9. Juli 2019

Vom Verfall des politischen Anstandes: Von Lammert zu Kubicki zu Roth

Der Mann, der den Berg abtrug, war derselbe, der anfing, kleine Steine wegzutragen.
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                                                                                     Konfuzius.

Es ist vielleicht eine lustige Ironie, dass es ausgerechnet Claudia Roth, die ja von Deutschland per se keine allzu hohe Meinung hat, zufiel, den bisherigen Tiefpunkt der traurigen Entwicklung des deutschen Parlamentarismus zu setzen, seit die AfD bei der Bundestagswahl 2017 plötzlich ein Achtel(!) des deutschen Volkes vertritt. So lehnte sie in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni diesen Jahres einen Antrag der AfD zum Hammelsprung zur Feststellung der Beschlussfähigkeit mit der Begründung ab, der Sitzungsvorstand würde die Beschlussfähigkeit (und damit die Anwesenheit von wenigstens der Hälfte aller Bundestagsabgeordneten) eindeutig bejahen. Die Geschäftsordnung des Bundestages sieht in Paragraph 45 der aktuellen Geschäftsordnung die Möglichkeit für eine Fraktion vor, die Beschlussfähigkeit in Frage zu stellen und damit einen Hammelsprung zu fordern. Allerdings hat eben diese Ordnung an der Stelle eine kleine Hintertür eingebaut, nämlich dass der Sitzungsvorstand die Beschlussfähigkeit in dem Moment nicht eindeutig bejaht. Was dieser aber tat, obwohl es offenkundig (und zwar absolut offenkundig) war, dass kaum ein Bruchteil der Parlamentarier anwesend war und man schon arge Tomaten auf den Augen haben musste, um hier von einer Beschlussfähigkeit auszugehen.

Dennoch war das was Claudia Roth (und mit ihr nebenbei die Schriftführer Benjamin Strasser, seines Zeichens von der FDP und Josef Oster, seines Zeichens von der CDU) tat, nicht illegal. Das eine ist eine Frage der Fakten, das andere eine des Gesetzes. Und formal hat Claudia Roth das Gesetz eingehalten. Mit einer absurden Fakteneinschätzung, aber die ist nicht strafbar. 
Schlimmer dagegen ist aber der darüber stehende Aspekt: Nämlich die dahinter stehende Idee der Geschäftsordnung mit Füßen zu treten. Das Recht die Beschlussfähigkeit in Zweifel zu ziehen steht da ja nicht zum Spaße, sie soll verhindern, dass durch eine nicht vorhandene Repräsentanz das demokratische Prinzip außer Kraft gesetzt wird. Die Hintertür in der GO dient im Wesentlichen dem Zweck sinnlose Hammelsprünge in der Art eines Fillibusters zu verhindern, wo es nur darum geht die Arbeit des Parlamentes zu behindern. Nur dient sie in diesem Falle eben einem ganz anderes Zweck: Dem fragwürdigen Erstellen von Gesetzen durch Protektionierung eines Vorstandes. Das besonders Pikierende hierbei ist, dass eine solche Protektionierung natürlich nur deshalb funktioniert, weil Claudia Roth, obschon sie der schwächsten Partei im Bundestag angehört, selbstredend eine Vizepräsidentschaft zuerkannt wurde, die der AfD bis heute mit nicht weniger schmutziger Auslegung eben jener Geschäftsordnung verweigert wird. 

Nun würde man sich wundern das Claudia Roth untypischerweise eine solche mentale Potenz entwickelte auf solche Ideen zu kommen (es wäre schon sehr verwundern wenn sie die Geschäftsordnung auch nur gelesen, geschweige denn verstanden hätte). Dem war vermutlich auch nicht so. Tatsächlich kopierte sie nur Wolfgang Kubicki (seines Zeichens Vortänzer der FDP), der eben jenen schmutzigen Trick keine vier Wochen vorher zur Anwendung brachte und den Hammelsprung mit der Begründung verweigerte, der Sitzungsvorstand sei sich einig(!), dass die Beschlussfähigkeit gegeben sei, da die Abgeordneten ja nur auf dem benachbarten Sommerfest sein würden und jederzeit zurückkehren könnten. Eine nicht nur reichlich absurde Begründung, sondern auch eine rotzfreche, denn genaugenommen könnte ja jeder Abgeordnete irgendwo zurückkehren, auch wenn er sich gerade in Timbuktu aufhielte, am Ende wäre das ja auch nur eine Frage des Weges. Mit Kleinigkeiten wie der Tatsache, dass der erste Satz von Paragraph 45 aussagt, dass die Abgeordneten im Sitzungssaal anwesend zu sein haben (und nicht auf neben liegenden Sommerfesten) hält sich der (Volljurist!) Wolfgang Kubicki natürlich nicht auf. Er weiß ohnehin, dass sein Regelverstoß keine Konsequenzen hat. Warum? Weil über den Regelverstoß ja nur wieder genau die selben Leute entscheiden, die bis dato jede Regel so auslegen, wie es nur maximal dem Feind (Stichwort AfD) schadet. 

Warum steht in der Kette oben dann noch Norbert Lammert? Nun, man könnte tatsächlich eine Reihe von Leuten hier einsetzen aber es war doch Lammert, der im März 2017 (als absehbar wurde, dass der sich im Herbst konstituierende Bundestag von einem Alterspräsidenten der AfD eröffnet werden würde) eine Änderung vorschlug (und durch brachte), nach der nicht mehr der älteste sondern der dienstälteste Abgeordnete den Bundestag eröffnen sollte. Das diese Änderung zufällig genau dann durchgebracht wurde, als die AfD in Reichweite kam (bei einem Alterspräsidenten der SED hatten die selben Herren keine Probleme), gibt dem ganzen natürlich nicht nur ein Geschmäckle. Statt dem von Lammert ursprünglich dazu vorgesehenen Wolfgang Schäuble hielt die Rede dann aber Hermann Otto Solms (seines Zeichens FDP), weil Schäuble noch Präsident werden wollte und daher auf die Rede als Ältester verzichtete. Besonders pikant an dieser Episode ist, dass die Tradition des tatsächlich Ältesten noch aus der Zeit der Frankfurter Nationalversammlung zurück geht (also sogar noch deutlich vor Weimar) und eigentlich nur von den Nazis unterbrochen wurde. 

Um es deutlich zu sagen: Im Unterschied zu den Einschätzungen einer Frau Weidel ist keine dieser Aktionen illegal. Auf demokratische Prinzipien oder Traditionen zu pfeifen ist nicht verboten. Man kann sich als Sitzungsleiter (oder auch als Bundestagspräsident) so parteiisch und einseitig verhalten wie man möchte, der Geist der Überparteilichtkeit oder demokratischen Verpflichtung ist ein reines Lippenbekenntnis und nicht einklagbar (und wenn dann sicher nicht bei Leuten aus genau der selben Gruppe). Aber der Weg ist deutlich. Und hier stehen nicht umsonst Vertreter aus nahezu allen politischen Parteien (und soll noch einer sagen die FDP sei nicht voll dabei). Es ist ihnen schlicht egal, so lange es nur der "guten" Sache dient.

Ich glaube nicht das Claudia Roths letzte Aktion das Ansehen des Parlamentes besonders beschädigt hätte (die Wahl einer solchen Person hat da sicher mehr nachhaltigen Schaden angerichtet). Aber das Parlament darf sich auch nicht über den Verfall von Werten und Anstand wundern, wenn es genau das vorlebt. Geschäftsordnungstricks sind weder besonders neu noch besonders originell. Wenn sie von Kleineren kommen um die Großen ein bischen im Zaum zu halten, können sie manchmal ganz witzig sein, bleiben aber ohne große Konsequenzen. Wenn sie dagegen von einer Mehrheit gezielt eingesetzt werden, um einer Minderheit zu schaden, und gleichzeitig die demokratischen Prinzipien beschädigen, dann sind sie genau das, als was sie wahrgenommen werden: Billige Tricks von billigen Ganoven. Es wäre für den Bundestag vollkommen unwichtig gewesen, wer die erste Rede hält, am Ende wäre Schäuble auch so Präsident geworden. Es wäre auch nicht wichtig gewesen, wenn Kubicki oder Roth die Sitzung einen Tag vertagt hätten. Deswegen wären die Dinge trotzdem beschlossen worden. Aber das wollten sie nicht. Sie wollen der AfD eins drüber bügeln und ihnen zeigen wo der Hammer hängt (passt auch ziemlich gut zu den betroffenen Persönlichkeiten).

Und am Ende ist man tatsächlich bei dem Eingangszitat von Konfuzius: Wer sich über mangelnden Anstand beim politischen Gegner beschwert, der sollte mal darüber nachdenken, wer die Kiesel aufgehoben hat. Es ist nicht ohne Ironie das diejenigen, die permanent und dauernd auf Anstand hinweisen und jenen einfordern, nicht die geringsten Probleme damit haben eben jenen je nach Nützlichkeit in die Tonne zu entsorgen. Zumindest in einem sind wir uns wohl einig: Seit die AfD politisch bedeutend wurde, geht der politische Anstand verloren. Das stimmt.

Llarian

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