oder drei Dinge, die man davon nicht weiß. Jedenfalls in vielen deutschen Medien

Als am vergangenen Samstag ein Gesetz zur Gesundheitsreform, das weitgehend Präsident Obamas Vorstellungen entsprach, mit wenn auch knapper Mehrheit vom amerikanischen Repräsentantenhaus angenommen wurde, ist das in vielen deutschen Medien als ein "Etappensieg" gemeldet worden. Beispielsweise konnte man in "Zeit- Online" dies lesen:
Es ist ein wichtiger Etappensieg für US-Präsident Obama: Das US-Abgeordnetenhaus in Washington hat am Samstagabend einen Gesetzentwurf über eine umfassende Gesundheitsreform verabschiedet. (...)

Obama begrüßte das Votum als "historisch". In einer Stellungnahme des Weißen Hauses unmittelbar nach der Abstimmung am Samstagabend hieß es, der Präsident hoffe, dass der Senat dem Beispiel der anderen Parlamentskammer folgen werde. Er gehe davon aus, dass er ein Gesetz über eine umfassende Gesundheitsreform bis zum Ende des Jahres unterzeichnen könne. Es werde das Versprechen eines bezahlbaren Gesundheitssystems für die Amerikaner Realität werden lassen.
Gewiß war in dieser Meldung, wie auch in den meisten anderen, davon die Rede, daß der Gesetzentwurf ja noch den Senat passieren müsse. Aber es wurde doch der Eindruck vermittelt, daß er nun auf einem guten Weg sei. Das Gegenteil ist der Fall.

Es ist unwahrscheinlich, daß Obamas Gesundheitsreform, daß vor allem sein ehrgeiziger Plan für eine staatliche Gesundheitsversicherung jemals so wie geplant Realität wird. Die Träne der Nancy Pelosi, die auch im deutschen TV rollte, dürfte einen falschen Eindruck erweckt haben.

In der Internet-Ausgabe von Newsweek, einem Obama ausgesprochen wohlgesonnenen Nachrichtenmagazin, schrieb dazu am Montag Daniel Stone:
Judging from the scene on the House floor Saturday night, it was plainly obvious that something pivotal had just happened. (...) Speaking to reporters afterward, Nancy Pelosi looked visibly moved. She said she "felt great," and you could spot a tear running down her cheek. (...) Pelosi may have moved the bill closer to the president's desk, but what happens between here and there may quickly turn her tears of joy into ones of disappointment.

Urteilt man nach der Szene am Samstag Abend im Sitzungssaal des Repräsentantenhauses, dann hatte sich ganz offenbar etwas Entscheidendes abgespielt. (...) In einem anschließenden Gespräch mit Reportern war Nancy Pelosi sichtlich gerührt. Sie sagte, daß sie sich "großartig fühle", und man konnte eine Träne entdecken, die ihr die Wange herunterlief. (...) Es mag sein, daß Pelosi den Gesetzentwurf näher an den Schreibtisch des Präsidenten bewegt hat, aber was zwischen jetzt und dann passiert, könnte ihre Freudentränen schnell in Tränen der Enttäuschung verwandeln.
Im Senat nämlich, so Daniel Stone, seien die Hürden weit höher als im Repräsentantenhaus.

Der Entwurf, der jetzt von den Demokraten im Senat eingebracht wurde, ist keineswegs identisch mit dem, was das House am Samstag verabschiedet hat. Und es ist, schreibt Stone, unwahrscheinlich, daß dieser Entwurf durch den Senat geht.

Zum einen benötigt Obama eine Mehrheit von 60 der 100 Senatoren. Denn nur dann kann Schluß der Debatte beschlossen werden; und ohne einen solchen Beschluß können Gegner des Gesetzes dessen Verabschiedung durch Dauerreden (filibustering) auf den Sankt- Nimmerleins- Tag verschieben.

Aber nur 57 Senatoren sind für einen der Kerne des Gesetzes, die Einführung einer staatlichen Krankenversicherung (public option). Und dann ist da die Finanzierung. Das jetzt vom House verabschiedete Gesetz bedeutet Kosten von 1,2 Billionen (also 1.200 Milliarden) Dollar für den Steuerzahler, verteilt auf ein Jahrzehnt. Die abgespeckte Version, die jetzt dem Senat vorliegt, wird immer noch 900 Milliarden Dollar teuer sein. Viele Senatoren fragen sich, wie sie das ihren Wählern vermitteln sollen.

Irgend ein Gesetz wird herauskommen. Viel Ähnlichkeit wird es aber vermutlich nicht mit dem haben, was Obama will und was viele Amerikaner als einen Schritt in Richtung Sozialismus sehen.



Die Gesundheitsreform gehört zu den wenigen Gebieten, auf denen sich Obama in seiner nun bald einjährigen Amtszeit festgelegt hat. Vieles Andere bleibt im Vagen. Beispielsweise seine Afghanistan- Politik; siehe "Präsident Obama muß eine Entscheidung treffen"; ZR vom 31. 10. 2009. Und beispielsweise seine Politik gegenüber dem Iran, die zwischen ausgestreckter Hand und Säbelrasseln ("Alle Optionen liegen auf dem Tisch") mäandert; siehe Das Spiel zwischen Teheran, Washington und Moskau; ZR vom 16. 10. 2009.

Bei soviel nach Außen zur Schau getragenen Unklarheit ist es manchmal hilfreich, sich Personalentscheidungen anzusehen.

Obama hat Personalentscheidungen getroffen, die man skandalös wird nennen dürfen.

Er hat den Linksaktivisten Van Jones zu einem der mächtigsten Männer im Weißen Haus gemacht (siehe Barack Obamas Mann für's Grüne; ZR vom 3. 5. 2009); inzwischen mußte dieser seinen Hut nehmen. Er hat den Kulturbanausen Rocco Landesman zum Chef der Nationalen Kunststiftung ernannt; siehe Gorgasal und Obama: Bücherschreibende Präsidenten. Und Radio Eriwan; ZR vom 1. 10. 2009. Und jetzt wurde John Limbert Leitender Beamter im Außenministerium mit Zuständigkeit für den Iran.

John Limbert? Im American Thinker schrieb dazu am vergangenen Samstag dessen Nachrichten- Chef Ed Lasky:
Limbert is not a neutral arbiter; he serves on the advisory board of the National Iranian American Council (NIAC). (...) The Council is widely considered the de facto lobby for the Iranian regime in America. It opposes sanctions on Iran, soft-pedals any controversial events in Iran, and counsels "patience" regarding Iran's stance towards its nuclear program.

The NIAC has been at the forefront of lobbying against continued congressional funding of the Voice of America Persia service, Radio Farad, and grants for Iranian civil society. (...) In other words, it all but serves as Iran's embassy in Washington -- though the NIAC vociferously disputes this characterization. However, there is very little sunlight between the views of the regime and the NIAC.

Limbert ist kein neutraler Schiedsrichter; er ist Mitglied des Beirats des National Iranian American Council (NIAC). (...) Der Council wird weithin als die de-facto-Lobby für das iranische Regime in Amerika angesehen. Er widersetzt sich Sanktionen gegen den Iran, spielt jedes kontroverses Ereignis im Iran herunter und rät zur "Geduld", was die Haltung des Iran zu seinem Atomprogramm angeht.

Der NIAC steht an der Spitze des Lobbying gegen eine weitere Finanzierung des Persien- Dienstes der Stimme Amerikas, Radio Farad, durch den US-Kongreß und gegen Geldmittel für die iranische Zivilgesellschaft. (..) Mit anderen Worten, er ist fast die iranische Botschaft in Washington - auch wenn der NIAC diese Charakterisierung heftig bestreitet. Aber zwischen die Ansichten des Regimes und diejenigen des NIAC paßt kein Blatt Papier.
John Limbert also, der im Beirat des NIAC sitzt, ist künftig Deputy Assistant Secretary for Iran in the Bureau of Near Eastern Affairs des State Department, Leiter der Iran- Abteilung des amerikanischen Außenministerium.

Leider dürfen die Herrschenden in Teheran keinen Sekt trinken; sonst würden dort jetzt die Korken knallen. Aber einen Ersatz werden sie schon finden, Ahmadinedschad & Co.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Die Titelvignette zeigt das offizielle Foto von Präsident Obama. Es wurde wenige Stunden vor seinem Amtsantritt von Peter Souza aufgenommen und ist unter Creative Commons Attribution 3.0 Unported License freigegeben. Mit Dank an Martin Riexinger, dem ich den Hinweis auf die Ernennung von John Limbert verdanke.

11. November 2009

Hans-Magnus Enzensberger zum Achtzigsten. Unzusammenhängende Erinnerungen und Gedanken

Von Hans-Magnus Enzensberger habe ich zuerst 1957 etwas gehört. Da war er 27 und ich Schüler. Das "gehört" ist wörtlich zu nehmen. Ich habe ihn, oder vielmehr sein Werk, über Mittelwelle gehört, unter kräftigstem Rauschen, weil wir am Rand des Sendegebiets des damaligen Süddeutschen Rundfunks wohnten.

Das Werk war ein "Radio-Essay" in Gestalt eines Dialogs, und mit ihm wurde der junge Autor schlagartig bekannt. Der Titel war "Die Sprache des 'Spiegel'. Moral und Masche eines Magazins". Der Inhalt war ebenso intelligent wie frech. Enzensberger erläuterte und verteidigte gegenüber einem fiktiven Gesprächspartner eine Reihe von Thesen über den "Spiegel", zum Beispiel "Das 'deutsche Nachrichten-Magazin' ist kein Nachrichten-Magazin" und "Der 'Spiegel'- Leser wird nicht orientiert, sondern desorientiert".

Daß Enzensberger damit zum bekannten Autor wurde, lag nicht am Süddeutschen Rundfunk, sondern daran, daß Rudolf Augstein die Souveränität hatte, die Rechte an dem Text zu erwerben und ihn, nur unwesentlich gekürzt, im "Spiegel" abzudrucken. Unkommentiert, bis auf ein dem Abdruck vorangestelltes Motto, eine Zeile aus einem Enzensberger- Gedicht. Sie begann mit "meine weisheit ist eine binse". So subtil ging es damals im "Spiegel" zu.

Der Essay war brillant, und ich mußte - damals ein begeisterter, ein nachgerade süchtiger "Spiegel"- Leser - zähneknirschend zugeben, daß Enzensberger mit seiner Kritik so Unrecht nicht hatte.



Wenig später erlebte ich Enzensberger auf einer Lesung des Suhrkamp- Verlags, moderiert von keinem Geringeren als Siegfried Unseld. Ein schmaler, allerliebst aussehender blonder junger Mann ging da zum Pult, die Haare kurz geschnitten und in die Stirn gekämmt; eine "Cäsar-Frisur" nannte man das damals. Dazu der Rollkragenpullover des Linksintellektuellen.

Enzensberger las aus seinem Gedichtband "die verteidigung der wölfe". (Klein zu schreiben galt damals als progressiv). Er las schön, mit dem leicht frankischen Akzent, den der gebürtige Kaufbeurer und in Nürnberg Aufgewachsene bis heute nicht abgelegt hat. Mein neben mir sitzender Schulfreund, der viel mehr von Literatur verstand als ich, fand es am Bemerkenswertesten, daß Enzensberger auch lange Gedichte "durchhalten" konnte, ohne daß ihm der lyrische Atem ausging.



In den sechziger Jahren wurde Hans- Magnus Enzensberger zu einer festen Größe des deutschen Geisteslebens. Günter Grass schrieb die großen Romane, Heinrich Böll die Erzählungen in einem Tonfall, den man damals satirisch fand, und Enzensberger vertrat die klassische Kombination von Lyrik und Essayistik.

Eine Kombination, die (Beispiele sind Heinrich Heine, Paul Valéry und Gottfried Benn) vielleicht deshalb oft vorkommt, weil das Gedicht ebenso wie der Essay nicht den langen Atem verlangt, den es braucht, einen Roman oder ein Theaterstück zu schreiben. In der Lyrik ebenso wie im Essay verdichtet sich ein Thema, werden Gedanken in konzentrierter und knapper Form in Sprache umgesetzt.

Das verlangt einen beweglichen Geist. Enzensberger hat ihn wie kein lebender deutscher Autor. Seit dem Tod von Arno Schmidt ist er der intelligenteste, der gebildetste Schriftsteller deutscher Sprache. Aber eben, ganz anders als der schwerblütig- gründliche Schmidt es war, ein Mann der ständigen geistigen Bewegung. Einer, der die Zeichen der Zeit erfaßt, bevor sie noch wirkmächtig geworden sind. Seiner Zeit deshalb immer ein paar Schritte voraus.

Schon früh hat er in den sechziger Jahren verstanden, daß eine Zeit intellektueller Unruhe im Entstehen begriffen war. Das von ihm 1965 gegründete "Kursbuch" wurde von der ersten Nummer an von dem Geist durchweht, der dann am Ende des Jahrzehnts zu eruptiven Ausbrüchen führte.

Damals sah man Enzensberger oft im Fernsehen als Teilnehmer irgendwelcher Diskussionen, in denen es um Sozialistisches ging. Er war ganz vom wirbelnden Geist dieser Jahre erfaßt; 1968/69 verbrachte er gar ein Jahr in Kuba, nachdem er eine Gastprofessur in den USA protestierend niedergelegt hatte.

Aber so sozialistisch er sich damals gab - man konnte ihm den Genossen nicht recht abkaufen. Man merkte ihm sein Unbehagen förmlich an, wenn er von zottelbärtigen Revoluzzern geduzt und aufgefordert wurde, den ganzen bürgerlichen Scheiß endlich hinter sich zu lassen und sich auf die Seite des Proletariats zu stellen.

So ernst war es Enzensberger mit seiner Parteinahme für die revolutionäre Linke dann doch nicht. Im Rückblick will es mir scheinen, daß er damals eher so etwas wie Feldforschung mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung trieb.



Richtig auf der Linken stand er wohl nie wirklich. Den Untergang des Sowjet- Reichs hat er antizipiert, als er den real existierenden Sozialismus als die "höchste Form der Unterentwicklung" charakterisierte. In den letzten Jahren war der Terrorismus, waren die "Schreckensmänner" eines seiner Themen.

Enzensberger ist keiner, der irgendwo steht. Er ist ständig in Bewegung, ständig unterwegs. Er hat in den USA und Kuba, in Norwegen und Italien gelebt; und es versteht sich, daß ein Mann seiner Intelligenz die jeweilige Landessprache alsbald beherrschte. Der promovierte Germanist befaßt sich mit Leichtigkeit und bemerkenswerten Kenntnissen auch mit Themen der Naturwissenschaften, mit Mathematik. So jemand ist viel zu neugierig, sieht viel zu sehr die vielen Seiten einer Sache, als daß er einen guten "engagierten Literaten" hätte abgeben können.

Man hat ihn den deutschen Voltaire genannt. Kein unpassender Vergleich, obwohl Enzensberger das Pathos Voltaires ganz fremd ist. Mich erinnert er am meisten an Christoph Martin Wieland; auch er beweglich, immer seiner Zeit voraus und von einer stupenden Intelligenz und Vielfalt der Interessen. Beide "leichtfüßige Greise" im hohen Alter.

Aber Enzensberger ein Greis? Jetzt geht er auf die neunzig zu. Was man mit Sicherheit nicht von ihm erwarten kann, das ist Altersweisheit.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Hans-Magnus Enzensberger bei einem Besuch in Warschau, am 20. Mai 2006, fotografiert von Mariusz Kubik. Vom Autor zur Reproduktion freigegeben.

Marginalie: John A. Muhammad wurde in der vergangenen Nacht hingerichtet

John A. Muhammad wurde in der vergangenen Nacht in einem Gefängnis des Staats Virginia, dem Greensville Correctional Center, durch die Giftspritze hingerichtet.

Erinnern Sie sich noch an den Fall? Im Oktober 2002 gab es in den US-Staaten Maryland, Virginia und in Washington, D.C., eine rätselhafte Serie von Morden. Zehn Menschen, zwischen denen es keine Verbindung gab, wurden auf offener Straße, beim Tanken, irgendwo in der Öffentlichkeit, erschossen.

Als wahrscheinlicher Täter wurde schließlich John A. Muhammad ermittelt. Diesen Namen hatte John Allen Williams angenommen, nachdem er zum Islam übergetreten war und sich einer extremistischen Bewegung angeschlossen hatte.

Er hatte für die Taten ein ehemaliges Polizeiauto umgebaut, aus dem heraus er schoß und mit dem er dann den Tatort sofort verließ. Zehn Morde konnten ihm eindeutig zugeordnet werden; die tatsächliche Zahl der Opfer wird höher geschätzt. Sein Komplice ware ein erst Siebzehnjähriger, Lee Boyd Malvo, der Mohammad offenbar hörig war.

Malvo, der zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, sagte aus, Muhammad habe einen dreistufigen Plan verfolgt.

Die erste Phase umfaßte Morde in der Hauptstadt Washington und benachbarten Staaten. Jede Tat wurde genau geplant und der Fluchtweg festgelegt. Das Ziel von Mohammad in dieser Phase war es laut Malvo, einen Monat lang täglich sechs Menschen zu töten. Dieser Plan hätte aber wegen unerwarteter Schwierigkeiten nicht in vollem Umfang realisiert werden können.

In der zweiten Phase wollte Muhammad - immer laut Malvo - seine Opfer gezielt in der Gegend von Baltimore aussuchen. Als erstes sollte eine schwangere Frau durch einen Bauchschuß getötet werden; danach ein Polizeibeamter. Beim Begräbnis dieses Beamten sollten mehrere Bomben hochgehen, um möglichst viele der an der Beerdigung teilnehmenden Polizeibeamten zu töten.

Phase drei wollte Muhammad danach, teils auch schon parallel dazu in Angriff nehmen. Die US-Regierung sollte mit Hinweis auf die geschehenen Morde erpreßt werden, Muhammad eine Summe von mehreren Millionen Dollar zu zahlen. Dann war die Übersiedlung nach Kanada geplant. Auf dem Weg dorthin wollte Muhammad möglichst viele Waisenhäuser, Erziehungsanstalten und ähnliche Einrichtungen besuchen, um dort junge Gefolgsleute zu rekrutieren, so wie Lee Boyd Malvo selbst einer war.

Diese jungen Männer wollte er nach Kanada mitnehmen und sie dort zu Scharfschützen ausbilden. Sie sollten dann in die USA geschickt werden, um Morde nach dem Vorbild der Taten von Muhammad selbst auszuführen.



Muhammad wurde mit der Giftspritze hingerichtet. In Virginia hätte er auch den elektrischen Stuhl wählen können, aber er weigerte sich, eine Wahl zu treffen.

Die Motive für die Morde wurden nicht aufgeklärt. Trotz überwältigender Indizien hat Muhammad die Taten nie gestanden.

Es ist unklar, welche Rolle persönliche Schwierigkeiten gespielt haben könnten; Muhammad war zweimal geschieden. Es wurde im Prozeß behaupet, sein eigentliches Ziel sei es gewesen, seine zweite Ex-Frau zu töten, um damit das Sorgerecht für drei Kinder zu bekommen. Ob politische Motive eine Rolle gespielt haben, ist ebenfalls ungeklärt geblieben. Das Gericht hat die Taten als terroristisch eingestuft.

Ein Versuch der Verteidigung, unmittelbar vor der Hinrichtung einen Aufschub durch das Oberste Bundesgericht zu erreichen, wurde abgelehnt. Drei Richter äußerten sich allerdings kritisch dazu, daß der Hinrichtungstermin so kurzfristig angesetzt worden sei. Der Gouverneur von Virginia, Time Kaine, ein Gegner der Todesstrafe, lehnte eine Begnadigung ab, weil er dafür keine Rechtfertigung sah.



Ich bin ein überzeugter Gegner der Todesstrafe und sehe diese Haltung auch durch Fälle wie diesen nicht widerlegt. Es gibt, außer in äußerster Notwehr, kein Recht, einen Menschen zu töten. Dieses Recht hat nicht der Einzelne, und dieses Recht hat auch der Staat nicht.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

Neues aus der Forschung (7): Warum träumen wir?

Vor mehr als einem Jahrhundert wünschte sich Sigmund Freud eine Gedenktafel mit der Aufschrift: "Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigmund Freud das Geheimnis des Traums". Inzwischen gibt es eine solche Tafel beim Schloß Bellevue nah Grinzing tatsächlich. Aber das Geheimnis des Traums ist noch immer nicht enthüllt.

Von keiner seiner Theorien war Freud so unerschüttlich überzeugt wie von seiner Theorie des Traums, die er im November 1899 (aber datiert auf 1900) in "Die Traumdeutung" publizierte. Das enthüllte Geheimnis war, so Freud, daß Träume die verdeckte Erfüllung verdrängter Wünsche seien. Die Traumdeutung müsse also darin bestehen, das Verdeckte zutage zu fördern und damit das Verdrängte bewußt zu machen.

Aus heutiger Sicht war Freud der erste, der in Bezug auf den Traum die richtigen Fragen stellte. Seine Antworten aber waren, wie auch anders, hochspekulativ.

Zu den richtigen Fragen Freuds gehörten zum Beispiel diese: Warum ist das Geschehen im Traum oft so bizarr und realitätsfremd? Warum vergessen wir die meisten Träume so schnell? Warum haben Träume oft eine so starke affektive Färbung; eine lustvolle oder auch eine angstvolle? Und die Frage aller Fragen: Warum träumen wir überhaupt?

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam man den Antworten auf diese und ähnliche Fragen keinen Schritt näher, als Freud ihnen gekommen war. Andere spekulierten ebenso, wie er spekuliert hatte. Aber eine wissenschaftliche Traumforschung schien unmöglich zu sein. Man hatte an Daten ja nur das, was auch Freud schon gehabt hatte: Die Erinnerung des Träumers an seinen Traum.

Wissenschaft verlangt, daß man neue Daten sammeln und Theorien an ihnen überprüfen kann. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde das für den Traum möglich. Im Labor des Traumforschers Nathaniel Kleitman in Chicago entdeckte dessen Doktorand Eugene Aserinsky, daß beim Träumen schnelle Augenbewegungen (rapid eye movements; REMs) auftreten.

Diese konnte man auch bei geschlossenen Augen elektrophysiologisch registrieren. Damit war es möglich, Träumende während eines Traums zu wecken und sie den noch ganz frischen Traum berichten zu lassen; man konnte untersuchen, wie sich der Entzug von REM-Schlaf auswirken würde und dergleichen mehr. Kurz, man hatte nun die Möglichkeit, vom reinen Aufzeichnen von Traumberichten zu einer wissenschaftlichen Traumforschung überzugehen.

Damals schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die Physiologie des Traums in ihren Grundzügen verstanden sein würde; zumal man enteckt hatte, daß auch höhere Wirbeltiere träumen, so daß man an ihnen - zum Beispiel an Katzen - parallel zur Forschung an Menschen Daten erheben konnte.



In gut einem halben Jahrhundert hat diese Forschung in der Tat viele interessante Daten hervorgebracht; zum Beispiel die Entdeckung, daß der Zusammenhang zwischen REMs und dem subjektiven Erleben eines Traums nicht so perfekt ist, wie man anfangs gedacht hatte. Vor allem aber hat sie einen Wust von Theorien produziert.

Freud hatte gemeint, daß Träume der (verdeckten) Wunscherfüllung dienen. In der modernen Traumforschung findet diese Idee in ihrer ursprünglichen Form nur noch wenig Anklang. Aber die alternativ vorgeschlagenen Theorien sind nur selten besser belegt als die Freuds.

Oft wird der Traum mit dem Gedächtnis in Zusammenhang gebracht; u.a. aufgrund der Entdeckung, daß der Entzug von REM-Schlaf sich negativ auf das Gedächtnis auswirkt. Es gibt Theorien, nach denen der REM-Schlaf der Übertragung von Informationen vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis dient; damit ihrer Konsolidierung. Andere Theoretiker vermuten, daß umgekehrt überflüssige Informationen, die man im Lauf eines Tags aufgenommen hat, im REM-Schlaf gelöscht werden.

Man hat dem Zusammenspiel zwischen Prozessen im Stammhirn und denjenigen in der Hirnrinde besondere Aufmerksamkeit geschenkt; man hat den REM-Schlaf mit der Regulation von Emotionen oder auch mit der Aufrechterhaltung des Gedächtnisses für Bedeutungen (semantisches Gedächtnis) in Zusammenhang gebracht. Kurz, es gibt kaum eine psychische Funktion, der man den Traum nicht als ein sie unterstützendes Geschehen zugeordnet hat.



Und jetzt gibt es eine neue derartige Theorie; eine, die möglicherweise mehr für sich hat als alle diese bisherigen Versuche, die Funktion des Traums zu verstehen. Sie stammt von einem der führenden Traumforscher, dem emeritierten Harvard- Physiologen J. Allan Hobson, und vorgestern hat in der New York Times Benedict Carey über sie berichtet. Eine Zusammenfassung von Hobsons Artikel in Nature Reviews Neuroscience findet man bei PubMed und bei Nature.

Hobson nimmt an, daß Träume nicht dem Gedächtnis für Vergangenes dienen, sondern der Vorbereitung auf Zukünftiges.

Indem wir träumen, halten wir Schaltkreise in unserem Gehirn aktiv für die Aufgaben, die sie zu bewältigen haben, wenn wir erwacht sind und die Realität wieder ihre Anforderungen stellt. Es sind sozusagen Testläufe, die unser Gehirn im Traumschlaf vornimmt. Aber sie finden ohne eine Koordination und Realitätskontrolle statt, wie sie unser Wachbewußtsein kennzeichnet. Das macht Träume oft so seltsam, so chaotisch, so bizarr. Freud hatte diese Funktionsweise des Gehirns den "Primärvorgang" genannt.

Im Traum ist also, so Hobson, das Bewußtsein weitgehend ausgeschaltet. Das Frontalhirn, das zwar nicht der "Sitz" des Bewußtseins ist, das aber bewußt gesteuertes Handeln ermöglicht, ist kaum aktiv. Auch die Motoneurone, die sonst dafür sorgen, daß wir das, was wir planen, auch in reales Handeln umsetzen, werden dadurch inaktiv gehalten, daß die sie stimulierenden Neurotransmitter nicht ausgeschüttet werden. (Funktioniert dieser Hemmungsmechanismus nicht richtig, dann kommt es zum Sprechen im Schlaf, zu Bewegungen, im Extremfall zum Schlafwandeln).

Ein "Traumbewußtsein" gibt es nach Hobson also im strengen Sinn nicht; nur das, was er ein "Protobewußtsein" (protoconsciousness) nennt. Wie kann es dann aber sein, daß wir uns erinnern, einen Traum bewußt, unter Umständen sogar mit lebhaftestem Bewußtsein erlebt zu haben?

Zum einen sind wir ja, wenn wir uns erinnern, in der Tat bei vollem Wachbewußtsein. Wir holen dann die Gedächtnisspuren, die im Traum gebildet wurden, in dieses Wachbewußtsein; ungefähr so, wie ein Theaterstück, das zunächst nur "auf dem Papier existiert", erst dann zu Leben erwacht, wenn Schauspieler es auf die Bühne bringen.

Und zum anderen gibt es, so Hobson, die Möglichkeit, das Wachbewußtsein gewissermaßen zum Traum hinzuzuschalten. Dieser Zustand, in dem beide nebeneinander existieren, wird als Klarträumen (lucid dreaming) bezeichnet. Nichts irgendwie Esoterisches. Man kann es trainieren.

In einer kürzlich publizierten Untersuchung, an der Hobson beteiligt war, wurde die elektrische Hirnaktivität (EEG) bei Personen im Wachzustand, beim normalen Träumen und im Klartraum verglichen. Der Klartraum zeigte Merkmale sowohl des Träumens als auch des Wachbewußtseins. Die beiden Systeme, die sonst im allgemeinen einander in ihrer Aktivität ablösen, arbeiteten, so scheint es, gemeinsam



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Galileo Galilei, gemalt im Jahr 1605 von Domenico Robusti. Ausschnitt.

10. November 2009

Kurioses, kurz kommentiert: Das "fürchterliche Potpourri" zum Fall der Mauer

Statt die Gefühle des historischen Augenblicks in einer angemessen feierlichen, aber eben auch fröhlichen und mitreißenden Inszenierung zu repräsentieren, servierte uns das ZDF am Abend des 9. November ein fürchterliches Potpourri aus "Wetten dass...?", "History" und "Hallo Deutschland!"; ein auf gut zwei Stunden zerdehntes Spektakel, das keine Form fand für die Botschaft, die in all den Reden beschworen wurde.

Reinhard Mohr heute in "Spiegel- Online" über die gestrige Sendung des ZDF zum Fall der Mauer.

Kommentar: Das finde ich kurios, daß ausgerechnet Reinhard Mohr sich über Würdelosigkeit aufregt; der ehemalige Redakteur des Organs der Frankfurter Spontis "Pflasterstrand" und der "Tageszeitung" (taz).

Autoren wie er haben sich über die Jahrzehnte bemüht, uns Deutschen jedes Gefühl für nationale Würde auszutreiben. Und jetzt, wo er zufrieden auf sein und seiner Genossen Werk blicken kann, echauffiert sich Reinhard Mohr.

Natürlich war diese Feier an Armseligkeit nicht zu überbieten. So, wie seit der Wiedervereinigung die Feiern zu unserem Nationalfeiertag so erbärmlich sind, daß es einen graust.

Was diesmal noch fehlte, das war die Nationalhymne, interpretiert von einem Rapper mit Migrationshintergrund. Und dazu tanzt das Ballet des Friedrichstadt- Palasts.



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Zitat des Tages: "Nidal Hassan ist ein Mann mit Gewissen". Ein Imam äußert sich zu einem Massenmord

Nidal Hassan did the right thing. Nidal Hassan is a hero. He is a man of conscience who could not bear living the contradiction of being a Muslim and serving in an army that is fighting against his own people. (...) The only way a Muslim could Islamically justified serving as a solider in the U.S. Army is if his intention is to follow the footsteps of men like Nidal.

(Nidal Hassan hat das Richtige getan. Nidal Hassan ist ein Held. Er ist ein Mann mit Gewissen, der es nicht ertragen konnte, mit dem Widerspruch zu leben, ein Moslem zu sein und in einer Armee zu dienen, die gegen sein eigenes Volk kämpft. (...) Die einzige islamische Rechtfertigung dafür, daß ein Moslem als Soldat in der US-Armee dient, ist, daß er beabsichtigt, auf den Spuren von Männern wie Nidal zu wandeln).

Der derzeit im Jemen lebende Imam Anwar Al-Awlaki in seinem Blog über die Tat des amerikanischen Armee- Psychiaters Nidal Hassan, der am 5. November in Fort Hood, Texas dreizehn Menschen ermordete.


Kommentar: Daß ein Imam im Jemen einen Massenmord an Christen preist, wäre für sich genommen keine Erwähnung wert. Aber es handelt sich nicht um irgend einen Imam.

Zum einen verbrachte Awlaki, dessen Eltern aus dem Jemen in die USA eingewandert waren, dort den größten Teil seines Lebens. Er studierte an der Colorado State University Ingenieurwissenschaft und schloß dieses Studium mit dem Bachelor of Sciences ab. An der San Diego State University studierte er Erziehungswissenschaften und erwarb dort den Master of Arts. An der George Washington University arbeitet er an seiner Promotion.

Das ist der eine Anbar al-Awlaki. Aber dieser Mann hat ein zweites Gesicht. Er war schon in den USA Imam; erst in Colorado, Californien und später in der Gegend der Bundeshauptstadt Washington, wo er ein islamisches Zentrum leitete. Seit 2001 war er der Imam der dortigen Dar al-Hijrah- Moschee. Dort hörten drei der späteren Attentäter des 11. September seine Predigten.

Und dort hörte seine Predigten auch der Armeepsychiater Nidal Malik Hasan, der am vergangenen Donnerstag dreizehn Menschen ermordete.

Nidal Malik Hasan hörte nicht nur seine Predigten, sondern - und das ist der zweite Grund, warum man sich mit Awlaki beschäftigen sollte - er suchte auch den persönlichen Kontakt zu dem Imam.

Die New York Times berichete gestern, daß der Mörder mit dem Imam, der den Behörden als radikaler Islamist bekannt war, in Kontakt gestanden hatte; vermutlich über Emails. Sowohl die Armee als auch das FBI hatten Kenntnis von diesen Kontakten, hielten aber aus noch unbekannten Gründen laut New York Times ein Einschreiten für nicht erforderlich.



Die Tat des Nidal Malik Hasan war das zweite Massaker, das in einer Woche ein Moslem an seinen christlichen Kameraden verübte. Erst zwei Tage zuvor hatte ein afghanischer Polizist fünf britische Soldaten ermordet, mit denen gemeinsam er an einem Kontrollpunkt eingesetzt gewesen war.

Menschen wie Hasan und der afghanische Polizist geraten offenbar in einen Loyalitäts- Konflikt, der sie schließlich zu der Bluttat treibt. Der afghanische Polizist könnte allerdings auch schlicht ein eingeschleuster Terrorist gewesen sein.

Bei Nidal Malik Hasan aber lagen die Dinge sicher komplizierter. Er war so etwas wie ein Produkt der US-Armee. Seine Eltern waren aus Palästina in die USA eingewandert. Unmittelbar nach der High School war er Soldat geworden. Die Armee finanzierte ihm das College und das Medizinstudium; am Ende hatte es der Berufssoldat bis zum Major gebracht.

Bis so jemand sich entschließt, unter seinen Kameraden ein Blutbad anzurichten, muß in seinem Inneren viel geschehen sein. Es spricht jetzt manches dafür, daß der Haßprediger Anbar al-Awlaki dabei eine wichtige Rolle gespielt hat.



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